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15. Kapitel.
Gewohnheit oder Gesetz

Gesetzt, die vorgeschlagene Lösung (eine volle Anerkennung der Sondernationalität) ist die rechte, sollte sie in einem Gesetz ausgedrückt werden? – Nein, glaube ich, bis sie erst in unserer Moral und sozialen Konventionen zutage getreten ist – mit Gesetzen und Regulierungen auf unserer Seite beginnen, würde unvermeidlich Bedrückung erzeugen – aber der Vorschlag von Sonderinstitutionen, kommend von der jüdischen Seite, sollte willkommen sein – Dringlichkeit eines Ausgleichs – die modernen Streitigkeiten nehmen zu an Leidenschaftlichkeit, nicht ab – aber für mein Teil sage ich: »Friede sei Israel«.

 

Wenn es wahr ist, daß die Reibung zwischen dem Juden und der Kultur, in der er lebt, verschlimmert wird durch seine Gewohnheit der Verheimlichung und durch unsere Unaufrichtigkeit, durch seine Äußerung eines Gefühles der Überlegenheit, die uns ärgert, und auf unserer Seite durch einen Mangel an Liebe und an Intelligenz im Verkehr mit ihm, dann müßte man folgern, daß jede Lösung nur eine annähernde sein kann: daß, welcher Ausgleich auch zustande kommen sollte, der Gegensatz verbleiben wird, und mit ihm eine gewisse latente Reibung, die einen Gegensatz immer begleitet.

Aber zwischen einem gelinden Aufwallen und dem stürmischen Kochen der Frage heutzutage (so daß sie überzukochen droht) liegt der Unterschied einer Welt. Selbst wenn die Lösung unvollständig bliebe, sie könnte doch von einer vernünftigen Stabilität sein: wir könnten wenigstens Frieden haben, wenn auch nicht Freundschaft. Es folgt ferner aus den Elementen des Problems, daß die Lösung in der Richtung gesucht werden muß, daß jede der beiden Parteien alles, was an ihrer Tätigkeit den anderen aufreizen kann, ändert; alles nämlich, was willentlich geändert werden kann und nicht zusammenhängt mit etwas Unausrottbarem.

Der Jude kann nichts dafür, daß er sich überlegen fühlt, aber er kann etwas für die Äußerung dieser Überlegenheit – jedenfalls kann er diese Äußerung anders gestalten. Er kann sicherlich, wiewohl es stark auf Kosten einer Tradition und Gewohnheit gehen wird, jene verwünschte Pseudoverteidigung der Verheimlichung lassen, die alle Beziehungen zwischen ihm und uns vergiften. Wir unsererseits können die Umkehrung dieser Heimlichkeit fahren lassen, die Unaufrichtigkeit, den Mangel an Redlichkeit, die unsere Beziehungen zu den Juden belasten. Das kann nur einen großen Bruch bedeuten mit unserer Tradition und auch mit unseren Gebräuchen, aber der daraus entspringende Vorteil ist des Opfers wert. Wir können (und das muß die Arbeit eines jeden einzelnen sein, es kann kein korporatives Werk sein) uns dem Juden mit mehr Achtung nähern und zugleich auch häufiger. Ich meine, wir können stufenweise aus dem Mangel an Liebe, den wir nunmehr zeigen, herauskommen, selbst wenn wir daran verzweifeln müßten, jemals in wirklicher Intimität mit einem Volke zu leben, das in seinen tiefsten Eigenschaften so sehr verschieden ist von uns.

Ich persönlich bin nicht sicher, ob nicht eine solche innigere Freundschaft gegründet werden kann; ich habe niemals Schwierigkeiten dabei gefunden, mit den Juden meines eigenen Kreises vertraute Bekanntschaft zu schließen und zu erhalten – aber vielleicht habe ich Glück gehabt. Ich weiß, daß es bei den meisten meiner Kameraden nicht so ist, und vielleicht wird der Jude für die große Masse seiner Umgebung immer etwas Seltsames und Unnahbares und, fürchte ich, Abstoßendes bleiben. Aber darum haben wir noch keinen Grund, dieser Bedenklichkeit in unseren Beziehungen noch ein Element von Gleichgültigkeit, noch weniger von Verachtung, und am allerwenigsten von Grausamkeit beizumischen.

Ich wiederhole meine Formel für eine Lösung: es ist Anerkennung und Achtung.

Anerkennung bedeutet hier nicht mehr, als daß man die Wahrheit sagt. Es gibt eine jüdische Nation. Juden sind Bürger dieser Nation; und Anerkennung bedeutet nicht nur, daß man diese Wahrheit bei speziellen Gelegenheiten sagt, sondern auf beiden Seiten eine reguläre Gewohnheit in unseren Beziehungen daraus macht.

Diese Forderung ist, nach vorausgegangener richtiger Analyse der jüdischen Frage, so klar und so einfach, daß sie weder weiteren Nachdruckes noch weiterer Erläuterung bedarf. Ihre klare Aufstellung genügt. Aber an eine so bestimmte Lösung knüpft sich eine viel wichtigere und kompliziertere Frage, an deren Ungewißheit nicht nur diese Reform, sondern manche andere auch schon Schiffbruch erlitten hat. Die Frage muß richtig beantwortet werden, weil, wenn wir sie falsch beantworten, der ganze Plan ins Wasser fällt.

Die Frage lautet: Soll die soziale Gewohnheit, daß man allgemein so schreibt und so redet und überhaupt alle Beziehungen in solchem Sinne einrichtet, in diesem Falle der Errichtung von Institutionen, den Gesetzesänderungen, den konstitutionellen Definitionen vorangehen? Oder sollen diese den Vortritt haben?

Hier richtig zu entscheiden ist von größter Wichtigkeit, und zwar aus dem Grunde, weil eine falsche Entscheidung alle Wirkungen des guten Willens zunichte machen kann.

Nach meinem Urteil wäre die falsche Entscheidung die, die den Gesetzesveränderungen, den neuen Definitionen, den neuen Institutionen den Vortritt lassen und versuchen wollte, aus ihnen heraus eine neue Gesinnung zu schaffen. Ich halte dafür, daß diese Umkehrung der wahren Ordnung allen dauernden Frieden unmöglich machen würde.

Natürlich ist zugestanden, daß Änderungen, die die Juden selber in Vorschlag bringen, die Entwicklung ihrer eigenen Institutionen, eine freiwillige Sonderung ihrer Gemeinschaft auf anderen Gebieten, als wo sie eine solche bereits bewirkt haben, zu einer anderen Kategorie gehören. Solche neue und ausgesprochen jüdische Institutionen sollten wir immer willkommen heißen. Jedoch der Versuch, öffentliche Verordnungen zu treffen zu dem Zwecke, die Gemeinschaft als ein Ganzes gegen eine fremde Minderheit zu schützen, wenn diese doch andauernd mit einem leben muß und regelmäßiger Bestandteil der Gemeinschaft ist, neigen unabänderlich dazu, zu Bedrückungen zu werden, wenn sie bei einer Abmachung als erster Schritt gemacht werden, anstatt, wie es sich gehört, als letzter. Jede Sondergesetzgebung sollte natürlich herauswachsen aus einer langen Praxis und vollen Erkenntnis der Juden, als Sondervolk, und aus einer damit verbundenen Achtung. Geht das Anerbieten von uns aus, kann der Jude das Geschäft zurückweisen. Er kann sich noch fester hinstellen und, wie manche andere privilegierte Klasse vor ihm, darauf dringen, daß er auch weiterhin alles haben will, was er hatte; daß er seine Forderung auf doppeltes Bürgerrecht auch weiterhin aufstelle; daß er darauf bestehen will, im vollsten Sinne des Wortes als Jude anerkannt zu werden und zur selben Zeit, was dem so verhängnisvoll widerspricht, im vollsten Sinne auch als Glied unserer eigenen Gemeinschaft.

Tut er das (und es gibt Leute, die uns sagen, daß er das sicherlich tun und jede Reform ablehnen wird), dann wird der Staat gezwungen sein, gegen seinen Willen Gesetze zu machen. Das wird gefährlich sein für ihn und für uns; es kann sogar der Anfang schmerzlicher Wirren für beide Teile sein, aber es ist unvermeidlich. Es werden in ganz Europa und also auch in diesem Lande eine Masse neuer Gesetze gemacht werden.

Die gegenwärtige Lage kann nicht endlos dauern. Sie ist selbst hier in England bereits ungewiß: sie ist anderswo dem Ende schon nähergekommen. Aber wenn der Jude die Gefahr beizeiten sieht und das Wesen dieses Wandels versteht, dessen Anfänge wir alle gesehen haben, und der mit so großen Schritten vor sich geht, dann können Beziehungen hergestellt werden, aus denen (später) formelle für beide Teile annehmbare Regelungen hervorgehen könnten. Und in diesem Falle würde es – ich wiederhole – der schwerste aller Irrtümer sein, neue positive Gesetze einzuführen und einen neuen Status, ehe durch die Wiederherstellung ehrlicher Beziehungen eine Grundlage geschaffen worden war; das kann aber nur geschehen durch eine ehrliche Einräumung der Wirklichkeit, durch die offene und ununterbrochene Einräumung, daß Israel eine Sondernation ist, nicht zu uns gehört noch gehören kann, und mit uns nicht verwechselt werden darf.

Man ist stark versucht, die Sache hinauszuschieben, weil man hier bislang die Schärfe des Problems unter den Wohlhabenden noch nicht fühlt, und noch mehr, weil es in den einzelnen Ländern verschieden ist. Die Gefahr scheint von uns noch soweit weg zu sein, wiewohl sie schon vor der Türe unserer Nachbarn sein kann. Routine, das Erbstück der unmittelbaren Vergangenheit, die falsche, durch die Konventionen dieser Vergangenheit hervorgerufene Sicherheit können wohl für die, welche die Anstrengung einer Änderung nicht lieben, zu einer Versuchung werden, von ihr sich zu drücken. Aber ich möchte doch jeden intelligenten und nachdenkenden Juden, der noch glaubt, er könne auf die falsche Stellung des 19. Jahrhunderts sich verlassen, fragen, ob noch dieselben Kräfte zu seiner Unterstützung bestehen, die damals da waren.

Man nehme ein einzelnes Beispiel. In Polen und in Rumänien ist die alte Fiktion zeitweise mit Gewalt aufgezwungen worden. Der Jude, der in diesen beiden Ländern als ein größerer Fremdling empfunden wird als jeder beliebige andere ausländische Europäer, wird von den Westmächten der Regierung und der Gesellschaft der beiden Länder als Vollbürger aufgedrängt. Die Spannung wird hier ungeheuer verschlimmert, weil sie nicht aus dem Willen und Wesen der Gesellschaft entstand, sondern aus der Aktion Außenstehender; die englische, die französische, die amerikanische Regierung (aber besonders die amerikanische und die englische) haben in Osteuropa diesen unsteten, ungerechten und künstlichen Zustand geschaffen. Er kann nicht dauern, denn er ist unwirklich.

Die fraglichen Staaten mögen keine Gesetze machen, die den Juden anerkennen; abwechselnd ist die Türe für Bedrückungen offen: und im Augenblick, wo die verhaßte fremde Einmischung nachläßt, kommt die Bedrückung.

Nun wohl, wenn unter dem Druck realer sozialer Schwierigkeiten die unreale Vereinbarung zerrissen wird, wenn neue Gesetze durchgehen, die den Juden anerkennen (aber in harter Form und ohne Einverständnis mit ihm), oder offene Feindschaft ausbricht, glaubt denn der Jude im Innersten seines Herzens, daß er vom Westen dieselbe Unterstützung erhalten würde, die er vor dreißig Jahren erhalten hätte? Er weiß sehr wohl, daß das nicht so ist.

Vor dreißig Jahren hätte der traditionelle Liberalismus Frankreichs, der große Haufen seiner regierenden Klassen, alle akademischen Körperschaften, die ganze damals noch starke und geachtete Gruppe der alten Republikaner auf der Stelle auf den jüdischen Appell geantwortet. In England wäre diese Antwort einstimmig und enthusiastisch erfolgt. Sturzbäche von Leitartikeln hätte man gehabt, große öffentliche Versammlungen, die Kabinettminister hätten nicht aufgehört, Reden zu halten für die heilige Sache der Toleranz. Aber jedermann weiß, daß heute der Appell der Ostjuden, wiewohl er vielleicht offiziell noch Unterstützung fände, beim Publikum größter Gleichgültigkeit begegnen würde. Noch weitere zehn Jahre, und, wer weiß, wird er mit Hohn aufgenommen.

Oder ein anderes Beispiel. Nehmen wir an – was hoch wahrscheinlich ist –, daß das zionistische Experiment zusammenbricht, daß die Engländer sich weigern, das Leben ihrer Soldaten in einem Kampfe zu riskieren, der nicht der ihre ist, sich weigern, zu ihren regellosen Steuerlasten auch noch die Kosten für eine unsichere Kolonie zu tragen, die ihnen keinen Vorteil bringt und sie überhaupt nichts angeht. Sollte der Zusammenbruch dieses Experimentes bald eintreten, würde man heute die Hilfe zu seiner Wiederherstellung bekommen, die man sogar noch vor zehn Jahren erhalten hätte? Sicherlich nicht. Und in zehn weiteren Jahren würde man wahrscheinlich genug dabei nicht auf Gleichgültigkeit stoßen, sondern auf aktive Feindseligkeit. Auf der ganzen Welt hat die Strömung dieselbe Richtung genommen.

Unglückseligerweise ist die Wirkung dieser Wandlung die gewesen, Haß zu erzeugen eher, als den Wunsch nach einem Ausgleich, und die Menschen zu blinden Handlungen zu treiben eher, als zu einer überdachten Prüfung der Schwierigkeit. Darum scheint mir die Sache so zu drängen, wiewohl in den westlichen Ländern noch weite Gebiete sind, wo diese Dringlichkeit maskiert oder halb vergessen ist.

Wenn ich sage » dringlich«, so meine ich, daß dieser mein Essay, der heute noch die Sache trifft, und die darin empfohlene Lösung, die heute noch ausführbar ist, sehr wohl noch bei Lebzeiten des Autors, über die Maßen altmodisch werden können. Der hier mit Vorsatz in vager und elastischer Form vorgeschlagene friedliche Ausgleich kann in ein paar Jahren unzeitgemäß erscheinen, so unreal infolge der eingetretenen Wandlung, wie heute die alten Legenden von der Reinheit des parlamentarischen Lebens und dem Ernste der Parteipolitik.

Meine Lösung mag am Ende dieses Zeitalters ein so gelindes Mittel erscheinen gegenüber der dann entstandenen erhitzten Situation zwischen den Juden und uns, wie uns heute die alten Debatten bei der versuchsweisen Forderung von Home Rule in den achtziger Jahren. Wir wollen so rasch wie möglich handeln und die Sache in Ordnung bringen, solange es noch Zeit ist. Denn in den Wirbeln und Strudeln der modernen Welt, die nicht geringer werden wie vor einer Stille, sondern stärker wie vor einem Katarakt, nimmt jede große Debatte mit jedem Jahre eine gewalttätigere Form an, nähert sich mehr einem Konflikte: und keine in höherem Maße, als die unvordenkliche Debatte, die noch ohne Abschluß ist, zwischen Islam und Christentum und den Beni-Israel.

Ich für mein Teil aber sage; »Friede sei Israel.«


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