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Das Hauptinteresse des zionistischen Experiments liegt in der Reaktion gegen die internationale Stellung des Juden – steht noch nicht zur Diskussion – was wird die Wirkung des Experiments auf die Juden außerhalb Palästinas, notwendig die überwiegende Mehrheit der Rasse, sein? – eine unvermeidliche Alternative – entweder die Juden verlieren ihre internationale Stellung durch Verlust der Fiktion, sie seien nicht eine Nation – oder das zionistische Experiment bricht zusammen – Wirkung besonders in Osteuropa.
Spezielle Wirkung des Experiments auf Großbritannien – Schwierigkeit, Opfer zu bringen für rein jüdische Interessen – die nun zusammenfallen mit britischen – Unpopularität solcher unvermeidlichen Opfer – schwerer Irrtum in der ersten Ernennung des Leiters des neuen Staates – Unwürdigkeit des für diese Stelle gewählten Politikers.
Die Frage des Zionismus ist von allen möglichen Standpunkten aus diskutiert worden, ausgenommen einen, und gerade er ist der einzige, der für die These dieses Buches in Betracht kommt.
Sie ist erörtert worden als eine rein jüdische Angelegenheit; es haben Debatten stattgefunden über ihr Recht und Unrecht unter den Juden selber, ob von Vorteil oder Nachteil für ihre Nation; Debatten unter den verschiedenen beteiligten nichtjüdischen Mächten über Vorteil oder Nachteil für sie; Debatten über Recht und Unrecht der einheimischen Bevölkerung, zwischen der die Juden eine Heimat finden sollten; Debatten darüber, ob diese Heimat in Palästina sein solle oder anderswo – und so weiter.
Alle diese Diskussionen umgehen den letzten Einwand. Einige von ihnen sind natürlich für die jüdische Gemeinschaft selber von evidenter Bedeutung, aber insoweit es sich um das wesentliche in diesem Buche diskutierte Thema handelt, gehen sie uns nichts an. Die einzige Frage, die vom Standpunkt unserer These aus zur Entscheidung steht, ist diese:
Ob das zionistische Experiment die Tendenz hat, die Spannung zu vermehren oder zu vermindern, die durch die Gegenwart des Juden inmitten einer nichtjüdischen Welt geschaffen wird.
Das und das allein ist unsere Bekümmerung, und von diesem Gesichtspunkt aus wollen wir die Theorie des Zionismus prüfen, die nun in einem praktischen Versuche emporgetaucht ist.
Zuerst wollen wir ihre notwendigen allgemeinen Implikationen erwägen: die Implikationen, die der Zionismus einschließt, einerlei, wo oder wie das Experiment ausprobiert wird.
Die zionistische Theorie ist, daß Israel Nutzen haben würde, wenn von seinen vielen Millionen (etliche 12 Millionen, wenn man auch die mitzählt, die an der Grenze sind, aber doch noch genügend jüdisch, um zur Nation gerechnet werden zu können) ein Kern – sagen wir ein Zehntel – eine feste territoriale »Stadt«, ein Land ihr eigen, eine Wohnstätte haben würde. Dieses Land, wo immer es ausgewählt werden mag, sollte möglichst ein rein jüdischer Staat sein: »so jüdisch,« hat einer der Wortführer gesagt, »wie England englisch ist.«
Nun nehmen wir einmal an, der gewählte Platz wäre (heute können wir sagen »wäre gewesen«) ein leeres oder fast unentwickeltes Land, und nehmen wir an, die Juden hätten gefunden, daß ihr eigenes Volk die Ausgaben, diesen Platz mit genügendem Kapital zu versehen, tragen und ihn in größerer Anzahl kolonisieren könnte. Nehmen wir an, ein kleiner Staat von einer oder anderthalb Millionen werde auf diese Weise gebildet, dem Charakter nach völlig jüdisch und im vollsten Sinne unabhängig. Auf der Stelle erhebt sich die Frage:
a) Würde den in der Welt zerstreuten Juden gestattet sein, sich als Bürger dieses Staates anzusehen?
b) Würden sie in jedem Falle als Bürger dieses Staates angesehen, ob sie wollten oder nicht, und eingetragen als solche mit oder ohne Zustimmung der eingetragenen Person?
Wenn nicht, was wäre der Status des Juden außerhalb dieser territorialen Einheit, die er zu viel mehr ausersehen hatte, als nur zu einem Symbol seiner nationalen Einheit – zu seinem aktuellen Sitz und Staate?
Das ist die Frage, der, soweit ich die Diskussion überwacht habe, jedermann ins Gesicht zu sehen zögert; jedoch ist das die Frage, der man früher oder später ins Gesicht sehen muß, als der hauptsächlichsten politischen crux der ganzen Sache.
Man beachte, daß es sich nicht darum dreht, einen Staat zu erstellen, in welchem die Gesamtheit oder auch nur der größte Teil des jüdischen Volkes wohnen soll. Niemand würde eine solche Idee lebhafter zurückweisen als die Hauptpioniere des Zionismus. Die große Masse der Juden würde sie natürlich verhöhnen als unausführbar, und sie ablehnen als höchst unerwünscht. Sie leben, und sie wünschen zu leben, so, daß sie ihre gegenwärtigen Interessen bei den Nationen, unter denen sie zerstreut sind, weiter verfolgen können. Sie leben und wünschen zu leben das halbe Nomadenleben, das internationale Leben, das das ihre geworden ist durch jede Tradition, und das man in ihnen fast einen Instinkt nennen möchte. Auch wünscht der größere Teil von ihnen, die Karriere einzuschlagen, die zu einem solchen Leben paßt, besonders die des Geschäftsmannes und des Vermittlers. Sie fühlen nicht nur den Vorteil einer solchen Stellung, sie fühlen auch ein Bedürfnis und einen Drang nach solchem Wirken.
Welche Form immer der Zionismus angenommen haben würde, bevor er mit seinem jetzigen Experiment ans Licht trat, was immer in der Vergangenheit über die Theorie gesagt wurde: dieser Punkt war immer ein kapitaler!
Die Juden als Nation würden bleiben, was sie waren, und unter allen Völkern sich bewegen. Das neue Zion sollte nichts weiter sein als ein sicherer Sammelpunkt, ein offizieller aber kleiner territorialer Nationalstaat, der nichts weiter zu tun hätte, als ihre Einheit zu proklamieren. Daraus folgt notwendig, daß die große Masse der Juden außerhalb der territorialen Niederlassung bleiben, und nachdem eine solche gebildet worden wäre, eine Definition ihres politischen Charakters erhalten müßte. Wie soll diese Definition lauten?
Ich denke mir, der Jude würde antworten: »Sie soll genau dieselbe sein, die sie heute ist, oder besser, die sie während der letzten Generation in den westlichen Nationen gewesen ist.« Das heißt, der Jude soll für den vollen Landsmann der Nation gelten, in der er gerade lebt. Keine Schranke soll ihn trennen von irgendeiner Stellung in dieser Nation. Er soll ganz genau im selben Lichte betrachtet werden wie alle anderen Bürger, und soll auch, umgekehrt, keine Privilegien erhalten. In Ländern z. B., wo die allgemeine Wehrpflicht eingeführt ist, soll er wie jeder andere auch eingezogen werden; wo ein Volk, in dem er gerade lebt, sich im Kriege befindet, soll er gezwungen werden, für dieses sein Leben zu wagen wie jeder andere Bürger auch. Hat er ein oder zwei Jahre vor dem Kriege im Lande des Feindes sich niedergelassen, dann soll er gleichfalls gezwungen sein, für den Feind gegen sein früheres Land zu kämpfen. Er soll in jedem Betracht, mit Hilfe einer legalen Fiktion, als identisch angesehen werden mit der Gemeinschaft, in der er für den Augenblick sich niedergelassen hat, aber zur selben Zeit soll er ein spezielles Verhältnis zu dem jüdischen Staate haben.
Er, und er allein, (sicherlich in der Praxis und juristisch, in gesetzlichen Entscheidungen) ist wählbar zur Zulassung in diesem Staate und zur Ausübung eines Amtes darin. Seine Meinung hat mitzuzählen bei der Führung dieses Staates, wo immer in der Welt er persönlich seinen Sitz hat. Er soll sich – das folgt unvermeidlich aus der Definition des neuen Staates – als persönlich verbündet mit ihm, wenn nicht als dessen Glied, betrachten. Er kann sich nicht lossagen von dessen Geschicken noch gleichgültig bleiben gegenüber dessen Erfolg oder Mißerfolg. Er muß in Wirklichkeit ihm treu sein. Er schuldet ihm in moralischem Sinne Gefolgschaft. Er wird zu ihm ungefähr im selben Verhältnis stehen wie Menschen irischer Abstammung in den Kolonien, in England und in den Vereinigten Staaten zu dem überlebenden und nun wachsenden Reste ihrer Nation, der sich an sein Vaterland geklammert hat. Aber im besonderen Falle des Juden wird diese Gefolgschaft nicht mit der Zeit nachlassen. Sie wird immer lebendig bleiben. Die Nation wird wie ihre einzelnen Komponenten von einem Lande zum anderen ziehen, eine Einheit bilden, Generation auf Generation mit der festen Politik, gegründet auf das Neue Zion. Das sicherlich ist das Ideal, wie ich es auf allen Seiten in der Unterhaltung und in Schriften von Juden ausgedrückt finde, die es unterstützen.
Wohlan, wird das Ideal in diesem Zustande belassen (und zugestandenermaßen ist es praktisch in diesem Zustande), dann wird es zu einem schwerwiegenden Schaden für die Juden führen und zu einer dauernderen Quelle des Übels für sie werden als jede andere Politik, die sie hätten unternehmen können. Es wird emphatisch hervorheben eben jenen Punkt der doppelten Untertanenpflicht, den zu schwächen ihr Ziel sein müßte, soll das jüdische Problem gelöst werden.
Die Existenz eines zionistischen Staates wird den Sondercharakter des Juden plastisch hervortreten lassen. Die jüdische Nation wird nicht länger mehr imstande sein, als eines ihrer Schutzmittel sich auf die Gleichgültigkeit oder die Unwissenheit zu verlassen, die noch weithin unter ihren Wirten verbreitet sind. Während viele dieser Wirte, bevor das Experiment versucht wurde, den Unterschied zwischen sich und ihnen vergessen konnten, viele noch keine Erfahrung davon und andere wieder ihn zwar bemerkt hatten, aber in ihrer Haltung gegenüber den Juden davon sich nicht berühren ließen, mußte, nachdem einmal das Experiment praktisch ausgeführt worden ist, notwendig ein Wandel eintreten.
Um ein konkretes Beispiel zu nehmen: Niemand konnte in seinem Zorne zu einem Juden sagen: »Ihr stört unsere Ruhe; ihr seid ein fremdes Element in unserer Gemeinschaft; ihr müßt weg.« War das seine wirkliche Meinung, dann verurteilte er im selben Augenblick sein Opfer zur allgemeinen Verbannung. Aber sobald ein neu errichteter Nationalstaat existiert, sobald da auf der Welt eine beträchtliche Anzahl – sagen wir anderthalb Millionen Juden – sind, die nicht die Landsleute irgendeiner andern Nation, sondern die Bürger einer jüdischen bestimmt lokalisierten Nation mit organisiertem Staate, dann bekommt der Hinweis auf Verbannung einen anderen Sinn. Der Gegner des Juden ist nun in der Lage zu sagen: »Geh du heim in dein eigenes Land«, und man kann ziemlich sicher sein, er wird das sagen, es sei denn, es gibt noch irgendeine andere Lösung als die legale Fiktion voller Bürgerschaft in dem einen Lande und moralischer Untertanenpflicht gegenüber einem andern.
Das Dasein eines neuen Zion wird für das jüdische Volk die gleiche Bedeutung haben, wie ein Rahmen für ein Bild. Es wird sie nicht allgemein umfassen, es wird nicht das ganze Feld jüdischer Aktivität decken. Es wird nur ein Bruchteil des Ganzen sein. Aber es wird unvermeidlich die Sonderung betonen und den individuellen und fremden Charakter des Ganzen. Es wird die Aufmerksamkeit lenken auf alle die Dinge, die das 19. Jahrhundert in seiner, wie ich sie genannt habe, »liberalen« Lösung sorgsam in den Hintergrund geschafft und zu vergessen gesucht hat. Es wird widerstreiten einer ehrlichen Lösung, die den vollständig verschiedenen Charakter der Juden anerkennen und doch sich weigern würde, sie deshalb einer unwürdigen Behandlung oder Leiden auszusetzen.
Noch mehr. Die mannigfachen Nationen, als Ganzes genommen – die Rumänen als Ganzes, die Polen als ein Ganzes, die Franzosen, die Italiener, die Engländer je als ein Ganzes –, nehmen jeweils gegenüber Israel sehr verschiedene Haltungen ein, und bei jedem variiert weiterhin die Haltung von Generation zu Generation; es gibt immer, in jedem Augenblick der Geschichte, unsere Zeit miteingeschlossen, eine gewisse Anzahl nationaler Einheiten, die in offener Feindschaft gegen die Juden stehen, deren Gegenwart unter uns bedauern, deren Tätigkeit beschränken, und vor allem entschlossen sind, sie von dem Reste ihrer Gemeinschaft wenn möglich durch eine klare gesetzliche Definition, in jedem Falle aber allgemein durch eine soziale Praxis zu trennen.
Nun ist kaum eine Möglichkeit, diese feindlichen Völker vom Gebrauche einer Waffe abzuhalten, die durch die Existenz eines neuen Zion mit den eben von mir definierten Folgerungen ihnen in die Hände gespielt wird. Es ist sogar heute schwierig genug für die Länder, wo jüdische Finanz die Politiker kontrolliert (und das sind immer noch die mächtigsten Länder), die antijüdische Stimmung in den kleineren Nationen zu sänftigen. Es geschieht nur durch genau ausgearbeitete Reglements, denen nur unvollständig gehorcht wird, und die bei diesen kleineren Nationen das Gefühl erwecken, daß sie ihnen durch fremde Einmischung in ihre häuslichen Rechte auferlegt worden sind. Der von den französischen, englischen und amerikanischen Regierungen übernommene Schutz der »nationalen Minderheiten«, wie man sie euphemistisch nennt und worunter natürlich überall die Juden gemeint sind, ist eine gefährliche Sache, und eine, die nur, auch so wie sie ist, höchst unvollkommen ausgeführt werden kann. Aber die einzige Grundlage dieser Aufgabe, das einzige Argument, das seine Gönner vorbringen, ist die Tatsache, daß die »nationale Minderheit« – d. h. die in einer feindlichen Gemeinschaft befindlichen Juden einer universellen Verbannung ausgesetzt wären.
Weist man sie aus, um sie los zu werden, so können sie nur in ein anderes Land gehen. Sie haben kein eigenes, wohin sie gehen könnten. Oder wiederum: wird der Jude in einem Lande härter behandelt als im Nachbarlande, so heißt das virtuell ihn zu einer Wanderung in dieses Nachbarland treiben, wogegen dieser Nachbar das Recht hat, sich zu wehren. Aber sobald einmal ein unabhängiger jüdischer Wohnsitz eingerichtet ist, fällt dieses Argument unter den Tisch. Dann ist es keine Antwort, diesen Nationen zu sagen, der neue jüdische Staat könne nicht die ganze jüdische Nation aufnehmen. Sie wird entgegnen, daß sie es nicht mit der ganzen jüdischen Nation zu tun habe, sondern nur mit ihrem eigenen Teile dieser Nation.
Ferner wird es natürlich immer im Interesse derer sein, die das jüdische Element in ihrer Mitte los zu sein wünschen, zu behaupten, der jüdische Staat könne noch mehr bevölkert werden, und es sei Kaum genug für noch mehr Bürger. Weiter können die Feinde der Juden in ihrer Mitte sagen: »Sehr wohl. Sintemal da kein Platz ist in eurem Staate für alle unsere Juden, wollen wir es auch nicht auf alle absehen; wir erlauben uns anzuregen, daß die und die Personen unsern Staat verlassen sollen, wo man sie nicht braucht, und in ihren eigenen gehen sollen.« Und sie würden die Juden herauslesen, deren Verbannung die jüdische Gemeinschaft in ihrer Mitte am meisten schwächen würde.
Bei dem gegenwärtigen Stande der Sache haben die Kabinette von Rom, Washington, London und Paris, die noch stark unter dem Einflusse jüdischer Finanz stehen, im Augenblick noch genügend militärische Kräfte hinter sich, um den widerstrebenden Nationen Osteuropas ihre Befehle aufzuerlegen und dort in gewissem Sinne einen künstlichen Schutz für die Juden zu schaffen. Selbst wenn dieser Schutz noch eine weitere Generation reichen sollte (was unwahrscheinlich ist), würde doch das Dasein des Zionismus, interpretiert in dem eben genannten Sinne, genügen, sein Werk zu unterminieren. Bei irgendeiner Veränderung der Situation, im Falle irgendeines Konfliktes zwischen diesen westlichen Mächten oder irgendeiner Veränderung in der Haltung einer oder mehrerer derselben gegenüber den Juden, würde der Zionismus, so interpretiert, der Ruin der Juden sein in Mittel- und in Osteuropa. Die Gefahr ist von so großer praktischer Bedeutung, daß sie zu allererst diskutiert werden müßte. Es ist nur unsere erworbene Gewohnheit der Unehrlichkeit und Verheimlichung gegenüber dem jüdischen Problem, die sie in den Hintergrund geschoben hat. Der Natur der Sache nach müßte sie in erster Front stehen, und es wäre weit besser, die Grundzüge einer Lösung aufgestellt zu haben, ehe sie dringlich wird.
Wie sollen diese Grundzüge aussehen?
Ihr allgemeiner Charakter ist klar genug.
Ob es von Vorteil ist oder nicht, einen rein jüdischen Staat zu haben (ich meine für Israel), das zu entscheiden, mag füglich den Juden selber überlassen bleiben. Aber eines ist gewiß: wenn sie sich für dessen Fortdauer entscheiden, dann müssen sie sich auch für irgendeine Form der Anerkennung entscheiden in bezug auf die rein jüdische Nationalität der Juden außerhalb dieses Staates.
So nur wird die Situation aufrichtig werden und darum unschädlich. Versuchen sie, unter den neuen Bedingungen die alte Fiktion aufrechtzuerhalten, daß ein Jude zur selben Zeit ein Jude und doch nicht ein Jude ist, daß er zur selben Zeit ein Jude und ein Engländer sein kann, oder ein Jude und ein Russe, oder ein Jude und ein Italiener, dann machen sie diesen Versuch unter ganz anderen Bedingungen als denen früherer Zeiten, und unter Bedingungen, wo die Unwahrheit in der Praxis zusammenbrechen wird.
Angenommen, man mache eine solche Anerkennung zum Teil zu einer freiwilligen und überlasse es den Juden, wo immer er sein mag, seine Nationalität als Jude zu beanspruchen oder nicht; wie er eben wollte, als Landsmann der jüdischen Nation in Zion angesehen zu werden, oder als ein Landsmann des Volkes, unter dem er für den Augenblick gerade lebte. Man mag sagen, daß bei diesem rein freiwilligen System (das, nehme ich an, gerechter sein würde) sehr wenige für Zion sich entscheiden würden. Die große Mehrheit würde die alte Fiktion vorziehen. Das ist sicherlich wahr vom Westen; aber wäre es denn auch wahr vom Osten? Würde es wahr sein vom Osten sowohl wie vom Westen im Augenblick einer Verfolgung? Ich glaube nicht. Selbst wenn es heute noch wahr wäre vom Osten, es würde sicherlich nicht mehr wahr sein, sobald in Zukunft dort ein Teil der Juden unter Belästigungen irgendwelcher Art zu leiden hätte.
Aber davon abgesehen: angenommen, nur eine kleine Minderheit beanspruche das jüdische Nationalitätsrecht, wie es in den Bedingungen des zionistischen Staates definiert ist, dann würde immer noch der Gegensatz bleiben zwischen denen, die sich solchermaßen öffentlich als Landsleute Zions proklamiert hatten, und denen, die sich dagegen sträubten. Mit anderen Worten, mangels einer allgemeinen Geltung der alten Fiktion (deren Zusammenbruch der Zionismus mehr als alles andere beschleunigen muß) muß infolge des Zionismus eine rasch wachsende Tendenz sich bemerkbar machen, die Juden in der ganzen Welt, ob nun außerhalb oder innerhalb des zionistischen Staates, wie ein Sondervolk zu behandeln. Und sie sind ein Sondervolk, sie können nicht anders. Mein ganzes Plädoyer geht ja dahin, daß diese Wahrheit anerkannt und nach ihr gehandelt werden sollte; denn wenn man von ihr sich drückt oder sie ableugnet, wird sie sich rächen. Die Wirklichkeit rächt sich immer an unwirklichen Illusionen.
In Verknüpfung mit dem Zionismus steht noch eine andere Erwägung, die auch von Wichtigkeit ist, wiewohl ganz anderer Art. Wird sich der neue jüdische Staat auf seine eigene militärische Kraft und seine eigene Polizei verlassen – wenngleich vielleicht (so viel das eben wert ist) durch internationale Vereinbarung garantiert – oder soll es ein Schutzstaat sein, der besetzt, verteidigt und polizeilich verwaltet wird durch die Kraft und die militärischen Eigenschaften einer ganz anderen Art von Menschen, nicht Juden – Engländern, Franzosen oder wer weiß welchen anderen?
Wie wir wissen, hat der bestimmte Versuch, der bestimmte Zionismus, der nunmehr in Palästina sein Experiment ausprobiert, für die zweite Lösung gestimmt. Den Schutz der Juden vor den Eingeborenen hat eine englische Garnison zu übernehmen. Für diese Lösung wurde gestimmt unter den denkbar ungünstigsten Umständen. Das gegenwärtige Experiment betrifft, wie wir gegen Ende des letzten Kapitels bemerkt haben, nicht einen unabhängigen nationalen, garantierten, in seiner eigenen Kraft ruhenden jüdischen Staat, sondern einen Schutzstaat; unter dem Schutze einer einzigen Nation: Großbritanniens. Das neue Zion stützt sich nicht zum Zwecke des inneren Friedens, seiner Organisation gegen überaus feindselige Kräfte, der Enteignung der örtlichen Landeigentümer, der Bewahrung des Friedens zwischen örtlichen ihm selbst höchst feindlich gesinnten Elementen, auf jüdische Soldaten und jüdischen Mut. Es stützt sich auf britische Soldaten, britische Organisationskunst und britische Opfer. Die dieses zionistische Experiment ins Werk gesetzt haben, haben ausgerechnet den allerübelsten Moment für eine solche Torheit ausgewählt.
Zugegeben, daß, wer immer der Beschützer sein soll, es ein freundschaftlicher sein muß, konnte doch eine schlimmere Lösung nicht erdacht werden. Die Unabhängigkeit einer kleinen Nation ist immer moralisch garantiert, und sei es auch nur durch das Gleichgewicht der größeren Nationen. Die Verletzung der Neutralität Belgiens hat nichts von einer Regel, im Gegenteil, sie war eine verwerfliche Ausnahme. Und eine Ausnahme wäre sie gewesen, auch wenn Preußen nicht selber eigenhändig den Garantiepakt unterschrieben hätte. Die kleineren Nationen, von denen die moderne Welt voll ist, werden, wir dürfen sicher sein, eine lange Lebensdauer haben. Die größeren Nationen beneiden, aber begrüßen deren Sicherheit und Glück. Man wird nicht dulden, daß sie verschwinden. Dasselbe, glaube ich, würde auch gelten für den jüdischen Nationalsitz, könnte er errichtet und ganz oder hauptsächlich mit Menschen jüdischer Nation, Religion und Kultur besiedelt werden, so daß er der Welt denselben Anblick bieten würde, wie heute z. B. Dänemark. Aber sich zur Errichtung auf die überlegene Macht, auf die militärischen und finanziellen Opfer eines anderen und gänzlich verschiedenen Volkes zu stützen, ist eine Herausforderung und eine Keckheit. Das heißt den Bau einer Pyramide mit ihrer Spitze beginnen. Es ist ein Experiment mit dem labilsten aller labilen Gleichgewichte.
Die Sache wird natürlich überall vom Standpunkt Großbritanniens aus diskutiert und nirgends lebhafter als unter denen, die die Polizeifunktionen und den bewaffneten Schutz auszuführen haben. Aber wir haben es hier nicht zu tun mit den schlimmen Wirkungen einer solchen Situation auf Großbritannien – Wirkungen so schlimm, daß das Experiment rein als britisches Protektorat notwendig zusammenbrechen muß –, sondern eher mit der Wirkung, die sie auf die Juden selber haben muß. Keine große Nation wird ihre auswärtige Politik aufgeben, wird sich eine gefährlich schwache Stelle schaffen lassen, nur um den Juden zu Gefallen zu sein. Früher oder später ist eine solche Nation gezwungen zu sagen: » Wir können nicht unsere Interessen den eueren opfern. Macht eure Sachen selber.« Und das ist der Punkt, wo die Gefahr dieses Systems, eines Protektorats, für die Juden liegt.
Bestände ein Grund zu der Annahme einer natürlichen Allianz zwischen der britischen Armee und den Juden, könnten wir uns britische Offiziere und Mannschaften vorstellen, die sich ein Vergnügen daraus machten, den Araber hinauszuwerfen und dem Juden den Weg zu bereiten, dann läge die Sache anders. Läge in der Natur der Dinge ein Element, das diese Allianz dauernd und stetig machen könnte, wären die Juden ein fragloser Teil des britischen Gemeinwesens, wie z. B. die Schotten oder die Walliser, dann könnte ein dauerndes Arrangement wohl möglich sein. Aber sie sind nichts Derartiges. Die Lage ist völlig unnatürlich. Sie kann nicht dauern. Und wenn sie mit britischer Hilfe nicht haltbar ist, mit welcher andern soll sie es sein? Wie soll ein Übergang von einem britischen in ein anderes Protektorat vor sich gehen? Oder wie soll angesichts des heftigen Hasses, den der bloße Anfang des Experimentes schon erregt hat, der Konflikt, den das Protektorat notwendig hervorruft, vermieden werden?
Bislang ist das Mißfallen an der Lage, wiewohl recht weitreichend und in England bereits sehr tief, noch passiver Natur. Kein englischer Soldat ist bis jetzt getötet worden; es ist bis jetzt kaum nötig gewesen, den Araber zurückzuhalten und Feindschaft zu stiften, aber dieses, wenige schon ist den betreffenden Truppen sehr widerlich gewesen. Und die Dinge können nicht in diesem Zustande verbleiben. Der Konflikt ist unvermeidlich. Und wenn er kommt, werden die Gefühle, die bis jetzt passiver Natur waren, aktiv werden. Die Leute werden nicht dulden, daß sie ihre Söhne und ihre Brüder verlieren in einem Kampfe, der sie nichts angeht, und der unmöglich den britischen Staat stärken kann; der im Gegenteil ihn schwächen muß; der zweifelhaft ist und ephemer, und der geführt werden wird gegen die, bei denen die natürliche Sympathie Englands liegt, und zugunsten jener, mit denen den Durchschnittssoldaten und Bürger – ungleich dem professionellen Politiker – keine Sympathie verbindet.
Die Sache ist ganz einfach die:
Ist ein zionistisches Experiment notwendig oder ratsam, dann werde es in einer Form gemacht, daß es sich auf eine jüdische Polizei und eine jüdische Armee allein stützt. Es soll nicht bauen auf ein auswärtiges Protektorat, das nicht lange dauern wird, das eine Schwäche ist für die führende Macht, und das eine schiefe Stellung schafft.
Wird entgegnet, daß die Juden nicht imstande seien, eine solche Armee oder eine solche Polizei zu stellen, daß sie unvermeidlich besiegt und unterdrückt werden würden von der feindlichen und kriegerischen Mehrheit, unter der sie sich befinden würden, dann mögen sie das Experiment eben anderswo machen. Aber es ist sicher, daß die gegenwärtige Form des neuen Protektorates die allergefährlichste ist, die überhaupt hätte ausgesucht werden können, soweit die Juden selber in Frage kommen. Hier verlasse ich mich auf die nächste Zukunft, die mir recht geben wird.
Eine höchst schmerzliche Seite der Sache, an die wir alle denken, lasse ich vorsätzlich unberührt – ich meine die Wirkung des Experiments, eine jüdische Kontrolle über die heiligen Orte errichten zu wollen, auf die christlichen und mohammedanischen Gefühle in der ganzen Welt. Ich sehe davon ab, weil sie die Gemüter in heftiger und universeller Weise erregt, und weil ich, wie der Leser aus meinem Vorwort weiß, mich fest entschlossen habe, solche Dinge nicht in diesen Essay aufzunehmen. Im übrigen ist es aus Anlaß dieses gefährlichsten aller Resultate des Zionismus bis jetzt noch nicht zum offenen Kampfe gekommen. Wir müssen das Vertrauen haben, daß eine Lösung bereit ist, ehe es zu spät ist, aber sie wird nicht gefunden werden, wenn wir Dinge zur Diskussion stellen, über die keine Einigung möglich ist und derentwegen nun die leidenschaftlichsten Gefühle geweckt worden sind.
Dennoch, wiewohl ich mich einer Diskussion dieses Punktes enthalte, möchte ich die jüdischen Leser dieses meines Buches bitten,« ihn im Auge zu behalten. Wenn sie glauben, die religiösen Gefühlserregungen seien in der modernen Welt ausgestorben, oder auch mir, sie würden schwächer, dann können sie einmal schreckliche Enttäuschungen erleben.
Ich will hier auch nicht – anderswo habe ich es kräftig genug getan – die seltsame Wahl kommentieren, die die Juden für ihren ersten Herrscher über die Araber und Christen in Palästina getroffen haben. Ich möchte nur das eine sagen, daß der Wunsch, die weniger würdigen Exemplare seiner Nation zu decken, ein natürlicher und sogar lobenswerter Akt sein kann. Ja, man kann sogar einen gewissen Stolz dareinsetzen, daß man imstande ist, sie vor Draußenstehenden zu decken. Aber ihnen eine zu große Auszeichnung geben, ist ein Mißgriff, und es ist einfach kläglich, daß aus der ganzen Judenwelt – aus Unmengen von Juden, die hervorragend sind in der Verwaltung und in politischer Weisheit, bekannt für ihr aufrechtes Gebahren und ihre makellose Karriere – die jüdischen Ratgeber des Herrn Balfour (wer sie auch sein mögen) ausgerechnet auf den Urheber des Marconi-Vertrages und den Wortführer bei der berüchtigten Erklärung im Unterhaus, daß kein Politiker Marconianteile angerührt habe, verfallen mußten.