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12. Kapitel.
Unsere Pflicht

Diese nur eine Folge der in Kapiteln 4, 5 und 6 aufgestellten Bedingungen – unsere doppelte Pflicht, mit den Juden zu verkehren und ihre Sondernationalität anzuerkennen – Notwendigkeit, diese Sondernationalität in Unterhaltung und sozialen Gewohnheiten offen zuzugeben – trotz der Schwierigkeiten entgegenstehender Konvention – darin sollten die wohlhabenderen Klassen der Führung des Volkes folgen – Torheit und Gefahr der Angst in diesen Dingen – die Angst vor der jüdischen Macht degradiert und verbittert den Europäer – Aufschub macht die Sache schlimmer – unsere klare Pflicht ist, diese fremde Nation anzuerkennen, zu respektieren, und mit Freimut zu behandeln, wie wir jede Nation, die anders ist, als wir, behandeln.

 

Die Lösung, die ich vorschlage, und die nach meiner Ansicht gestaltet werden kann, ja überhaupt die einzig haltbare ist, verlangt auf unserer Seite eine größere, eine notwendigere Anstrengung als auf der unserer Gäste.

Es ist der durchschnittliche Mensch, der in dieser Sache seine Pflicht tun muß, und auf ihn wird die Verantwortung fallen, wenn wir noch einmal diese elende Reihenfolge von Unbehagen, Verfolgung, Reaktion, die das Merkmal so vieler Jahrhunderte gewesen ist, durchmachen sollten.

Wir sind in der gewaltigen Mehrheit, wir sind der Organismus, innerhalb dessen diese kleine Minderheit sich rührt. Wir sind, oder könnten sein, wenn wir wollten, die Schöpfer unserer eigenen Gesetze, und ganz gewiß sind wir die Schöpfer unserer politischen Stimmungen.

Ich weiß, es ist Brauch, alle Verantwortung der anderen Seite zuzuschieben, fortwährend Mittel zu erdenken für deren Lenkung, die rasch zu Mitteln ihrer Unterdrückung werden, und überhaupt das Problem so zu stellen, als ob der Europäer dabei eine rein negative Rolle spiele und alle Arbeit, die getan werden muß, dem jüdischen Fremdling zufalle.

Diese Haltung ist nicht nur falsch, sondern gröblich würdelos. Wenn Leute einen anklagen, der schwächer ist als sie selber, daß er in ihre Angelegenheiten sich einmische, ja sogar Macht über sie gewinne, dann sprechen sie sich ihr eigenes Urteil. Es ist in der Hauptsache unser Fehler, wenn während der ganzen sechzig Generationen, die die Debatte nun dauert, ein Gleichgewicht so selten erreicht worden ist. Denn wie fremd immer, wie aufreizend der Jude sein mag für uns, wir sind es doch, die das Lösemittel gegen diesen Erreger in Händen haben und die Spannung, die es verursacht, aufheben können.

Man lasse mich hier auf die Gefahr der Wiederholung hin (Wiederholungen sind aber nötig, um bei solchen Argumentationen zur Klarheit zu kommen) an den logischen Prozeß erinnern, mit dem ich diesen Essay eröffnet habe. Ich habe gesagt, daß die gewaltige Mehrheit, die fixierte Rasse, welche Jahrhundert über Jahrhundert, Israel, unstet wie ein Fluidum und wie Nomaden, durchwandert, nicht meinen darf, dadurch ihre Verantwortung los zu werden, daß sie eine der von mir verurteilten Lösungen versucht. Niemand, hoffe ich, wird zynisch genug sein, um zu sagen, daß pure Verfolgung, geschweige denn die Greuel, zu denen sie schließlich führen kann, eine Lösung ist oder sein sollte. Niemand kann es von der Verbannung sagen. Niemand kann unsere Verantwortung abladen durch den Vorwand, daß jede erreichte Lösung nur unsern Vorteil im Auge haben müsse, ohne Rücksicht auf die, welche doch mitten unter uns leben.

Man hört häufig genug den Satz, daß der Herr des Hauses allein zu entscheiden habe, was unter seinem Dache geschehen soll: daß der Eindringling, das fremde Element, weder Grund noch Recht habe, sich über Maßnahmen, welche immer, zu beklagen, die zum Schutze des Haushalts getroffen werden mögen. So gefaßt, klingt das plausibel. Es ist aber grundfalsch. Es ist ähnlich dem auf das Privateigentum angewandten Argumente – daß, weil das Privateigentum ein Recht ist, und ein Mann »mit seinem Eigentum machen kann, was ihm beliebt«, er es deshalb auch zur offenbaren Schädigung anderer verwenden dürfe. Überdies ist auch die Analogie falsch; wenn einer sagt, der »Herr des Hauses« habe das Recht zu entscheiden, wie in seinem Haushalt gelebt und wie seine Gäste behandelt werden sollen, dann hat er nur eine sehr kleine Einheit innerhalb einer großen Gemeinschaft im Auge: seinen Haushalt innerhalb der ganzen Nation; eine kleine Gruppe, die, wenn sie ein ihr fremdes Element abweist oder sonstwie ähnlich behandelt, ihm keinen sehr großen Schaden zufügt, da draußen ihm ja die ganze Welt noch offen steht. Aber in den Beziehungen zwischen dem Juden und dem Christentum, oder dem Juden und dem Islam fehlt diese Parallele. Eben weil es hier kein »Draußen« gibt, wohin der Verbannte sich wenden kann, ist uns eine Pflicht auferlegt.

Freilich ist es wahr, daß, wenn eine kleine fremde Minderheit sich anmaßt, dem Reste seine Politik zu diktieren, ihren eigenen Vorteil allein im Auge zu behalten und diesem das Leben der Gesamtheit unterzuordnen, dies ein grotesker Anspruch ist, der abgewiesen werden muß. Aber wir sollten doch andererseits nicht vergessen, daß eine Minderheit nur durch Übertreibung ihrer Ansprüche überhaupt leben kann. Nur durch heftige trotzige Betonung ihres Rechtes zu leben, wird ihr Überleben überhaupt gesichert. Wir können in dieser Sache gerecht denken lernen erst, wenn wir uns an die Stelle derer versetzen, mit denen wir es zu tun haben.

Man denke sich in einen Juden hinein und frage sich, wie einem dann die Lehre »man kann mit seinem Eigentum machen, was man mag« und man sei »Herr im eigenen Hause« vorkommen muß.

Ein Fall, der in der Öffentlichkeit wenige Monate vor Erscheinen dieses Buches mit Recht großes Aufsehen erregte, mag als Beispiel dienen. Ein gebildeter und hervorragender Jude, Dr. Oskar Levy, ein Mann, der in jeder Gemeinschaft zählen würde, wurde unter Umständen, an die manche meiner Leser sich erinnern werden, aus diesem Lande gewiesen. Er brachte mit gutem Rechte vor, daß ihn als Juden eine Verbannung völlig heimlos mache; daß das ursprüngliche Land, dessen nominelles Bürgerrecht er hatte (unter der abgetanen Fiktion, daß Juden Deutsche, Österreicher und Gott weiß was sein können und damit aufhören, sie selbst zu sein), ihn nicht haben wolle; daß seine Interessen und sein Lebensunterhalt ihn an dieses Land fesselten; er habe niemals seine wahre Nationalität verleugnet, noch seinen Namen gewechselt, noch irgendeine jener Finten gebraucht, die, selbst wenn entschuldbar, doch gefährlich sind und so manche seiner Volksgenossen der Verachtung preisgeben. Es war auch kein verständlicher Grund da, warum dieser Mann mit solcher Härte behandelt werden sollte, außer freilich, daß er ein Jude war.

Man versetze sich an seine Stelle und sehe zu, wie die Sache sich ausnimmt. Da ist keine Nation, zu der man hätte zurückkehren können: nirgends eine Gemeinschaft, die einen als ihr Glied aufnehmen würde. Es wird einem nicht gestattet, in der Atmosphäre zu verbleiben, in die man hineingewachsen ist, in dem Milieu seiner späteren Lebensjahre, wo ein Wechsel zu spät ist. Kann man sich eine größere Grausamkeit denken, eine größere Ungerechtigkeit? Das ist ja der Kern des ganzen Problems, daß irgendwo die Juden unterkommen müssen und deshalb an irgendeinen von uns die Frage sich richtet: »Willst du ihm ein Unterkommen geben, und unter welchen Bedingungen?« Wenn jeder antwortet: »Nein, ich nicht«, dann werden alle kollektiv zu Bedrückern. Es ist keine Antwort, wenn man sagt: »Diese Leute sind nicht von den Unsrigen, darum können sie sich gegen uns verschwören«, oder »ihre Interessen unterscheiden sich von den unseren, und darum können sie mit den unseren in Konflikt treten und tun es auch.« All das ist zugegeben. Das heißt ja nur das Problem stellen, nicht es lösen. Was sagen wir denn im täglichen Leben von Leuten, die immer nur ihre Beschwerden aufstellen, auf ihnen herumreiten und keine Anstrengungen machen, die Sache in Ordnung zu bringen? Wie denken wir denn von Leuten, die nur fortwährend jammern über etwas, das von Natur schwächer ist als sie selber, sich keine Mühe geben, dessen Bedürfnisse zu verstehen, und nur probieren, wie sie die Belästigung los werden, ohne an die wechselseitigen Pflichten und an die gemeinsamen Beziehungen zu denken? Nun wohl, das gleiche sollten wir denken von denen, die gegenüber der jüdischen Gemeinschaft in unsrer Mitte so handeln, die trotz all ihrer Herrschaft und heute allzugrossen Macht, schließlich doch von unserer Gnade abhängt, da sie viel schwächer ist als wir an Zahl und an Gelegenheiten. Ohne weiter auszuführen, was ein selbstverständliches politisches und moralisches Prinzip sein sollte, wollen wir unsern Teil der Aufgabe erwägen.

Er besteht nach meiner Vorstellung in zwei verschiedenen Entschlüssen: zwei sehr verschiedenen, aber doch zusammengehörigen Richtungslinien für unser Handeln, auf die wir uns verpflichten müssen. Der erste bis vor kurzem schwierigste ist der Entschluß, von dem jüdischen Volke so offen, so fortlaufend zu reden, mit so viel Interesse und genauer Nachforschung, wie wir von irgendeiner anderen fremden Gruppe reden, mit der wir in Berührung kommen.

Die zweite Pflicht, die vielleicht in der Zukunft die schwieriger zu erfüllende sein wird, ist die, bei der individuellen öffentlichen Anerkennung derer, mit denen wir leben müssen, allen nutzlosen Ärger und alle bloße Reaktion zu vermeiden. Ich verstehe unter der bloßen Reaktion die blinde. Das instinktive Zurückstoßen eines Dinges, das uns drückt, der unberechnete, rein animalische Gegenschlag, dessen Konsequenzen sowohl für uns wie für andere im Augenblick, wo er geliefert wird, nicht abgewogen werden; das nutzlose Jammern, die nutzlose Wut, die nutzlose Grausamkeit.

Wofern man diese beiden Pflichten nicht zusammen auf sich lädt, wofern man nicht sich entschließt, beide gleicherweise zu üben, wird die von mir vorgeschlagene Lösung nicht gelingen, Das durch die Gegenwart des jüdischen Volkes dargebotene Problem zu diskutieren, von ihnen zu reden wie von jedem anderen auch, frei und offen, sich für ihre Geschichte zu interessieren und ihr gegenwärtiges Tun: wenn wir dieses ganze aufrichtige Vorgehen etwa nur zu dem Zwecke üben, ihnen weh zu tun, oder wenn wir uns im Verlaufe (bloß aus Erregung und dem Kontrast, aus dem Gefühl der Opposition, das alle gegen etwas Fremdes haben) gehen lassen und blind reagieren ohne Erwägung der unmittelbaren wie der schließlichen Folgen, nicht bloß für sie, sondern für uns –: dann trägt all das nur zur Verschlimmerung der Lage bei.

Umgekehrt ist der Entschluß, auf ihre Interessen zu achten und jegliche Gelegenheit eines Konfliktes zu meiden, sich gerecht und maßvoll gegen sie zu benehmen, völlig nutzlos, wenn wir die ganze Beziehung fälschen durch Heimlichkeit und falsche Konvention.

Im Augenblick, wo das eintritt, tritt auch eine geheime Unzufriedenheit mit einem selbst und der ganzen Situation ein. Die Lage wird unhaltbar, die Saat der Animosität schießt auf, die Gefahr gegenseitiger Verachtung ist unvermeidlich.

Sehen wir uns nun die beiden Wege an, die wir in dieser Sache zu gehen haben, und die Schwierigkeiten, die auf ihnen liegen.

Auf dem Wege, die jüdische Minderheit anzuerkennen, zu untersuchen, ihr offenes Interesse entgegenzubringen, liegen drei mächtige Hindernisse. Zuerst die ererbten Höflichkeitskonventionen der Gesellschaft; zweitens, und das ist das mächtigste, Angst; und drittens der anständige Wunsch, Anstoß zu vermeiden.

Das erste, die Rücksicht auf die Konvention, hat viele Wurzeln – das Bedürfnis nach Harmonie in einem Leben der Muße; der Wunsch, Reibungen zu vermeiden auch auf Kosten der Wahrheit; das bloße Gewicht einer gewohnten Ruhe; die Angst vor Mißverständnissen, die davon kommen können, daß der eine über den anderen sich lustig macht; die die Personen beleidigen können, die wir mißverstanden haben, oder uns lächerlich machen können in seinen Augen und in denen unserer Zuhörer.

Natürlich wirkt hier auch als Ursache, die stärker ist, als jede andere, die Macht, die hinter jeder Konvention steht; die einen Mann den Hut abnehmen läßt in der Kirche; die ihm verbietet, auf der Straße ohne Stiefel zu gehen auch am heißesten Tag, d. h. also der Druck dessen, was alle tun. Aber was man klar erkennen muß, ist, daß in dieser Form – ich meine, völlig geschieden von jedem Gefühl der Angst oder der Liebe – die Sache eben eine Konvention ist und nichts als eine Konvention. Schwierig wie es sein mag, mit Konventionen zu brechen, wofern mit dieser Konvention nicht ein für alle Mal gebrochen wird, bleibt das jüdische Problem für uns ungelöst und wird zunehmen an Schärfe und Gefährlichkeit.

Man kann einen Iren treffen und mit ihm die Lage seiner Nation besprechen. Man kann einen Italiener fragen, wann er zuletzt in Italien war, oder einem Franzosen gratulieren, daß er unsere Sprache erlernt hat, oder ihm sagen, daß es für ihn schwierig ist, unsere Sitten zu verstehen: aber unter der liberalen Fiktion entstand eine Konvention – ich habe in einem früheren Abschnitt dieses Buches dem so viel Raum gewidmet – daß im Falle eines Juden so natürliche Dinge zu tun, etwas Ungeheuerliches ist. Jeder ist betroffen, wenn einer öffentlich an einen gelehrten Juden eine Frage richtet über dessen Nationalliteratur oder Geschichte. Es ist unschicklich, überhaupt auf seine Nationalität Bezug zu nehmen, ausgenommen vielleicht hie und da in Ausdrücken einer Lobhudelei – die in neunzehntel der Fälle gar nicht trifft und dem Empfänger unerwünscht ist. Und selbst mit Lob darf man nur zimperlich kommen. Man darf einen Juden in London nicht fragen, so sehr man auch eine Information sich wünscht, ob er in Litauen oder Galizien Verwandte hat, die ihm über die Lage in diesen unglücklichen Ländern berichtet haben. Man darf ihn nicht fragen, wann seine Familie nach England kam, oder wenn er erst frisch angekommen ist, was er von diesem Lande hält. All das ist Tabu.

Noch mehr als das: es wird von einem erwartet (oder wurde bis vor ganz kurzer Zeit), daß man in der extravagantesten Art die vollständige Identität unseres jüdischen Gastes mit dem Volke, unter dem er wohnt, betone. Ich fühle mich nicht beleidigt, wenn irgendeine zufällige Bekanntschaft, meinen französischen Namen merkend, mit mir über Frankreich spricht und sich für meine Erfahrungen interessiert, die ich vor langer Zeit in diesem Lande als Rekrut machte. Herr Redmond fühlte sich nicht beschimpft, als die Leute, mit denen er in London zusammenkam, über irische Dinge mit ihm redeten, angefangen von den heftigsten politischen Schwierigkeiten bis zu der nichtssagendsten Bemerkung über das Abbey Theater. Der Herausgeber einer italienischen Zeitschrift, der England besucht, ist nicht betroffen, wenn man ihn fragt, wann er Florenz verließ, noch auch ist die Umgebung entsetzt über die Ungezogenheit, eine solche Frage zu stellen. Aber im Falle des Juden steht diese Konvention da und schneidet einen ab von der Möglichkeit, mit einem Mitmenschen in dieser geraden und einfachen Weise zu verkehren. Diese Konvention, sage ich, muß weg, wenn wir zu einem Resultat kommen wollen und zur Herstellung eines dauernden Friedens.

Natürlich war die Sache ursprünglich nicht völlig ohne Sinn. Kein Brauch ist das. Sie war entschuldbar aus mannigfachen Gründen.

Erstens bestand da die Tatsache, daß man wußte, es gebe viele Leute, die eine so starke Feindseligkeit gegen die Juden nähren, daß die Betonung des Judentums eines Anwesenden diese Feindseligkeit erwecken würde.

Dann war da der eigentümlich rasche Wechsel sowohl der jüdischen Bewegungen wie der jüdischen Vermögen. In dem von mir angedeuteten Falle der Befragung eines Londoner Juden, ob er Verwandte in Galizien oder Litauen habe, mochte man auf Verwandte stoßen, die noch viel ärmer waren, als er selber, und die im Londoner Eastend lebten; oder es könnte wiederum den Eindruck erwecken, als wolle man den Nomadencharakter der Nation besonders betonen und damit zugleich auch den Gegensatz zwischen ihr und der unseren.

Aber bei weitem die stärkste Entschuldigung für die Konvention war die wohlbegründete Idee, daß ihre Übung bei den Juden selber Gefallen fand. Die Leute vermieden eine direkte Erwähnung der jüdischen Nationalität, weil sie das Gefühl hatten, daß sie nahezu einer Beleidigung gleichkam. Man entdeckte, daß der Jude davon nicht zu sprechen wünsche; und wiewohl wir vielleicht nicht zu verstehen vermochten, warum er einen solchen Wunsch habe, respektierten wir ihn doch, wie wir es bei jedermann zu tun pflegen, zu dem wir in harmonischen Beziehungen stehen wollen. Die meisten Leute z. B. haben keine ausgesprochene Meinung über das Rauchen. Den meisten Leuten macht es nicht das geringste, wenn man sie fragt, ob sie Raucher oder Nichtraucher seien, und wenn Raucher, ob sie diesen oder jenen Tabak vorziehen. Aber hin und wieder kann man auf einen treffen, der infolge einer bestimmten Erziehung (vielleicht erzog einen seine Mutter zu dem Glauben, daß Rauchen eine Todsünde sei) solche Fragen nicht gern hat.

Ich selber kenne einen Fall von einem sehr hochgebildeten Mann in bedeutender sozialer Stellung, in dessen Gegenwart das Wort Schwein nicht fallen darf, weder in Verbindung mit Ökonomie noch mit Nahrung; denn seine Sympathien gehören den Mohammedanern. In diesen Ausnahmefällen, wenn wir die besonderen Wünsche unserer Gäste kennen, willfahren wir ihnen um der Harmonie und der guten Lebensart willen. So steht die Sache auch mit der früheren Konvention, daß man auf die jüdische Nationalität und jüdische Interessen in keiner Form anspielen dürfe. Ob es von den Juden klug war oder nicht, diese Konvention zu pflegen, wie sie es zweifellos taten, gehört nicht hierher. Ich spreche hier von unserer Pflicht, nicht von der ihrigen. Aber ich behaupte, daß wofern diese Konvention nicht gemildert und schließlich überhaupt aufgehoben wird, nichts Rechtes geschehen kann. Beide Parteien sollten wissen, daß sie nur schaden kann. Sie macht alle unsere Bezeichnungen gespreizt und absurd. Sie zieht jenen Verdacht der Heimlichkeit groß, die, wie ich mit solchem Nachdruck hervorgehoben habe, am meisten aufreizt, und sie bringt ein Gefühl der Ausnahme und des Sonderbaren hervor, womit den Juden selber ein sehr schlechter Dienst erwiesen wird.

Noch vor ganz kurzem ging die Konvention sogar so weit, daß eine einfache Erwähnung, eine neutrale, was sage ich, eine lobende, von irgend etwas Jüdischem in einer Gesellschaft dem Betreffenden unmittelbar in Verlegenheit stürzte. Männer sahen sich über die Schulter an, die Frauen warfen rechts und links Seitenblicke. Eine Art von Jagd begann, ob vielleicht einer anwesend sei, den die monströse Tat in irgendeiner entfernten Beziehung beleidigt haben könnte. Sagte einer: »Was für ein Dichter doch Heine war, und wie durchaus jüdisch seine Ironie ist!« in einem Zimmer voll von Leuten, dann wirkte das Adjektiv »Jüdisch« gleich einem Pistolenschuß – kann man sich etwas Absurderes vorstellen! Und doch war es so.

Aber es handelt sich mir nicht um die Absurdität dieser Konvention, sondern um ihre Gefahr. Sie bildet ein Hindernis, mit den täglich drohender und größer werdenden Schwierigkeiten fertig zu werden.

Es ist klar, daß man eine solche Konvention nicht auf gewaltsamem Wege und auch nicht auf der Stelle los werden kann. Aber es ist unsere Pflicht, ihr Verschwinden zu beschleunigen und, innerhalb der Vernunft, jede Gelegenheit zu benützen, die jüdische Nationalität genau so zu behandeln wie jede andere auch. Ich meine genau so, wie man jede andere in der Unterhaltung und wenn man schreibt behandelt. Wir kennen alle den ungesunden Typus, der eine Konvention zu brechen liebt, nur weil es eine Konvention ist, und wir müssen sicherlich in naher Zukunft, wenn diese Konvention zu erliegen beginnt, vor dieser Art von Personen auf unserer Hut sein. Aber ohne solche Exzentrizitäten zu ermutigen, haben wir noch weiten Spielraum, um mit wachsender Zwanglosigkeit eine Sache anzuerkennen, von der wir nun einmal wissen, daß sie eine Realität ist, und zwar eine, die zu unser aller Besten eine offene Diskussion erfordert. Die Gefahr ist, daß selbst dieses rein konventionelle Hindernis durch einen zu langen Widerstand Kräfte aufstaue, die es niederzureißen streben, und daß nicht, wenn es eingerissen ist, wir in das andere Extrem der Zügellosigkeit fallen, mit allen seinen Anlässen zu beleidigen und Schaden zuzufügen. Das ist im Falle anderer viel vernünftigerer viktorianischer Konventionen geschehen, und wir dürfen e& nicht geschehen lassen im Falle dieser Konvention, die uns so lange verbot, zuzugeben, daß ein Jude ein Jude ist, oder in dessen Anwesenheit uns offen für die Dinge zu interessieren, die er selber für die bei weitem interessantesten hielt.

Und wollte einer sagen, daß eine Konvention notwendig sei» damit nicht auf ihr Verschwinden offene Feindseligkeit folge, so kann ich nur antworten, daß dies überhaupt an der Möglichkeit einer gerechten Lösung verzweifeln heißt. Die ganze These meines Buches ist aber, daß man noch nicht verzweifeln darf.

Noch etwas ist in dieser Sache über das alte Tabu zu sagen. Wie lange es sich auch noch in der kleinen Klasse der Gebildeten hinziehen mag, unter dem gewöhnlichen Volke hat es für immer ein Ende genommen, und schließlich ist es doch in der Hauptsache der Volksinstinkt, mit dem wir es in den uns bevorstehenden schwierigen Zeiten zu tun haben werden.

Das Volk in diesem Lande redet über jüdische Dinge mit einem Freimut, der die Salons in Erstaunen setzen würde, und hat so seit einer Generation schon geredet –, immer, seitdem der neue große Zustrom armer Juden in unsere Städte sich zu ergießen begann. Es redet nicht nur mit dieser Freiheit von und zu Juden, die auf seinem eigenen Niveau stehen, sondern es verfolgt auch mit lebhafter Aufmerksamkeit die Anwesenheit und die Macht der Juden in der Regierung. Die da meinen, daß eine Fortführung der Konvention uns der Notwendigkeit einer Lösung entheben könne, würden ihre Illusion verlieren, wenn sie ein paar Tage östlich von Aldgate verbringen und sich dort unter ihre Mitbürger mischen würden. Eng verbunden mit diesem Hindernis, der Konvention ist die sehr reale Hemmung durch Liebe.

Nun haben wir es hier nicht mit einer positiven Liebe zu tun, sondern mit einer negativen, und mit einer Form der Liebe, die mehr der Schwäche gleicht. Der Mann, der aus Herzensgüte der ehrlichen Meinung ist, daß jede Anspielung auf jüdische Züge in zeitgenössischer Kunst, Geschichte oder Literatur in Gegenwart eines Juden beleidigend und deshalb zu vermeiden ist, und der diese Tugend auch übt, wo irgendein anderer Fremder in Betracht kommt, ist freilich sehr selten. Es gibt solche Leute, denn es gibt Menschen von außergewöhnlicher Güte, verbunden mit außergewöhnlicher Dummheit. Aber die Ausrede der Liebe, wie sie gewöhnlich vorgebracht wird, ist nicht ganz unbefangen. Wo sie es ist, muß unsere Antwort heute lauten, daß selbst auf die Gefahr gelegentlichen Unbehagens hin die Möglichkeit zu verletzen riskiert werden muß; denn wofern wir das nicht riskieren, wächst nur die Gefahr einer viel größeren Verletzung der Gerechtigkeit. Aus welchem Grunde immer die Dinge vertuscht werden mögen, und sollte die Liebe der Grund sein, wir verschieben dadurch nur den Tag des Unheils, und so angewandte Liebe ist dieselbe, die auch bei irgendeinem anderen kritischen Problem wachsender Schwere sich nicht aufraffen kann, etwas zu tun. Die Liebe, die zaudert, die Mittel eines Verschwenders unter Kontrolle zu nehmen, oder in einer gerechten Sache einen Verteidigungskrieg zu führen, oder einen Unterdrückten zu verteidigen auf die Gefahr hin, mit dem Unterdrücker in Streit zu geraten, ist eine mißleitete Liebe.

Aber bei dem größeren Teil derer, die dieses Motiv vorbringen, ist, wie ich gesagt habe, der Vorwand, wenn sie nur ihr eigenes Gewissen erforschen wollten, leicht als falsch zu erkennen. Und das wird sich erweisen im Augenblick, wo die Konvention sich abschwächt. Wenn es nicht mehr eine rein konventionelle Sache ist, jede Erwähnung von Jüdischem zu vermeiden, wie viele werden dann noch schweigen, bloß aus Liebe zu ihren Mitmenschen? Man könnte weiter gehen und sagen, daß wenn die Konvention aufgehört hat, auch jedes Bedürfnis für diese Art von Liebe aufgehört haben wird. Es gibt natürlich eine Ausnahme, den Mann nämlich, dessen Abneigung gegen die Juden so heftig ist, daß er selber Angst davor hat, seiner Zunge freien Lauf zu lassen. Eine solche Manie ist eine Ausnahme; aber wo sie sich findet, wird ihr Opfer wohl daran tun, zu schweigen. Wenn einer das hebräische Alphabet nicht erwähnen kann ohne ein Grinsen, oder die Wirtschaftslehre Ricardos, ohne sein Mißfallen über Ricardos Abstammung zu verraten, dann wird er sicherlich besser den Mund halten, wenn Juden da sind. Wie ja auch ein Franzose, der gegen das Englische tobt, weit besser tut, in Gesellschaft, wo Engländer sind, nicht über die englische Konstitution oder den Genius Newtons zu diskutieren.

Es bleibt noch das Haupthindernis – die Angst.

Kein Zweifel, immer noch die stärkste Kraft, die eine Äußerung der Feindseligkeit gegen die Juden zurückdrängt, ist die Angst.

In gewissem Sinne natürlich gibt es eine »Angst«, die Konvention zu brechen, aber das ist doch nur eine Metapher. Sie meine ich nicht, sondern die sehr reale Furcht vor den Konsequenzen: das Gefühl, daß eine Äußerung der Feindseligkeit gegen jüdische Macht, dem Einzelnen, der sich ihrer schuldig macht, ganz bestimmte Übel bringen kann, und ein Schrecken, diese Übel könnten ihn befallen. Wie stark dieses Gefühl ist, wird jeder bezeugen können, der, wie ich, dieses hartnäckigste aller modernen politischen Laster erforscht hat; und ohne Zweifel wird der größere Teil meiner nichtjüdischen Leser an hierher gehörige Beispiele sich erinnern.

Es ist eine Angst vor zwei Konsequenzen, einer sozialen und einer wirtschaftlichen, und sogar vor beiden zusammen. Die Leute fürchten, die Befehdung der jüdischen Herrschaft könnte sie in die Klauen einer unbekannten, aber verdächtigen, die Welt umspannenden Macht bringen – einige sprechen auch von einer Verschwörung – die den Einzelnen vernichten kann, der so keck ist, mit ihr sich einzulassen. Manche gehen vielleicht so weit, bis zu dem Irrsinn, daß sie das Wort »vernichten« im buchstäblichen Sinne nehmen und für ihr Leben fürchten. Ein solcher Wahn ist lächerlich. Aber sehr viele leiden unter der nicht unverständigen Vorstellung, daß sie bei Provokationen eine intelligente kombinierte Aktion gegen sich haben werden, der sie nicht begegnen können, weil sie ihrerseits ohne Organisation sind; weil diese Aktion eine internationale ist; weil sie getragen wird von sehr lebendigen Gefühlen; weil sie mittelst der Finanz die politischen Triebwerke aller Nationen kontrolliert; weil sie eine allmächtige Presse hat – und so fort.

Sie fürchten, sagte ich, die sozialen Konsequenzen. Sie fürchten aber auch, und zwar mit mehr Sinn und Verstand, die wirtschaftlichen Konsequenzen. Sie würdigen (und übertreiben auch) die Gewalt des Juden über die Finanz. Sie stellen sich vor, daß sobald sie reden, sie niedergeworfen, ihre Unternehmungen ruiniert werden, ihr Kredit verlorengehe. Und das will etwas heißen, denn es wirkt auf die mächtigste Triebfeder des menschlichen Lebens ein. Sind die übernatürlichen Motive ausgeschaltet, so verbleibt als stärkstes nächst dem Hunger die Habsucht; aber hier ist auch nicht nur die Habsucht am Werke, sondern der ehrenwerte Wunsch nach Sicherheit. Es gibt heute zahllose Menschen, die, was sie privat über die Juden sagen, auch öffentlich sagen würden, verbärgen sie nicht ihre Gefühle aus Angst, sie könnten ihre Gehälter verlieren, oder ihre bescheidenen Unternehmungen könnten zugrunde gehen, ihr Anlagen gemindert, ihre Stellung ruiniert werden. Darüber steht eine kleinere Anzahl, die gleicherweise überzeugt ist, daß ihre großen Vermögen in Gefahr sein würden, wenn sie so handelten.

Dieses Gefühl ist doppelt charakteristisch. An erster Stelle, ähnlich wie im Falle der Konvention, aber in viel größerem Maßstab, vermehrt sie enorm die latente Kraft des Ärgers über die reale wie die imaginäre Macht der Juden. Es ist wie das Anschwellen einer Quelle, wenn ein Flußbett verstopft ist, oder wie die Einschaltung eines Widerstandes in einen elektrischen Strom. Die Unterdrückung des Grolles, wiewohl sie von denen selber ausgeht, die den Groll hegen, und nicht etwa unmittelbar von deren Gegnern, wirkt höchst aufreizend und erklärt den hohen Druck, unter dem, sobald er weggenommen wird, ein Angriff sich entlädt.

Ich spreche nur von Feindseligkeit und Angriff, weil diese am wenigsten rationalen Beispiele am ehesten die Kraft der Dinge verraten, um die es hier sich handelt. Aber auch die bloße Diskussion zeigt sie. Da ist kaum einer heutzutage, der nicht den Wunsch hätte, die gegenwärtige Lage, die gegenwärtige Macht, die gegenwärtigen Ansprüche Israels zu diskutieren, weil er das für ein dringliches politisches Problem hält. Aber auf einen, der diese Dinge offen besprechen wird, kommen zehn, die sich in verschiedenen Graden eine solche Redefreiheit versagen, aus Furcht vor den möglichen Folgen. Wie bei aller Panik ist auch hier etwas Lächerliches. Sie gestattet sich die absurdesten Illusionen; sie leidet unter grotesken Einbildungen und Wahnbildern. Bei einigen hat diese Angst vor der jüdischen Macht ganz klar die Linie überschritten, die den stabilen Geist scheidet von dem labilen, ja selbst den gesunden von dem kranken. Aber nichtsdestoweniger spielt sie eine gewaltige Rolle für unser Problem. Dieses Hindernis, mehr als das der Konvention, hat einen Charakter von Starrheit. Es funktioniert eine gewisse Zeit lang, dann bricht es zusammen und läßt die Fluten los.

Darum waren die ersten Äußerungen von Feindseligkeit in unserer Zeit so übertrieben und ohne jedes Verhältnis. Darum waren so viele von ihnen einfach wahnsinnig. Eben dieser Charakter der Übertreibung, gerade diese wilde Maßlosigkeit, flößten denjenigen, gegen die der Angriff gerichtet war, eine Verachtung ein, die nicht recht am Platze war. Die Vorläufer der gegenwärtigen Bewegung – ich meine der Feindseligkeit gegen Israel – waren nicht derart, daß sie die Achtung ihres Gegners hätten erwecken, oder selbst nur die Eigenen hätten mitreißen können. Ihnen fehlte der »gemeine« Menschenverstand, der die erste Qualität jeder Führerschaft ist. Denn die Macht des Führers setzt voraus, daß er eine Seele gemein hat mit den Geführten. Der Enthusiast kann dauernd führen, aber ein extravaganter Mensch niemals lange.

Ich sagte, daß deshalb diese ersten Angriffe verachtet wurden: sie wurden aber mit Unrecht verachtet von denen, die sie bedrohten.

Denn hinter all den Übertreibungen und der Wildheit lag eine gewaltige Reserve ganz anderer Geistesart; die Meinung von Leuten, die einen normalen Sinn hatten für Werte und Maße, die keine Gespenster sahen, in vollem Kontakt mit der Wirklichkeit waren; Leute, die wissen, daß sie bislang nur aus Angst geschwiegen haben, die sich deshalb selber verachten und nur um so bereiter sind, zu handeln. Denn das Gefühl der Angst degradiert nicht nur, sondern macht zornig: wenigstens in unserer Rasse. Der Europäer, der sich eingesteht, daß er einen Instinkt unterdrückt hat, nicht aus einem religiösen Motiv, oder einem allgemeinen Sinn für Recht, sondern aus Feigheit, ist immer über sich selber aufgebracht und wartet nur auf den Augenblick, wo er seine Rache an seiner eigenen Vergangenheit nehmen und sich in seinen eigenen Augen rein waschen kann.

Hierin liegt die Gefahr für Israel bei einem solchen Stande der Dinge. Aber darum handelt es sich hier nicht. Es handelt sich hier um die Wirkung auf uns. Solange wir uns selber degradieren, solange wir uns so durch unsere eigene Feigheit demütigen, solange wir uns von aller vernünftigen Diskussion drücken, geschweige denn von jeder Äußerung der Feindseligkeit, weil wir die Konsequenzen von Seiten unserer Gegner fürchten – solange wachsen an Intensität zwei schlimme Dinge: erstens, die Verschiebung der richtigen Lösung; zweitens die Verkehrung einer überlegten Politik in bloßen Haß mit all den Konsequenzen, die aus einer so üblen Erregung fließen.

Je länger wir die Überbleibsel dieser Schranke der freien Rede (glücklicherweise bröckelt sie bereits zusammen) bewahren, um so länger bewirken wir die beiden verhängnisvollen Resultate: die Gerechtigkeit zu verschieben und Feindschaft zu schaffen. Die Niederreißung dieser Schranke, die Austreibung der Angst aus uns ist wie immer in einem solchen Falle von Unmännlichkeit eine Sache der individuellen Anstrengung. Einer muß der Katze die Schelle umhängen, d. h. wenn jeder nur auf seinen Nachbar wartet, werden die Dinge nur immer schlimmer und schlimmer werden.

Jeder auf seinem Platze muß, bevor es zu spät ist, dem jüdischen Problem nahe kommen und es offen diskutieren: diese Diskussion einleiten durch ein aufrichtiges Interesse für alle die Dinge der Minderheit, die unmittelbar deren Beziehungen zu der Mehrheit berühren; und mit der jüdischen Nation verkehren genau so, wie mit jeder andern auch.

Es war ein beliebter Ausdruck bei denen, die für eine offene Kritik der Bibel plädierten, daß man an die Bibel herangehen müsse, wie an irgendein anderes Buch Ein Kandidat sagte einmal zu Dr. Jewett, dem Magister von Balliol: »Ich nehme mir die Evangelien vor und behandle sie wie ein gewöhnliches Buch.« Der Magister antwortete: »Fanden Sie nicht, daß sie ein recht ungewöhnliches Buch sind?« So, glaube ich, wird es auch mit Israel gehen. auch. Das Resultat stellt freilich für mein gegenwärtiges Argument keine guten Aussichten, und ich fürchte eher die Parallele; aber da der Ausspruch überall bekannt ist, will ich ihn als Muster verwenden. Es ist hohe Zeit, sage ich, damit Schluß zu machen, die jüdische Nation wie etwas Abgeschlossenes, Geheimnisvolles und Abgesondertes zu behandeln. Wir wollen sie behandeln »wie jede andere Nation auch«. Kein Wunder, wenn Leute, die nichts als blinder Haß beseelt, vor dessen Folgen einigermaßen zurückschrecken. Aber ich bin überzeugt, daß, wenn wir unsererseits diese absurde moderne Angst abschütteln, den Juden in seinem richtigen Verhältnis nehmen, die Übertreibungen in dieser Hinsicht fahren lassen – insbesondere die Vorstellung von einer unmenschlichen Fähigkeit, Komplotte von einer diabolischen Klugheit und Großartigkeit auszuführen –, uns die andere Seite entgegenkommen wird.

Die Juden sind nicht die einzige Macht, die international ist, noch die einzige internationale Macht, vor der die Leute Angst haben und darüber den Kopf verlieren. Sie sind nicht die einzige internationale Macht, die etwas wie eine Organisation und Zusammenhalt hat. Läßt man sein aktives Mißfallen an den Schotten oder den Iren laut werden, so muß man auf eine gewisse Dosis schottischer oder irischer Feindseligkeit gefaßt sein. Man wird auf etwas wie eine Organisation stoßen und dementsprechend Unannehmlichkeiten haben; aber hegt man die Vorstellung von einer gewaltigen unterirdischen Kraft, einer schottischen oder irischen, die einen bösartig verfolgt und fähig ist zu vernichten, dann, glaube ich, verläßt man den Boden der Wirklichkeit.

Wünscht man seinem aktiven Mißfallen an der katholischen Kirche Luft zu geben, dann wird man allerorten auf Opposition stoßen. Aber schließt man daraus, daß man nun in den Klauen eines Ungeheuers sei, dann verläßt man wiederum die Wirklichkeit.

So ist es sicherlich auch mit dieser Angst vor der jüdischen Macht, die den Geist so vieler Menschen befleckt, die richtige Diskussion des Problems hinausgeschoben und überall Unbehagen genährt hat. Handeln wir einfach so, wie wenn diese Furcht ebenso verächtlich wäre wie jede andere, und halten wir uns an eine offene Diskussion der ganzen Sache, ja wagen wir sogar eine Äußerung der Feindseligkeit, wo diese am Platze ist, dann werden wir besser daran sein. Jedenfalls ist es unsere Pflicht gegen uns selber wie gegen den Staat, bei diesem Geschäfte die Angst fahren zu lassen, denn ehe wir das nicht getan haben, kann kein Schritt zur Lösung gemacht werden.


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