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In der unmittelbaren Vergangenheit hat man in Westeuropa um das Problem sich gedrückt durch eine bloße Ableugnung seiner Existenz – einige waren ehrlich unwissend über die Existenz einer jüdischen Nation – einige hielten den Unterschied für einen der Religion nur – mehr gaben die Existenz einer Sondernation zu, aber hielten die herrschende Fiktion, daß sie nicht existiere, für notwendig für den modernen Staat.
Diese Unwissenheit oder Fiktion ist heute zusammengebrochen – teilweise durch die notwendige Reaktion der Wahrheit gegen jede Falschheit – teilweise durch die wachsende Zahl der Juden in westlichen Ländern – mehr durch das große Wachsen ihrer Macht.
Jedoch wiewohl diese alte »liberale« Fiktion über die Juden tot ist, weil angesichts der Tatsachen nicht funktionierend, kann doch manches für sie gesagt werden – sie brachte Frieden für eine Weile – sie hielt sich an Modelle aus der Vergangenheit – und war gegründet auf eine gewisse Wahrheit, nämlich, daß der Jude sehr rasch den oberflächlichen Charakter der Nation annimmt, in der er gerade lebt – überdies von den Juden selbst so gewünscht – Beispiel des alten jüdischen Pair, und sein Anspruch, »in Ruhe gelassen zu werden« – praktischer Beweis für das Versagen in seinem Falle.
Jedenfalls die alte »liberale« Fiktion jetzt völlig wertlos – das Problem wird zugegeben und muß gelöst werden.
Ich habe das Problem gestellt. Da ist eine Reibung zwischen den beiden Rassen – den Juden in ihrer Zerstreuung und jenen, unter denen sie leben. Diese Reibung wird akut. Sie hat ohne Unterschied in der Vergangenheit zu den schrecklichsten Konsequenzen geführt (und kann also auch jetzt dazu führen), furchtbar für die Juden, aber auch für uns schlimm. Darum ist dieses Problem dringlich, praktisch und ernst. Darum verlangt es gebieterisch eine Lösung.
Aber man mag mir – und in der Tat, man wird mir – gleich am Anfang begegnen mit der Leugnung, daß überhaupt ein solches Problem existiere. Das war die Haltung unserer unmittelbaren Vergangenheit, das ist die Haltung vieler der besten Männer heutzutage auf beiden Seiten des Abgrunds, der Israel von unserer Welt scheidet.
Ich muß diesem Einwand begegnen, ehe ich weitergehe, denn wenn er gesund ist, wenn in der Tat ein solches Problem nicht da ist (außer soweit Unwissenheit oder Bosheit es künstlich schaffen), dann braucht es keine Lösung. Alles, was wir zu tun haben, ist dann, die Unwissenden aufzuklären und die Bösartigen zurückzuweisen: die Unwissenden, die sich einbilden, es gebe eine fremde jüdische Nation unter ihnen, die Bösartigen, die Menschen behandeln, als wären sie Fremde, Menschen, die doch in Wirklichkeit genau wie wir selber und normale Mitbürger sind.
Ich spiele hier gar nicht an auf die Unmenge von Konventionen, Heuchelei und Angst, die vorgeben, eine Wahrheit nicht zu kennen, die sie sehr wohl kennen. Ich rede von der aufrichtigen Überzeugung, die noch bei vielen – im besonderen aus der älteren Generation – besteht, daß es kein jüdisches Problem gebe.
Es wird von einem gewissen Geistestypus ehrlich geleugnet, daß es so etwas gebe, wie ein jüdisches Volk; darum könne es eine Reibung zwischen ihm und seinen Wirten nicht geben: die ganze Sache sei ein Wahn. Wir wollen diese Geistesart prüfen und sehen, ob die Illusion auf unserer Seite ist oder nicht.
Es war die dem 19. Jahrhundert vertraute Haltung, und sie schmeichelte jener politischen Stimmung, in der es sich am meisten wohl fühlte: die negative Haltung, das jüdische Volk nicht anzuerkennen; eine Fiktion zu schaffen von einer einzigen Bürgerschaft an Stelle der Wirklichkeit, nämlich doppelter Untertanenpflichten; den Juden ein volles Mitglied jedweder Gemeinschaft zu heißen, der er zufällig angehörte während jedweden Zeitraumes, in welchem er zufällig dort sich aufhielt in seinen Wanderungen über die Erde. Das war die Haltung, die in politischer Hinsicht allem, was sich »modernes Denken« nannte, empfehlenswert erschien. Es war die Lehre, die die großen Männer der französischen Revolution empfohlen hatten. Es war die Haltung, die nahezu enthusiastisch das liberale England einnahm, das heißt alles, was im öffentlichen Leben Englands während der viktorianischen Epoche dominierte. Es war die Politik, die einstmals im ganzen Gebiet der westlichen Kultur uneingeschränkte Gunst genoß. Es war die Haltung, die der Westen den Oststaaten tatsächlich aufzudrängen versuchte, und die letzte Wirkung ihres rasch abnehmenden Kredits findet sich in gewissen Klauseln des Vertrags von Versailles: denn sie ist immer noch die offizielle Haltung aller unserer Regierungen.
Im Vertrage von Versailles und in den anderen auf den großen Krieg folgenden Verträgen wurden die Juden Osteuropas unter eine Art speziellen Schutzes gestellt, aber nicht in einer aufrichtigen und positiven Form. Das Wort »Jude« platzte niemals heraus – es wurde ersetzt durch das Wort »Minderheit« – aber die Absicht lag auf der Hand. Was zugrunde lag, war: »Wir, die westlichen Regierungen sagen, es gibt kein jüdisches Problem. Die Idee einer jüdischen Nation ist ein Wahn, und die Vorstellung, daß ein Jude etwas Verschiedenes sei von einem Polen oder einem Rumänen, ist eine Manie. Wenn ihr im Osten in dieser Hinsicht noch so im Finsteren lebt, so wollen wir jedenfalls eure Unwissenheit und eure Besessenheit davor bewahren, in Verfolgungen auszuarten.« Dieselben Männer, die diese Erklärungen abgaben, errichteten dann einen funkelnagelneuen, scharf abgegrenzten jüdischen Staat in Palästina, mit der Drohung im Hintergrund, mit Hilfe westlicher Waffen eine Mehrheit rücksichtslos zu unterdrücken.
Beide Aktionen waren die Folge jener unklaren Lage, die ich soeben geschildert habe (die Geschichte wird es das letzte Beispiel nennen), die, wiewohl in der öffentlichen Meinung sehr geschwächt, dennoch von einigen der Parlamentarier, die den Vertrag gestalteten, ehrlich eingenommen wurde und von der man sicherlich den Eindruck hatte, daß sie allen persönlich zum Vorteil gereiche: die Stellung, daß es keine jüdische Nation gibt, wenn das Eingeständnis einer solchen dem Juden ungelegen ist, aber daß es sehr wohl eine gibt, wenn das dem Juden zum Vorteil gereicht.
Die diese Stellung verteidigten, taten es von verschiedenen Gesichtspunkten aus, die alle als ebenso viele Stufen gelten können einer gewissen Betrachtungweise gegenüber dem jüdischen Volke. Es war bis vor kurzem die Haltung der großen Mehrzahl der gebildeten Franzosen, Engländer und Italiener. Sie war sozusagen die offizielle politische Haltung Westeuropas und seiner parlamentarischen Regierungen und anderer entsprechender Institutionen.
Das Äußerste in diesem Sinne leisten sich jene Leute, die sagen, der Jude sei nichts anderes als ein Bürger mit einer besonderen Religion. Ein Staat sei vorherrschend katholisch oder protestantisch, aber er könne kleinere Religionsgesellschaften in sich enthalten, eifrige Minoritäten, für die Platz gefunden werden müsse neben der mehr oder weniger indifferenten Majorität. Das katholische Frankreich habe eine wohlhabende hugenottische Minorität von 5 %. Das anglikanische England habe eine arme katholische Minorität von 7 %. Das protestantische Holland habe eine große Minorität – mehr als ein Drittel – von Katholiken und so fort. Für das Denken des 19. Jahrhunderts war es ein verhaßter Gedanke, daß religiöse Unterschiede (die es für nichts weiter hielt als Schattierungen einer zweifelhaften Privatmeinung) das Interesse des Staates beanspruchen sollten. Eine große Anzahl von Leuten hielten das Judentum nicht für eine Nation, sondern nur für eine Religion; und da sie von jeder Religion gleich dachten, schlossen sie, daß sie keine Minderung des Bürgerrechts einschließen könne.
Am andern Ende fand man Männer der Öffentlichkeit, welche die Endschwierigkeiten vollauf würdigten, die aus einer so entscheidungslosen Bereinigung der Sache sicherlich erstehen würden. Diese betrachteten die Juden als durchaus unterschiedene Nationalität, und als eine, die höchstwahrscheinlich mit den Bedürfnissen ihrer Wirte in Konflikt kommen werde; sie konnten sogar (privat) ihre Feindseligkeit gegenüber dieser Nation äußern. Nichtsdestoweniger hielten sie dafür, sie müsse im öffentlichen Leben behandelt werden, als ob sie nicht existiere. Diese Männer waren höchst emphatisch in ihren Privatbriefen und Unterhaltungen – daß das jüdische Problem nicht ein religiöses sei, sondern ein nationales. Trotzdem, sagten sie, sei es notwendig, heute dieses Problem zu maskieren durch eine Fiktion, und vorzugeben, der Jude sei gleich wie jeder andere auch, nur nicht in seiner Religion. Alle anderen Lösungen verlangten (so sagten sie) eine Kenntnis der Geschichte und Europas, die vom großen Publikum nicht zu erwarten sei; ferner seien die Juden so mächtig, daß, wenn sie die Fiktion aufrechterhalten wissen wollen, man ihnen diesen Gefallen tun müsse. In jedem Falle müsse man, in unserer Zeit wenigstens, zu diesem So tun als ob seine Zuflucht nehmen.
Der neuen und bereits feindlichen Haltung gegen die Juden, die nun überall in ganz Westeuropa so stark sich erhebt (zum Teil als Reaktion gegen die Stellung des 19. Jahrhunderts), kommt diese altmodische Art, die jüdische Nation einfach zu leugnen oder deren Existenz mit Hilfe einer Fiktion zu ignorieren, moralisch recht hassenswert vor, und wir wundern uns heutzutage, wie sie allgemeinen Beifall heischen konnte. Sie setzte eine Unwahrheit voraus, natürlich, und oft eine bewußte; und sie war auch ohne Würde; denn unserer Generation erscheint es ebenso grotesk, die Existenz der jüdischen Nation zu leugnen, wie die unserer eigenen. Aber daß die Fiktion aufrichtig aufrechterhalten wurde, und daß ihre groteske und unwürdige Seite unbemerkt blieb, darüber können wir uns versichern, wenn wir uns auch nur ein paar Minuten mit irgend jemanden aus der älteren Generation unterhalten, der sie aufrechthielt und sie heute noch repräsentiert mitten unter uns.
Sie hätte noch weiter in Blüte stehen können für noch eine Generation, in jedem Falle unter den führenden Klassen dieses Handelsvolkes, hätten nicht zwei Entwicklungen sie niedergerissen, von denen jede das Resultat einer so großen Toleranz war. Die erste war die wachsende Zahl der Juden, die zweite deren wachsender Einfluß. Jene alte Unwahrheit wurde aufgedeckt, und jene alte Groteske wurde sichtbar durch das enorme Anwachsen, im ganzen Westen, der armen Juden, neben dem enormen Anwachsen der Macht, die die reichen Juden in öffentlichen Angelegenheiten ausübten. Die Menschen wurden böse, als sie sich feierlich an die Fiktion gebunden sahen, es gebe keine Juden, wenn doch deren Gegenwart nirgends zu vermeiden war, auf der Straße und in den Bureaus der Regierung. Die Fiktion war möglich, solange einige wenige Finanzleute, in der gebildeten Gesellschaft kaum auffindbar, allein in Betracht kamen. Sie wurde unmöglich, angesichts der neuen großen Ghettos in London, Manchester, Bradford, Glasgow und der erschreckend anwachsenden Liste von jüdischen und halbjüdischen Ministern, Vizekönigen, Gesandten, politischen Diktatoren.
Diese Verachtung für das, und diese Erbitterung über das, was ich die Haltung des 19. Jahrhunderts, die Haltung des Liberalismus, genannt habe, kamen bereits vor Ende jenes Jahrhunderts zum Vorschein. Da war schon ein Murren in England während des südafrikanischen Krieges und in Frankreich während der Dreyfusaffäre; man hörte schon den Ton in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts, insbesondere in Verbindung mit parlamentarischen Skandalen; mit der bolschewistischen Erhebung 1917 wurde es zum lauten Geschrei. Und es wird gewiß noch anwachsen. Wir haben bereits eine gewaltige Minorität bereit, gegen die Interessen der Juden zu handeln. Sie wird aller Wahrscheinlichkeit nach, und zwar in kurzer Zeit, zur Majorität werden. Sie kann in jedem Augenblick, bei irgendeinem kritischen Anlaß, bei irgendeiner neuen Provokation, als niederreißende Flut aufgebrachter öffentlicher Meinung erscheinen.
Um so mehr geziemt es uns, die altmodische Neutralität und Fiktion gerecht zu behandeln; sie zu prüfen, sogar mit einer Neigung zu ihren Gunsten; alles, was zu ihrer Verteidigung gesagt werden kann, aufzuzählen, ehe wir sie verwerfen, wie wir sie jetzt, glaube ich, alle, wenn auch ungern, verwerfen müssen. Ich sage »ungern«; denn schließlich war sie die feste Meinung unserer Väter, die Großes getan haben: wir fühlen deren Vorwurf, wenn wir sie aufgeben, und es sind unter uns noch recht viele Ältere gegenwärtig, denen unsere neuen Besorgnisse zuwider sind.
Wir dürfen an erster Stelle nicht vergessen, daß die Behandlung des Juden im Westen, als wäre er überhaupt kein Jude, sondern einfach ein Bürger wie alle anderen auch, eine Zeitlang ganz gut funktioniert hat. Man könnte fast sagen, daß es für den Geist des durchschnittlichen Engländers oder Franzosen, Italieners, ja selbst des Westdeutschen, bewußtermaßen kein jüdisches Problem gab zwischen, sagen wir, 1830 und 1890. Im Volke war ein ganz kleiner Teil von Juden, in Frankreich und in England, in Italien und dem übrigen Westen, vage mit der Idee des Reichtums verknüpft; ein großer Teil hatte sich ausgezeichnet durch öffentliche Werke verschiedener Art; viele von ihnen durch Wohltätigkeit. £s war nicht denkbar, daß die Anwesenheit solcher Menschen zu politischen Schwierigkeiten führen könnte, – so schien es wenigstens damals. Die Erzählungen von Verfolgungen, die von Osteuropa her zu uns drangen, selbst Beispiele von Reibungen zwischen großen jüdischen Teilen und den Eingeborenen der Staaten, in denen sie sich gerade befanden, wurden im Westen mit Abscheu aufgenommen, als Verirrungen ungenügend kultivierter Menschen.
Sogar im Rheintale, wo die Juden zahlreicher waren und man sie in Bausch und Bogen besser kannte, wurde die Konvention des zivilisierten Westens akzeptiert. Die Lehren, die Abstraktionen der französischen Revolution in dieser Sache hatten gesiegt.
Hier wird jeder Leser, der historisches Gefühl hat, sofort darauf hinweisen, daß der Zeitraum, den ich eben genannt habe – 1830 bis 1890 – lächerlich kurz ist. Jede Behandlung eines ganz großen, Jahrhunderte alten Problems, die nur 60 Jahre lang funktioniert und dann anfängt zusammenzubrechen, ist überhaupt keine Bereinigung. Darauf würde ich antworten, daß diese Periode speziell eine Zeit war, in der jede historische Perspektive verloren gegangen war. Menschen, selbst hochgebildete Menschen im 19. Jahrhundert, übersteigerten mächtig die Vordergründe des historischen Bildes.
Man kann das in jedem Schulbuch des Zeitalters bemerken, wo die ganzen vier Jahrhunderte unserer römischen Grundlegung in ein paar Sätze zusammengedrängt sind, die dunkeln Zeitalter auf wenige Seiten, die ganze umfängliche Geschichte des Mittelalters selbst in wenige Kapitel; wo die Hauptarbeit ohne Unterschied den letzten drei Jahrhunderten gilt, und wo von diesen das 19. für ebenso wichtig gehalten wird, wie alles andere zusammengenommen.
Diese falsche historische Perspektive wird auch in jeder anderen Provinz ihres politischen Denkens sichtbar. Wiewohl z. B. der Kapitalismus mit ungeheurer nationaler Verschuldung, mit der Anonymität finanzieller Aktionen und allem, was dazu gehört, erst nach dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts voll aufzublühen begann, und wiewohl jeder (sollte man denken) hätte imstande sein sollen, den äußerst unstabilen Charakter dieser Gesellschaft zu entdecken, hielten es dennoch unsere Väter für ausgemacht, daß dieser Zustand der Dinge ewig währe. So ein Viktorianer mit 100 000 Pfund Sterling in Eisenbahnaktien dachte seine Familie unveränderlich gesichert auf Grund eines komfortablen Einkommens, und wie er über den Kapitalismus dachte, so dachte er auch über seine neu aufgekommene anonyme Presse, seine nationalen Grenzen, seine Toleranz für dieses, seine Intoleranz für jenes. Kein Wunder, daß er mit einem so falschen Gefühl für Dauer und Sicherheit auch die historische Perspektive in dieser anderen und ernsteren Sache verlor, über die wir hier diskutieren.
Aber abgesehen von diesem Argument, daß die Haltung des 19. Jahrhunderts oder des Liberalismus, wie ich sie genannt habe, gegenüber den Juden für ihre kurze Spanne Zeit gut funktionierte (wenigstens in Westeuropa), ist da auch die Tatsache, daß unter speziellen Umständen etwas ihr sehr Ähnliches in der Vergangenheit gut funktioniert hat für weit längere Zeiträume. Man nehme z. B. die Stellung der Juden in so einer Stadt wie Amsterdam. Die Aufnahme der Juden als Bürger genau so wie andere, wiewohl sie in recht großer Anzahl anwesend waren, die Fiktion, die deren eigene Nationalität leugnete, hat Generationen lang in dieser Gemeinde angehalten, und sie hat Frieden und anscheinende Zufriedenheit beiden Teilen verschafft. Und was bis auf diesen Tag wahr ist von Amsterdam, ist in der Vergangenheit für lange Zeiträume wahr gewesen im Leben manch eines anderen Handelsstaates oder einer kosmopolitischen Gesellschaft: in Venedig vor allem, und in weitem Maße in Rom; in Frankfurt, Lyon, in Hunderten von Städten zu gewissen Zeiten. Es war Generationen lang so in ganz Polen.
Man kann die Liste endlos verlängern, aber immer mit der unbehaglichen Kenntnis, daß das Experiment auf die Dauer ohne Unterschied zusammengebrochen ist
Da war ferner für diese Haltung des Liberalismus im 19. Jahrhundert das sehr starke Argument vorzubringen, daß, wahrend sie im Ergebnis der einen Partei, den Engländern, Franzosen, Italienern usw. ganz richtig vorkam und sicherlich nicht wehe tat, sie der anderen höchst willkommen war. Der Jude akzeptierte in der Regel nicht nur, sondern begrüßte warm diese besondere Weise, das, wie in jedem Fall er es immer gewußt hat, in der Tat sehr ernste Problem zu behandeln. Denn der Jude hat ein Rassengedächtnis wie kein anderer Mensch. Das Arrangement schien ihm all die Sicherheit zu geben, nach der die Geschichte seiner Nation (deren jeder Jude sich scharf bewußt ist) ihm eine heiße Sehnsucht eingeflößt hat. Ich glaube, wir könnten hinzufügen (wiewohl uns diesen Satz viele moderne Menschen bestreiten würden), daß diese Fiktion den Sinn des Juden für Gerechtigkeit befriedigt hat. Denn es ist nicht der unwichtigste Teil des Problems, das wir prüfen, daß der Jude wirklich die Empfindung hat, man sei ihm eine solche spezielle Behandlung schuldig. Ohne sie glaubt er sich übervorteilt. Er ist nach seiner eigenen Ansicht vor dem Nachteile einer latenten Feindseligkeit nur gesichert, wenn er auf diese Weise geschützt wird, und er ist darum überzeugt, daß ihm die Welt dieses einzigartige Privileg schuldig sei: Vollbürger einer jeden Gemeinschaft zu sein, in der er für den Augenblick gerade weilt, während er zur gleichen Zeit die Vollbürgerschaft in seiner eigenen Nation beibehält.
Nunmehr aber, wenn bei irgendeinem Konflikt ein Arrangement der einen Partei ganz gut zu funktionieren scheint und von der andern wirklich begrüßt wird, dann scheint es nicht leicht, es geringzuschätzen.
Wenn z. B. ein Mann und sein Pächter über den Besitztitel eines Feldes streiten, das auf eine recht lange Zeit verpachtet ist, wobei der Pächter um das nominelle Eigentumsrecht sehr wenig sich kümmert, dagegen sehr viel um sein unverletzliches Pachtrecht, der Landbesitzer aber durchaus geneigt ist, zu einer recht langen Verpachtung, jedoch scharf ist auf den Titel eines Eigentümers – so kann dieser Streit sehr leicht bereinigt werden. Man kann der Stellung des Pächters jeden möglichen Namen geben, außer den eines »Eigentümers«, jedoch alle seine praktischen Forderungen befriedigen. Eine grobe Parallele existiert zwischen einer solchen Stellung und dem Anlauf zu einer Bereinigung, die das Merkmal des 19. Jahrhunderts war.
Was der Jude verlangte, war nicht das stolze Privileg, ein Engländer, ein Franzose, ein Italiener oder ein Holländer zu heißen. Das war ihm vollständig gleichgültig (denn sein Stolz war, ein Jude zu sein, seine Loyalität galt seiner eigenen Nation, und was mehr ist, er konnte in jedem Augenblick sein Zelt abschlagen und für immer in ein anderes Land ziehen). Was der Jude nötig hatte, war nicht das Gefühl, daß er genau so sei wie die anderen – das wäre ihm sehr zuwider –, was er brauchte, war Sicherheit; was jedes menschliche Wesen dringend fordert, und was ihm unter allen Menschen am meisten fehlte: die Kraft, sich sicher zu fühlen an dem Platze, wo man gerade ist. Seine Wirte andererseits hatten noch kein praktisches Unbehagen daran gefunden, ihm sein Verlangen zu erfüllen. Sie kannten nicht das historische Argument dagegen, oder sie hielten es für nichtig, weil sie die Vergangenheit für barbarisch hielten und in ihr kein Modell für ihr eigenes Tun sahen. So war man zu einem Kompromiß gelangt, die Fiktion ward solide unterbaut, und der Jude, wiewohl er Jude verblieb, wurde ein Deutscher in Hamburg, ein Franzose in Paris, ein Amerikaner in Newyork, wie er gerade von Ort zu Ort wanderte, und für ein ganzes Menschenleben fühlte sich keiner benachteiligt trotz der unwahren Konvention.
Das nächste Argument zugunsten dieser Politik war die Tatsache, daß sie eine Kraft der Anziehung besaß für eine Reihe von Ideen, von denen eine jede zur einen oder anderen Zeit für unsere Ahnen feste Geltung besaß bei all ihren zahlreichen (aber erfolglosen) Anläufen, mit dem Problem nach ihrer Weise fertig zu werden.
Ein Moderner z. B. macht den Einwand: »Was ist das für ein Unsinn, die Juden zu behandeln, als repräsentierten sie bloß eine Religion! Wir alle wissen, daß sie eine Nation repräsentieren!« Aber jede Art der Gesetzgebung in der Vergangenheit, sogar zu Zeiten und an Orten, wo der Unterschied zwischen Juden und Europäern am meisten betont war, ist fortwährend zurückgegangen auf eben diesen Punkt: daß es sich nur um Religion handle. Wieder und wieder findet man sie als den Prüfstein der Politik: im Spanien des ersten und wieder des 15. Jahrhunderts, in Gallien unter Karl dem Großen, im England des frühen Mittelalters, in Byzanz, und bis auf diesen Tag in Teilen des Ostens, wo der Jude beständiger Einmischung ausgesetzt ist. Eine Ausnahme wurde in allen diesen Fällen gemacht für den Juden, der seine Religion aufgab. Seine Nationalität wurde unberücksichtigt gelassen.
Hierher gehört auch ein so einfaches und frisches Beispiel, wie das des nun glücklicherweise erloschenen preußischen Offizierkorps. In allen besseren preußischen Regimentern (ich glaube, in nahezu allen) galt als Regel, daß kein Jude Offizier werden konnte. Das preußische System überließ die Offizierswahl praktisch den Mitgliedern des Regimentsstabs: sie behandelten ihre Messe wie einen Klub und schlossen Juden aus. Aber sie ließen getaufte Juden zu, und zwar in großer Anzahl. War der Jude weniger Jude der Rasse nach durch die Taufe? Die ganzen Jahrhunderte hindurch ist dieses religiöse Kriterium, das der moderne Reformer so laut als Humbug anklagt und als eine Maskierung des wirklichen politischen Problems, eben das geltende Kriterium gewesen. Wohl wahr, die moderne Lösung machte nicht den Versuch einer religiösen Absonderung. Im Gegenteil, das Denken des Liberalismus des 19. Jahrhunderts verabscheute jede Art von Absonderung; aber es hatte mit der älteren Weise dieses gemein, daß es die Religion zum entscheidenden Punkte machte und insoweit den entscheidenderen der Nationalität und Untertanenpflicht verschleierte.
Lord Palmerston, als er seine berühmte Rede über die Heiligkeit der Bettstelle eines griechischen Juden hielt und darauf Nachdruck legte, daß der besagte griechische Jude ein englischer Bürger sei; Lord Palmerston, der das Wort Jude sorgsam vermied und seine ganze Rede hindurch vorgab, der fragliche griechische Jude sei ein ebenso voller Engländer wie er selber, unterschied sich in seiner Geisteshaltung recht sehr von einem spanischen Bischof des 5. Jahrhunderts, der einen Juden zum Gottesdienste zuließ unter der Bedingung seiner Bekehrung. Indessen hatten die beiden dieses gemein, daß keiner von ihnen den Juden als Mitglied einer andern Nation ansah, sondern (aus ganz verschiedenen Gründen) nur als Glied einer Religion.
Für Palmerston war dieser griechische Jude, über dessen Bett er seine berühmte Rede hielt und über dessen Bett bis auf diesen Tag der Satz hängt: »Civis Romanus sum«, vor allem ein Mitbürger. Er mag Palmerston eine zweifelhafte Sorte von Engländer geschienen haben, weil seine Heimat Griechenland war, aber er erschien ihm sicherlich nicht zweifelhaft deshalb, weil er zufällig ein Jude war. Dieses würde Palmerston nur für eine private Angelegenheit gehalten haben, und auf Grund einer solchen reinen Privatsache würde er niemals einen Juden als Fremdling angesehen haben, ebensowenig wie ein Mitglied des Parlaments deshalb, weil dieser Hammelfleisch lieber gesotten als gebraten wollte.
Man nehme eine andere Seite der liberalen Idee des 19. Jahrhunderts: die Anerkennung der Bürgerschaft. Man findet auch das immer und immer wieder in allen Lösungsversuchen der Vergangenheit. Es war der Kern der römischen Methode. Denn wiewohl die Regierung des Römischen Reiches viel zu sehr mit Realitäten beschäftigt war und mit Werken, die dauerten, um irgendeine Fiktion in dieser Sache zu akzeptieren, oder in der Praxis vorzugeben, daß der Jude kein Jude sei; wiewohl im Gegenteil die Römer sofort die Kluft erkannten zwischen den Juden und sich, und sie anerkannten nicht nur durch ihre Grausamkeit gegen den Juden, sondern auch durch die Privilegien, die sie ihm gewährten – es blieb dennoch immer ihre Politik, als primäre Unterscheidung die Bürgerschaft zu nehmen. Der Jude, der den Anspruch verfechten konnte, daß er voller römischer Bürger sei, war in den Augen eines römischen Tribunals in dieser Eigenschaft weit wichtiger zu nehmen, als in seiner Eigenschaft als Jude. Die Pointe war seine Bürgerschaft, nicht sein Judentum. So hat also diese Lösung ein weiteres Argument für sich in der Tatsache, daß sie in der einen oder anderen Richtung sich berührt mit den verschiedenen Versuchen unserer Rasse in der Vergangenheit, dieses Problem zu lösen.
Es gibt noch ein anderes Argument, das stark zugunsten der liberalen Fiktion spricht, das in unserer unmittelbaren Vergangenheit aufkam und für solide und eingebürgert galt. Es ist die Übereinstimmung dieser Fiktion mit allen modernen Sitten und Gesetzen, mit allen unseren heutigen wirtschaftlichen und sozialen Gewohnheiten.
Wir reisen so viel, wir kommen so viel unter einander, unsere wirtschaftliche Tätigkeit ist sowohl so kompliziert, so verwickelt, als auch (unglücklicherweise) meistenteils so geheim, daß irgendeine andere Weise, den Juden zu begegnen, nur wie ein monströser Anachronismus erschienen wäre – jedenfalls dann, wenn sie in Gestalt eines positiven Gesetzes aufgetreten wäre. Ein Mensch muß den Freunden seiner Freunde begegnen können und mit ihnen umgehen können als einem normalen Bestandteil der allgemeinen Gesellschaft, in der er sich bewegt. Da der Jude die westliche Gesellschaft überall durchdrang (wiewohl seine Zahl im Westen klein war), da er überall mit Europäern der wohlhabenderen Klasse Ehen schloß, so wäre es gehässig gewesen, in seiner Gegenwart seine Sondernationalität zu betonen: das wäre so gewesen, wie wenn man in seinem Hause einen Gast fühlen läßt, daß er lästig fällt.
Was noch mehr ist: dem bei weitem größeren Teile der reicheren und regierenden Klassen der westlichen Staaten war der Rassenunterschied so sehr verschleiert, daß er nahezu vergessen worden war. Zuweilen rief ihn eine Erschütterung wieder ins Leben. Ein englischer Landedelmann konnte z. B. plötzlich entdecken, daß ein Verwandter durch Heirat, um dessen jüdischen Namen und jüdische Abstammung er sich nie gekümmert hatte, ein Vetter war einer Person und in engster Beziehung zu ihr stand, die einen vollständig anderen Namen – einen orientalischen Namen trug und in irgendeine Verschwörung verwickelt war, sagen wir, gegen den russischen Staat. Oder er konnte zu seiner Überraschung erfahren, daß ein gelehrter Universitätsprofessor, mit dem er kürzlich gespeist hatte, der Onkel eines sozialistischen Agitators in Wien sei. Aber die Erschütterung ging vorüber, und das alte Gefühl der Sicherheit kehrte zurück.
Mit dem Anwachsen der Plutokratie steigerte sich die Anomalie, die Juden als von der übrigen Gemeinschaft gesonderte Individuen behandeln zu wollen. Die bedeutendsten Männer, welche die internationale Finanz kontrollierten, waren eingestandenermaßen Juden. Die internationale Stellung der Juden machte ihn immer nützlich und oft notwendig bei den ausgedehnten internationalen wirtschaftlichen Unternehmungen unserer Zeit. Die Anonymität, die rasch ein Merkmal des ganzen modernen Kapitalismus geworden war, ließ es absurd oder unmöglich erscheinen, immer aber ungewöhnlich und wahrscheinlich fruchtlos, in irgendeiner einzelnen Unternehmung nach einem gesonderten jüdischen Elemente zu suchen.
Da ist noch ein letztes Argument für diese liberale Politik, das großen praktischen Wert hat, wiewohl es äußerst gefährlich ist, mit ihm jene Politik zu verteidigen, weil es beiden Seiten dient. Dieses Argument lautet, daß der Jude als ein Bürger genau so wie alle anderen auch behandelt werden müsse, ohne Privileg sowohl wie ohne Rechtsbeschneidung, weil er, was eine Tatsache ist, seiner Umgebung äußerst rasch sich anpaßt.
Wenn die Leute sagen – wie sie jetzt anfangen zu sagen, – daß ein Jude ebenso verschieden von uns sei, wie ein Chinese oder ein Neger oder ein Eskimo, und deshalb behandelt werden müsse als Mitglied einer von uns gesonderten Gemeinschaft, so lautet die Antwort, daß der Jude nichts derartiges sei. In der Tat, er wird nach einem kurzen Aufenthalt unter Engländern, Franzosen, Deutschen oder Amerikanern auf der Oberfläche seinen Wirten so ähnlich, daß er für viele von ihnen ununterscheidbar wird, und das ist eine der Hauptseiten dieses Problems.
Hier liegt der Hauptgrund, warum für die Majorität der Mittelklassen im 19. Jahrhundert, in den westlichen Ländern, das jüdische Problem nicht existierte. Wollte es jemand von irgendeiner anderen Rasse sagen – Negern z. B. oder Chinesen – es würde unglaublich klingen; aber wir wissen, daß es faktisch wahr ist, daß ein Jude sein Leben, sagen wir, in drei verschiedenen Völkern der Reihe nach verbringen kann: und in jedem werden die Leute, die mit ihm verkehrt haben, bezeugen, daß er ihnen ganz genau zu gleichen schien.
Ich habe einen Fall gekannt, der hierher gehört, der meine nichtjüdischen Leser amüsieren, aber meine jüdischen vielleicht verletzen würde, wenn ich ihn im Detail vorbringen würde. Ich werde ihn darum anführen, ohne Namen zu nennen, weil ich mich in diesem ganzen Buche an die Regel zu halten wünsche, die allein von Nutzen sein kann, daß nichts, was beide Teile verletzen könnte, vorgebracht werden soll; aber er ist typisch, und manche werden aus ihrer Erfahrung ähnliche Fälle kennen.
Es handelt sich um den Vater eines Mannes, der im öffentlichen Leben Englands eine Rolle spielt. Er begann sein Leben in Hamburg mit einem deutschen Namen. Er war ein patriotischer Bürger dieser Freien Stadt, hochangesehen und in jeder Weise ein Hamburger, und die Hamburger jener Generation reden von ihm noch als einem der Ihren.
Er verzog nach Paris vor dem Französisch-Deutschen Kriege und wurde dort ein aktiver Pariser, vertraut mit dem Leben der Boulevards und voll von Energie bei jedem patriotischen und charakteristisch französischen Geschäfte; er half bekanntermaßen Leute rekrutieren während der nationalen Katastrophe von 1870/71. Jedermann, der in dieser Phase seines Lebens mit ihm verkehrte, dachte und redete von ihm als einem Franzosen.
Er entschied, daß die Zukunft Frankreichs nach einer solchen Niederlage zweifelhaft sei, und wanderte nach den Vereinigten Staaten aus, wo er starb. Wiewohl schon ein älterer Mann, als er landete, war er bald in den Augen der Amerikaner, mit denen er Geschäfte machte, ein Amerikaner ganz wie sie auch. Er erwarb den amerikanischen Akzent, die amerikanische Art, die Freiheit und die Hemmungen dieser Art. In jeder Weise war er ein charakteristischer Amerikaner.
In Hamburg wurde sein Name deutsch ausgesprochen. In Frankreich, wo deutsche Namen nicht ungewöhnlich sind, behielt er ihn bei, sprach ihn aber französisch aus. Als er in die Vereinigten Staaten kam, änderte er ihn in einen schottischen Namen, der ihm entfernt ähnelte, und kein Zweifel, wäre er nach Japan gegangen, würden uns Japaner erzählen, daß sie ihn als einen würdigen japanischen Herrn von großer Aktivität in nationalen Angelegenheiten gekannt haben, der den hochgeachteten Namen einer alten Samurai Familie trug.
Die Haltung des 19. Jahrhunderts beruhte fast ganz auf dieser wunderbaren Eigenschaft der Juden, die sie von der ganzen übrigen Menschheit unterscheidet. Wäre diese charakteristische Fähigkeit einer oberflächlichen Wandlung nicht dagewesen, die Politik des 19. Jahrhunderts wäre so vollkommen zusammengebrochen, wie die entsprechende Politik der Nordstaaten gegenüber den Negern in Amerika zusammenbrach. Wäre der Jude unter uns so auffällig gewesen, wie, sagen wir, ein weißer Mann unter den Kaffern, die Fiktion wäre auf der Stelle zusammengebrochen. So wie die Sachen lagen, wurden alle, die diese Politik, ehrlich oder unehrlich, aufgriffen, durch diese Fähigkeit des Juden gestützt, äußerlich seiner zeitweiligen Umgebung sich anzupassen.
Der Mann, der die liberale Politik des 19. Jahrhunderts gegenüber den Juden bewußt als bloßes politisches Schema sich aneignete, wiewohl er die möglicherweise daraus entstehenden Gefahren wohl kannte; der Mann, der der Existenz dieser Gefahren sich nur halb bewußt war, und der Mann, der niemals von ihnen gehört hatte und es für ausgemacht hielt, daß der Jude ein Bürger sei wie er auch, mit Ausnahme seiner Religion – ein jeder dieser Männer stand unter dem Eindruck der verblüffenden Tatsache, die dem einen sein Schema erleichterte, dem andern seine Illusion stützte, daß ein Jude mit unerklärlicher Schnelligkeit die Farbe seiner Umgebung annimmt. Dieses einzigartige Charakteristikum war die Stütze der liberalen Haltung und war zur selben Zeit deren notwendige Bedingung.
Die Fiktion, daß ein Mensch von offensichtlich verschiedenem Typus und verschiedener Kultur und Rasse derselbe sei wie wir, mag für Zwecke der Gesetzgebung und Regierung praktisch sein, aber kann nicht für die Meinung der Allgemeinheit aufrechterhalten werden. Eine Verschwörung oder ein Täuschungsmanöver, die z. B. versuchten, die Eskimos in Grönland als ununterscheidbar von den dänischen Beamten der Niederlassung hinzustellen, würden scheitern an der Lächerlichkeit. Ebenso lächerlich wäre das Vorgeben, daß, weil sie beide Untertanen derselben Krone seien, ein Engländer im indischen Zivildienst genau dieselbe Art von Person sei wie ein indischer Soldat. Aber bei den Juden haben wir die verblüffende Wahrheit, daß, während der fundamentale Unterschied die ganze Zeit über weiterdauert und vielleicht tiefer ist als irgendein anderer der Unterschiede, die die Menschen in Gruppen teilen; während er innerlich und im letzten Kerne seines Charakters vor allem ein Jude ist – er dennoch in den oberflächlichen und am unmittelbarsten in die Augen fallenden Dingen gekleidet ist in eben den Habitus der Gesellschaft, der er für den Augenblick einwohnt.
Ich sagte, daß dieses vielen als das letzte und stärkste Argument zugunsten der alten liberalen Politik vorkomme, aber ich wiederhole, daß es ein gefährliches Argument ist, weil es beiden Seiten dient. Wenn ein Nahrungsmittel, das einem schlecht bekommt, genau dasselbe Aussehen hat wie ein anderes, das man verträgt, mag man die Ähnlichkeit als ein Argument verwenden dafür, daß man beide ohne Unterschied ißt. Man kann sagen: »Es ist töricht, einen Unterschied machen zu wollen; man muß doch zugeben, daß sie im Aussehen gleich sind«; aber nach dem Essen könnte sich dies praktisch als ein recht schlechtes Verfahren herausstellen.
Freilich bleibt schließlich noch ein letztes Argument, das für mich persönlich, und, nehme ich an, für die meisten meiner Leser, stärker ist als alle übrigen, denn es ist das moralische Argument.
Wenn die liberale Haltung des 19. Jahrhunderts als dauerhaft sich erwiesen hätte, könnte man, abgesehen von jenem Element in ihr, das eine Unwahrheit und darum ein Faktor der Undauerhaftigkeit war, das übrige behalten, dann würde es zwei allen Menschen gemeinsame Verlangen befriedigen: das Verlangen nach Gerechtigkeit, und das Verlangen nach Liebe.
Hier ist ein Mensch anwesend, neben mir inmitten meiner Gemeinschaft. Ich schaffe ihm Nachteile, wenn ich ihn als Fremden behandle. Einen solchen Menschen behandeln, als ob er, wiewohl ein Freund, etwas Gesondertes und zu gewissen Funktionen meiner Gemeinschaft nicht zuzulassen wäre, verletzt das Herz, wie es auch den Sinn für Gerechtigkeit verletzt. Ein solcher Mensch mag ein großes Talent, sagen wir in Verwaltungsdingen besitzen. Wie alle Menschen mit einem großen Talent, muß er es ausüben. Man lähmt ihn, wenn man ihm nicht gestattet, es auszuüben. Eine Verordnung, die ihm verbietet, an der Verwaltung des Gemeinwesens teilzunehmen, in dem er sich befindet, oder auch nur ein Gefühl, das ihn in solcher Tätigkeit hemmt, erschafft, nicht bloß in ihm, sondern auch in seinen Wirten, ein Gefühl der Ungerechtigkeit; und wenn es möglich wäre, eine Politik zu ergreifen, bei der der fremde Charakter des Juden immer in der Schwebe wäre, so daß er zur selben Zeit ein Engländer und doch wieder nicht ein Engländer sein könnte, ein Franzose und doch kein Franzose, dann hätten wir eine Regelung der Dinge, die alle guten Menschen akzeptieren müßten.
Unglücklicherweise ist diese Lösung falsch, weil sie, wie viele Appelle an einen moralischen Instinkt, sentimental ist. Wir nennen sentimental eine Politik oder Theorie, die Widersprüche zu versöhnen sucht. Der sentimentale Mensch verabscheut gleicherweise das Verbrechen wie dessen notwendige Bestrafung; den Aufruhr ebenso wie eine organisierte Polizei. Er stellt sich das Leben des Menschen gerne vor, als ob es kein Ende fände. Er liebt es, von der Leidenschaft der Liebe zu lesen, ohne an die begleitenden sexuellen Konflikte zu denken. Er liebt es, zu lesen und sich vorzustellen, daß große Vermögen angehäuft werden ohne Habsucht, Betrug oder Diebstahl. Er liebt es, eine unmögliche Welt sich einzubilden voller Dinge, die einander gegenseitig ausschließen. Das macht ihm Vergnügen.
Nun aber begehen wir den Fehler des sentimentalen Menschen (den schwersten aller praktischen Fehler in der Politik), wenn wir jetzt noch, wo es zu spät ist, an der Fortsetzung der alten Politik festhalten. Man kann nicht gleichzeitig seinen Kuchen essen und aufheben; man kann nicht zur selben Zeit diese allerorten fließende, jedoch streng organisierte jüdische Gemeinschaft in der Welt gegenwärtig haben und zur selben Zeit jedes einzelne der Individuen, die sie bilden, so behandeln, wie wenn sie nicht Glieder der Nation wären, die sie zu alle dem macht, was sie sind. Man kann nicht zur selben Zeit ein Ganzes als eine Sache für sich behandeln und dessen Bestandteile als eine andere Sache für sich. Tut man das, so baut man auf einen Widerspruch, und wird, wie jedermann, der auf einen Widerspruch baut, auf Unheil stoßen.
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Ich möchte dem Leser noch eine Anekdote geben, indem ich wieder sorgsam alle Namen und Daten unterdrücke, um eine Identifizierung zu verhindern, die meine jüdischen Leser verletzen oder deren Gegner zu stark interessieren könnte. Als ein junger Mensch verbrachte ich gerne meine freie Zeit im Oberhaus, um zu sehen, was dort vor sich gehe. Ich werde mich immer eines Falles erinnern, wo ein alter Jude, der sein Leben in recht kleinen Verhältnissen begonnen hatte und nach Erwerbung eines großen Vermögens sich seine Pairie wie irgendein anderer auch gekauft hatte, sich erhob, um zu einer Resolution oder einem Gesetzentwurf zu sprechen über die Behandlung von »Fremden« – die Heuchelei der Politiker und die Volkserregung gegen den Andrang jüdischer Emigranten im East End waren schuld an diesem unverfänglichen Namen. Dieser alte Herr schob diesen ganzen Humbug einfach beiseite. Er wußte sehr wohl, daß die Politik auf »sein Volk« zielte – und er nannte sie »mein Volk«. Er wußte sehr wohl, daß die geplante Änderung eine Einmischung in ihre Bewegungsfreiheit bedeuten und sie Demütigungen aussetzen würde. Er redete mit einem flammenden Patriotismus, und ich war bezaubert von der Lebendigkeit, Kraft und Aufrichtigkeit seines Appells. Es war eine brillante Leistung und sie illustrierte nebenher (in Anbetracht dessen, was der Mann war) den tiefen Unterschied zwischen seinem Volke und dem meinen. Denn ein der Aufhäufung von Reichtümern gewidmetes Leben, das in jedem von uns alle edleren Regungen erstickt hätte, hatte offensichtlich ihm durchaus normal geschienen und hatte in keiner Weise sein Verlangen nach Gerechtigkeit und nach Liebe beeinträchtigt. Er versiegelte seine schöne Rede mit dem Ausrufe: »Was unser Volk braucht, ist, daß man es in Ruhe läßt.« Er wiederholte das immer wieder. Ich bin sicher, daß in der Versammlung, die ihm zuhörte, alle älteren Leute ein zustimmendes Echo in sich vernahmen. Es war genau die Lehre, in der sie erzogen worden waren, und genau die Note der großen Viktorianischen Ära des Liberalismus mit ihren nationalen Triumphen im Handel und in den Waffen.
Wohlan, innerhalb recht weniger Jahre waren die jüngeren Glieder der Familie eben jenes alten Mannes in zahllose parlamentarische Skandale verwickelt, und einer nach dem andern, der Reihe nach, wurde sichtbar – in einer Art von Prozession. Man hatte sie wirklich in Ruhe gelassen! Aber sie hatten uns nicht in Ruhe gelassen. Ich frage mich zuweilen: Wie würde es klingen, wenn in einigen Jahren irgendeiner dieser Nachkommen – nachdem er seine Pairie erhalten hätte (denn sie sind reiche Leute und alle miteinander professionelle Politiker) – auf den Ausruf seines Ahnen zurückkommen und verlangen würde, man solle sie »in Ruhe lassen«? Es würde sich dann kein Echo finden in der Brust der Zeitgenossen, die ihn anhörten. Die Manieren hätten sich so sehr geändert in diesem Betracht, daß er unterbrochen werden würde. Aber ich glaube gar nicht, daß mein hypothetischer Nachkomme jenes reichen alten Juden überhaupt eine solche Rede halten würde. Ich glaube, daß, wenn die Zeit für ihn käme, sie zu halten, diese ganze Idee vom »Allein lassen« vollständig erledigt sein wird.
Ich habe die Rede dieses alten Mannes erwähnt ohne jede gehässige Absicht, nur um an einem aktuellen Beispiel zu zeigen, wie die Idee des »Alleinlassens« in dieser großen Frage zusammengebrochen ist. Mir sind wie irgendeinem meiner jüdischen Leser Namen bekannt, von denen das öffentliche Leben der Vergangenheit nur Ehre gehabt hat, jüdische Namen, jüdische Pairs: und ich erinnere mich im besonderen an den verehrten Namen des Lord Herschell; der Freundschaft zwischen seinen und meinen Nächsten bewahre ich ein dankbares und treues Gedächtnis.
Aber ich wende mich wieder zu dem Fehlschlag des sentimentalen Arguments.
Das sentimentale Argument schlägt fehl, weil es Widersprüche mit sich bringt – das heißt Unvereinbarkeit von Tatsachen. Selbst wenn einer nicht dieses streng nationale Prinzip zum Führer hätte: der ganze Verlauf der Geschichte drängt sich als Führer auf. Es ist wahr, das Vorgeben einer allgemeinen Bürgerschaft hat für längere oder kürzere Zeit funktioniert, aber niemals auf unbestimmte Zeit. Immer kommt es schließlich zu einer Katastrophe. Der Jude ist willkommen im mittelalterlichen Polen; er kommt in großer Anzahl; alles geht gut. Dann geschieht das Unvermeidliche, und Juden und Polen stehen einander gegenüber als Feinde, jeder klagt den andern der Ungerechtigkeit an, der eine schreit, er werde verfolgt, der andere, der Staat sei in Gefahr, weil eine fremde Macht in ihm wühle. Spanien verfolgte diese Politik und deren Gegenteil abwechselnd; die ganze Geschichte Spaniens – dem ursprünglichen Sitze des jüdischen Einflusses in Europa nach dem allgemeinen Exil – ist die Geschichte abwechselnder Anläufe zu der sentimentalen Lösung und einer wütenden Reaktion dagegen: die Reaktion des Menschen, der für sein Leben kämpfend zuhaut aus Gewalttätigkeit und Todesangst. Das ist die Geschichte nicht nur Spaniens, sondern eines jeden Landes zur einen oder andern Zeit.
Und in der Tat, vor unseren Augen haben wir heute in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten den Anfang genau einer solchen Reaktion, und es ist das Vorhandensein dieser Reaktion, das der Anlaß dieses Buches ist. Der Versuch einer liberalen Lösung ist uns in den Händen zerronnen; wäre er nicht zerronnen, es brauchte nichts mehr gesagt zu werden, oder wir könnten jedenfalls die Diskussion verschieben, bis die Schwierigkeit aktuell würde. Aber wir haben nur um uns zu blicken, um zu sehen, daß nach diesen wenigen Jahren eines Menschenlebens, während derer das Experiment auf dem Gipfel der Zivilisation erfolgreich war, es bereits zusammenbricht. Überall wachen die alten Fragen auf; überall erheben sich die alten Klagen; überall werden die alten Gefahren wieder sichtbar. Wir müssen nach einer Lösung suchen, denn wenn wir keine finden, so wissen wir aus der Vergangenheit, welche Tragödien uns beiden bevorstehen. Hier ist ein Problem, ein eindeutiges, ein höchst dringliches Problem. Einmal anerkannt, ist notwendig eine Lösung gefordert. – Aber es genügt nicht, zu zeigen, daß die bloße Leugnung der Existenz jenes Problems – die Politik des Liberalismus des 19. Jahrhunderts falsch war und zusammenbrechen mußte. Es ist ebenso notwendig, wenn wir ermessen, von welch unmittelbarer Bedeutung das Problem ist, es von aktuellen Ereignissen her zu stellen und zu illustrieren. Es genügt nicht, zu zeigen, daß die versuchte liberale Politik fehlgeschlagen hat. Man muß auch, ehe man eine Lösung zu finden versucht, das Wesen des Problems analysieren, wie es in diesem Augenblick sich darstellt; ich habe vor, das im nächsten Kapitel zu tun.