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Marc Aldanov, Eine unsentimentale Reise.

Begegnungen und Erlebnisse im heutigen Europa. Mit einem Vorwort von Balder Olden. (Übersetzung von Woldemar Klein.) München: Carl Hanser Verlag [1932]. 218 S.

Die »Unsentimentale Reise«, die Aldanov mit dem Leser macht, spielt nicht nur eines billigen Kontrastes wegen auf die »empfindsame« des Lawrence Sterne an. Die beiden haben einiges Verwandte. Denn so gewiß Aldanov seine Reisen im Auto oder im Expreß gemacht hat –, dem Leser kommt es manchmal vor, als wenn ihm der Verfasser in einer Postkutsche Gesellschaft leiste. Umständlich, aber unbefangen setzt man die chronique scandaleuse unseres Erdteils ihm auseinander wie vor hundert Jahren ein kluger, weitgereister Privatier den Reisegefährten in der Diligence die Händel der Welt auf seine Art erläutert hätte. Und auf dem Kutschbock dieser Aldanovschen Kalesche sitzt höchstselber die Vernunft. Doch, wie er selbst an einer Stelle sagt: »Schlimm ist nur, daß die Vernunft es nicht eilig hat.« So ist denn zu befürchten, daß wir selber und unser wohlbeschlagener Reisemarschall nicht vor Einbruch der Dunkelheit ankommen ...

Doch wenn die Reise auch beschaulich ist –, empfindsam ist sie wirklich nicht. Von allen Illusionen, welche dazu nötig wären, hat der Autor nicht eine mehr. Aus Balder Oldens Vorrede zu dem Band kann man entnehmen, in wieviel wissenschaftlichen und dichterischen Obliegenheiten und auf wieviel Schauplätzen von Europa und von Asien der Verfasser sie abzulegen Anlaß gefunden hat. Demungeachtet geht es etwas weit, Aldanovs Journalismus als »Äternalismus« und sein Werk als eines, auf welchem »künftige Weltbetrachtung« fuße, darzustellen. Aldanov stellt vielmehr den altvertrauten Typus des skeptischen Betrachters dar. Sein Buch hat Einzelzüge sowie Anekdoten, die sich im »Garten Epikurs« von France mit allen Ehren sehen lassen könnten. Wie alle echten Skeptiker entdeckt er in der Geschichte je und je das gleiche. Und was das fait divers, die Anekdote beleuchtet, ist ein solches in der Tat in vielen oder in den meisten Fällen: die kleine oder große Differenz, welche der Zufall zwischen Planen und Gelingen, zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wollen und Bewirken legt. So wie die alten Götter – eben nach der Lehre des Epikur – sich in den »Intermundien« aufhalten, jenen leeren Räumen zwischen den Welten, wo sie nichts ausrichten können, so ist der Sitz des skeptischen Betrachters in jenen Intermundien der Weltgeschichte, die man Zufall nennt. Daher die Fülle von psychologischen Details, von kleinen, oft pittoresken Zwischenfällen, die hier der spanischen und irischen Revolution, dem Wirken Gandhis und der englischen Geschichte dieser letzten Jahre abgewonnen werden. Und da sich der Verfasser offenkundig unter Berufspolitikern am wohlsten fühlt, braucht es nicht zu verwundern, daß das beste Kapitel dieses Buches Genf behandelt.

Für das, was sich auf dieser Bühne abspielt, sind ganz gewiß die Intermundien, in denen der müßige Betrachter sich verbirgt, die beste Loge. Nachdenklich grübelt Aldanov: »Vielleicht war es immer so? Wahrscheinlich. Auf dem Berliner, den Wiener Kongressen gab es vergoldete Uniformen statt Gehröcke. In Genf hat man keinen Talleyrand und keinen Bismarck. Aber das Durchschnittsniveau, sowohl geistig wie moralisch, ist weder niedriger noch höher.« Leicht wird man die Genugtuung begreifen, mit der der Autor einen Vorgänger der eigenen Skepsis gegen diese Genfer Veranstaltungen in Voltaire entdeckt. Was der vom Optimismus überhaupt – und nun gar dem im Reich der Politik – gehalten hat, kann jeder im »Candide« finden, wenn er es nicht vorzieht, das »Sendschreiben des chinesischen Kaisers« zu lesen, mit dem Voltaire das kindliche Projekt Rousseaus für einen ewigen Frieden aufnahm. Es sind in diesem Buch die besten Seiten, die sich an Voltaire inspirieren, welcher heute als Zeuge einer Zeit erscheint, in der das Bürgertum noch nicht am Zuckerbrot des Optimismus sich die Zähne verdorben hatte.


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