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Dieses Kapitel eine Abschweifung zu den verschiedenen Theorien über die jüdische Rasse und deren Geschicke, die in der Geschichte hervorgetreten sind, und von denen einige noch lebendig sind.
Die Theorie, daß Versöhnung unmöglich ist – ihre Verbindung mit der Idee eines speziellen Fluches oder Segens. – Die Theorie einer geheimnisvoll notwendigen Allianz zwischen Israel und Großbritannien – ihre extravagantesten Formen. – Die Theorie, daß die Juden das notwendige Ferment Europas sind, ohne das unsere Energien verkommen – Notiz über die intellektuelle Unabhängigkeit der Juden und dessen[???deren?*] ursprüngliche Wirkung auf unser Denken – Forderung einer jüdischen Geschichte Europas und des Islam zusammen. – Die Theorie, daß das jüdische Problem nur ein häusliches ist und uns nichts angeht – ihr Irrtum, sintemal die Beziehungen gegenseitige sind. – Die beiden Theorien des Juden als bösartigen Feindes der unschuldigen Unsrigen und unserer bösartigen Feindschaft gegen den unschuldigen und gemarterten Juden – beide irrig – die Theorie, daß das jüdische Problem nun sich selbst löst durch Aufsaugung – diese Theorie falsch und Folge eines Mißverständnisses der Geschichte und einer Vernachlässigung der akuten modernen und frischen Differentiation – Fords Epigramm über den »Schmelztiegel« – Phantastische Theorie, daß kein jüdischer Nationaltypus existiert.
Ehe ich zum Schlusse komme, ist es vielleicht gut, gewisse Hilfstheorien zu betrachten, die ich bislang in meiner Diskussion nicht berührt habe, weil sie abseits meiner Beweisführung stehen.
Es gibt eine ganze Reihe historischer und anderer Theorien über die Stellung der Juden, die entweder implizieren, daß ein Problem überhaupt nicht besteht, oder wenn schon, daß es nicht zu lösen ist, oder sogar auch, daß es sich um ein Problem handelt, das einer Lösung überhaupt nicht bedarf, weil eine solche doch keinen praktischen Wert hätte.
An erster Stelle stehen jene Theorien, die ohne Umschweife irrationaler Natur sind, angefangen mit denen, die noch mit einem Schein von Vernunft auf Grund der Vergangenheit und der Geschichte verfochten werden können, bis zu solchen, die völlig phantastisch sind. Keine von ihnen, auch die nicht, die wahr sein sollten, können hier viel Raum wegnehmen, weil keine zur Diskussion sich eignet.
So gibt es die Vorstellung von einem Fluche, die Vorstellung, daß Israel, bis zu seiner Bekehrung zu dauernder Pilgerschaft und zu dauernder Feindschaft verurteilt ist. Es ist eine Behauptung, die in Zusammenhang steht mit jener anderen populären Prophezeiung, daß in den letzten Zeiten Israel mit der Universalkirche wieder ausgesöhnt sein wird. Die, welche solche Ideen als Hintergedanken haben (und sie sind zahlreicher als das moderne Denken das zugeben mag) verzweifeln in ihrem Herzen an jeder Möglichkeit einer Lösung und machen keine Versuche, auf eine zu dringen, da ihnen jede Hoffnung auf Erfolg abgeht. Sie sagen: »Das sind Dinge, die verhängt sind, sie müssen weiter gehen.« Aber selbst sie, meine ich, müssen zugeben, daß genau wie die Philosophie das Paradox von der Notwendigkeit des Geschehens und der Freiheit des Willens kennt, so die Politik eines von vorhergesehenen Fehlschlägen und unserer Pflicht, trotz alledem, nach einem politischen Gut zu streben.
Ob es freilich wahr ist oder nicht, daß eine Versöhnung unmöglich ist und daß der Streit endlos sich hinschleppen muß – ganz gewiß ist es tief unsittlich, sich das Schauspiel anzusehen, ohne einen Versuch zu machen, die schlimme Lage zu verbessern.
Es gibt ferner die Theorie (die ich nur im Vorbeigehen erwähne, um sie ihren Anhängern zu überlassen), daß die Briten und Juden auf irgendeine geheimnisvolle Weise durch die Vorsehung verknüpft worden sind, so daß jede Lösung, die Israel nicht vollste Genugtuung gibt (mag das dem Japhet kosten, soviel es will), einem Verrate gleichkommt. Diese mystischen Leute halten England für die Magd der Judenschaft, und es gibt unter ihnen auch eine Abteilung, die ihre Landsleute für die zehn verlorenen Stämme halten. In meiner Bibliothek habe ich einige Muster ihrer Literatur.
Es gibt eine entgegengesetzte, für meine Begriffe abscheuliche Theorie (die ich aber erwähnen muß, weil sie existiert), nämlich, daß der bislang fortwährend bestandene Antagonismus, ob in latentem oder in aktivem Zustand, zwischen diesem Volke und dessen Umwelt seinen Grund habe in der Verwendung des einen als notwendigen und göttlich bestellten Bedrückers des anderen. Denen, die eine solche Theorie halten, kann ich nur erwidern, daß zu diesem Spiele ja zwei gehören, und sie befreit sicherlich die, welche sie bedrücken möchten, von absolut jeder Verpflichtung, ihrerseits nach einer Lösung zu suchen. Wenn einer glaubt, er könne Israel im Übermut weh tun, ohne die Vorwürfe seines eigenen Gewissens fürchten zu müssen, so ist er im Irrtum; und ich gestehe, daß, hätte ich die Freiheit (die ich in einem der Diskussion und der Beweisführung dienenden Buche nicht habe), mich bloßen Behauptungen hingeben zu dürfen, ich geneigt wäre zu sagen, daß, wer mit diesem merkwürdigen Ziel im Auge losgeht, an den Unrechten kommen wird.
Die gegenteilige Theorie ist, daß ein spezieller göttlicher Schutz der Juden besteht, nicht nur zum Zwecke ihrer Erhaltung, sondern auch in der Form eines Gerichts über ihre Feinde. Diese Theorie, glaube ich, liegt mancher jüdischen Aktion in der Vergangenheit zugrunde und auch einem großen Teile ihrer heutigen Politik. Nicht rational und von Haus aus religiös, ist sie, stelle ich mir vor, für recht viele aus diesem Volke, das so viel gelitten hat, ein Trost und eine Stütze gewesen.
Nun lasse ich alle diese nichtrationalen Theorien (wobei ich das Wort ohne üblen Nebensinn verwende: die nichtrationale – was man oft ungenau die mystische nennt – Haltung gegenüber einem Problem kann sehr wohl praktischere Bedeutung haben als der Versuch, ihm rational beizukommen) beiseite als ungeeignet zu rationaler Diskussion.
Ich habe ferner von beiden Teilen den Satz aufstellen gehört, daß die Anwesenheit einer fremden Kraft von Wandercharakter, intensiv lebendig, voller Tradition, Erfahrungen und Zusammenhang wesentlich war, um zu der Höhe und Lebendigkeit unserer eigenen Kultur zu gelangen.
Diese begnügen sich nicht damit, einzelne Beispiele jüdischer Verdienste zu entdecken oder den Ruhm des einzelnen jüdischen Genius zu verkünden. Sie haben es eher mit dem allgemeinen Satze zu tun, daß irgendein solcher Zustrom nötig ist, um eine hohe und reiche Kultur ins Leben zu rufen. Sie sagen uns, daß ohne den Juden die Kultur Europas erstarrt wäre, zur festen Schablone geworden wäre, unfähig der Wandlung und des schöpferischen Fortschritts. Nach dieser Theorie gilt der Jude als eine Art belebenden Prinzips, das, ob nun als Erreger zum Schlimmsten oder als Inspirator zum Besten, unser ganzes europäisches Leben im Schwünge hält und nötig ist zu dessen kontinuierlichem Gange. Sie neigen auch dazu, im Ursprung einer jeden großen Bewegung des europäischen Denkens den Juden zu sehen. Sie sehen ihn mittelbar die gewaltige Umwandlung vollziehen des Römischen Reiches aus einer heidnischen nicht freilich in eine jüdische, sondern eine christliche, das heißt aber (in ihren Augen) in eine orientalische Gestalt. Sie sehen den Juden an der Wurzel der großen revolutionären Philosophie, die im 11. Jahrhundert beginnt und ihren Höhepunkt in den großen Scholastikern des 13. erreicht. Sie berufen sich auf die Namen des Averroes (Ibn Roshd), des Philosophen des 12. Jahrhunderts, des Kadi von Cordova: des Erklärers des Aristoteles, des Auslegers – den die Juden bewahrten: auf den großen Moses ben Maimon, unsern Maimonides. Sie lassen auch die Reformation beginnen mit Nicolas de Lyra: »Si Lyra non lyrasset, Luther non saltasset.« Aber ich darf sie daran erinnern, daß das Judentum dieses Mannes mindestens zweifelhaft ist, und daß er zu den religiösen Orden des Christentums gehörte.
Sie werden auch sicherlich und mit einigem Grunde die große wirtschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts, die eine so große Ausbreitung des Wohlstandes und der Bevölkerung, wiewohl schwerlich des menschlichen Glückes, im Gefolge hatte, jüdischem Einflusse zuschreiben.
Nun ist sicherlich all das nicht ohne Stütze von Seiten der Geschichte. Ob es aber, wie die Verfechter dieser Theorie haben wollen, für alles einsteht auf dem Gebiete unserer Geschichte, müßte untersucht werden, indessen möchte ich doch meine Leser zu erwägen bitten, welche Wandlung in der Entwicklung Europas wir wohl erlebt hätten, wenn durch irgendein Wunder in einem gegebenen Augenblick der jüdische Einfluß ausgeschaltet worden wäre. E6 ist eine faszinierende Theorie, in gewisser Weise, treffend und fesselnd. Sie ist jedenfalls nicht widersinnig.
Im besonderen ist es richtig, daß die unaufhörliche Übung der Analyse durch den jüdischen Intellekt den europäischen fortwährend zur Aktion treibt. – Die großen Disputationen des frühen Mittelalters waren großenteils entweder unmittelbar solche mit Juden oder doch solche, die durch die intellektuelle Haltung der Juden hervorgerufen wurden, und der Jude, in dem ruhmreichen Namen Spinozas, steht am Beginn jener rein naturalistischen, jener Lukretianischen Weltanschauung, die über Descartes bis zu ihrer großen Ausbreitung in diesen Tagen gewachsen ist. Man findet dieses Element in der Wirtschaft ebenso wie in der Philosophie, in den politischen, sozialen, nationalökonomischen Wissenschaften; und da wir von Nationalökonomie reden, wollen wir nicht vergessen, daß der größte Name unter den Gründern der modernen Nationalökonomie der Name eines Juden ist, Ricardo, während der hervorragendste Name bei der hervorragendsten unmittelbaren Anwendung ihrer auch ein jüdischer ist – der Name des Karl Marx.
Es ist wohl der Beachtung wert, daß jeder dieser Namen uns neben ihrem jüdischen Ursprung auch an ein Sichfernhalten von der allgemeinen Gemeinschaft der Juden erinnert. Diese Gemeinschaft, das darf man wohl sagen, gab Spinoza auf; Ricardo und, soviel ich weiß, Karl Marx waren der nationalen Religion entfremdet, und der letztere heiratete nicht aus seinem Volke und übte einen enormen Einfluß außerhalb seines ererbten Blutes aus. Denn wiewohl es wahr ist, daß die Leitung, der Stab des Kommunismus jüdisch ist, so gehören doch seine überzeugten Anhänger in der Masse unserem Blute an.
Und in dieser Verbindung werde ich an eine andere Theorie oder Tatsache in bezug auf die Geschichte Israels erinnert, nämlich daß die intellektuelle Unabhängigkeit des Juden alle Zeiten hindurch ebenso ausgeprägt war wie seine Solidarität. Ich weiß, viele aus diesem Volke betrachten solche Ausnahmen als seltsame Launen und verurteilen sie nahezu als Verräter; indessen zählen sie sehr viel mit zu dem Rufe ihres Volkes, und ihre Namen, mögen sie auch noch so sehr von ihren eigenen Volksgenossen zurückgewiesen werden, werfen Glanz auf die Gesamtheit, aus der sie entsprangen. In ihnen einbeschlossen sind (vergessen wir das nicht!) nicht bloß die »skeptischen« Philosophen, nicht bloß die Materialisten, sondern auch jene außerordentlichen Ausnahmen, die die lebendige Kraft, die Hartnäckigkeit und den Glanz des jüdischen Intellekts in den Dienst der katholischen Kirche gestellt haben. Ich wage es zu sagen, daß in keinem aus dem Glauben mehr Hingebung gewesen ist als in denen, die gleich Ratisbonne (und er war nur einer unter vielen) so hohe Qualitäten in den Dienst dessen gestellt haben, was sie als das allein Göttliche entdeckt hatten. Ein Zyniker könnte noch St. Paulus hinzufügen, aber was das anlangt, so war der ganze Ursprung der Kirche mit den intensiven individuellen Anstrengungen solcher Männer verbunden.
Auch in dieser Verbindung wird jeder kluge Mann zugeben, daß es keinen größeren Irrtum geben kann, als sich zu große Vorstellungen von der Bewußtheit jüdischer Aktion zu machen, ob nun der Irrtum von denen kommt, die sie bewundern, oder von denen, die sie verabscheuen. Wenn man ihre modernen Gegner hört, könnte man meinen, das jüdische Volk bilde einen kleinen Klub, dessen einzelnes Mitglied jedes andere kenne, während zugleich ein jedes im Einklang mit dem andern als Glied einer straff disziplinierten Gruppe arbeite. Mit dieser Verirrung habe ich es auf mehr als einer Seite dieses Buches zu tun gehabt. Die Wahrheit ist, daß keine Nation der Welt so viele überraschende Ausnahmen zu ihrer Regel bietet wie eben diese, und daß keine Nation der Welt, wenn sie sich, was oft geschieht, in einer bestimmten allgemeinen Richtung bewegt, sich dabei eines gemeinsamen Motives weniger bewußt ist, als eben diese. Wir, die außerhalb der jüdischen Gesamtheit stehen, können ihren Zusammenhalt bemerken und werden ihn, hoffe ich, zu ihrer Ehre bemerken; aber ihre eigenen Mitglieder klagen eher über ihren Mangel an Zusammenhalt. Ich habe sie klagen gehört – ich weiß nicht wie oft – über die Art, in der der reichere Jude ihre Gesellschaft verlasse für eine fremde, die Allgemeinheit Israels verhöhne und gleichgültig bleibe gegenüber dem gemeinsamen Notschrei der Rasse. Es ist diese Unbewußtheit im Handeln, dieser häufige Ersatz des Motivs durch den Instinkt, die die Erklärung abgeben für Dinge, die alle Beobachter, besonders in Zeiten der Verfolgung, bemerkt haben; ich meine, die Verblüffung der Bedrückten durch die Aktion ihrer Bedrücker.
Ich erinnere mich, einmal während einer Debatte eine höchst schwungvolle Rede gehört zu haben, in der ein Israelit mit dem seiner Nation eigentümlichen weit zurückreichenden Gedächtnis leidenschaftlich die Dankbarkeit seines Volkes gegen den heiligen Bernhard kundgab, der ihre Überbleibsel am Rheine vor der Volkswut rettete. Ich erinnere mich auch, wie ein anderer bei einer Debatte (denn ich habe vielen solchen Debatten auf und ab im Lande beigewohnt und mich von so vielen Seiten wie möglich über die jüdische Haltung uns gegenüber unterrichten lassen) in Antwort auf meine Darlegung der jüdischen finanziellen Stellung in diesem Lande nach der Eroberung einfach erklärte: »Euere Kathedralen und euere Abteien, ja selbst euere Schlösser sind mit unserem Gelde gebaut worden.« Der Satz war bezeichnend für die Art, wie das heutige Judentum eine Sache auffaßt, die die Engländer jener Zeit für die Duldung eines Mißbrauches ansahen, sie hielten jene großen Vermögen überhaupt nicht für jüdischen Besitz, sondern für Gelder, die zeitweise im großen aus dem Volke ungerecht gepreßt wurden; die Juden von heute aber halten sie für rechtmäßig erworbenes volles Eigentum.
In dieser Verbindung hätte ich den Wunsch, ein gelehrter Jude möchte einmal vom Standpunkt seines Volkes aus eine Geschichte Europas schreiben: ich meine ein kurzes Textbuch für unseren Bedarf; um uns uns selbst vorzuführen in einem uns fremden Lichte. Vielleicht existiert schon so ein Buch. Ich bin sicher, daß es mehr Dienste leisten würde, als jene indirekten Angriffe (denn es sind Angriffe) auf die christliche Tradition, die vorgeben, in einem Geiste der Unparteilichkeit geschrieben zu sein, nichtsdestoweniger aber in jeder Zeile Feindschaft gegen unsere Tradition verraten. Ich würde viel lieber eine Geschichte Europas lesen, wie sie ein praktizierender jüdischer Gelehrter sieht, als eine sogenannte unparteiische und agnostische Darstellung, die in grotesker Art die Kirche als etwas der Gesamtheit Europas Äußerliches und sogar Feindseliges vorführt.
Ferner sollten wir in dieser Verbindung haben (was wir heute vermissen) eine Zusammenschau über die jüdische Tätigkeit im Christentum und im Islam zugleich. Wir gewahren wohl die Toleranz oder besser die Gunst, die die Mohammedaner in Spanien ihren jüdischen Untertanen zukommen ließen. Das war aber weder allgemein noch dauernd der Fall. Worüber wir aber nicht genügend unterrichtet sind, was wir uns aus zufälligen Bemerkungen zusammenstückeln müssen, ist die Verbindung zwischen den maurischen Juden vor und während der Reconquista und deren Brüdern im Norden.
Bevor ich diese stückweisen und beiläufigen Bemerkungen über die »Theorien« zu unserem Problem verlasse, sollte ich doch noch eine erwähnen, die, wie es den Anschein hat, unglücklicherweise heute weithin Unterstützung gefunden hat, und die sicherlich die unbefriedigendste von allen ist – sogar noch unbefriedigender als die jetzt schwindende Fiktion, daß eine jüdische Nation in unserer Mitte überhaupt nicht existiere, sondern nur aus einer Masse von einzelnen Individuen bestehe, die bereits durch ihre fremden Umgebungen aufgesaugt worden seien. Ich meine die Theorie, daß es möglich sei, in einer Art von unruhiger Atmosphäre teilweiser Unterdrückung weiterzumachen, indem man den Juden als Fremdling und Feind behandelt, indessen doch seine Gegenwart unaufhörlich duldet. Das scheint mir die fehlerhafte Schlußfolgerung zu sein, die impliziert, wenn nicht ausgesprochen wird in Hunderten moderner Pamphlete und Diskussionen, deren Autoren den Namen Antisemiten von sich weisen, wiewohl sie anscheinend mit einer sogar noch weniger logischen Aktion sympathisieren, als die Politik der Antisemiten. Ein solches Gleichgewicht ist unmöglich, selbst wenn seine Errichtung so sittlich wäre, wie sie tatsächlich unsittlich ist. Wird eine freimütige Lösung nicht gefunden, so kann nichts Festes und Dauerhaftes getan werden. Alles, was wir tun werden, wird einem heftigen Schwanken ausgesetzt sein. Es ist unmöglich, gegen seinen Nachbarn eine andauernd feindselige Haltung zu wahren und doch darauf zu rechnen, daß diese Feindseligkeit andauernd sich unterdrücken lasse. Man wird unvermeidlich, diese schiefe Ebene hinabgleitend, in jene Exzesse fallen, die zu verdammen, vorauszusehen und zu verhüten eben unser aller Ziel sein sollte.
Man kann nicht, wie so viele moderne Menschen, nach ihren Reden zu urteilen, zu wünschen scheinen, damit fortfahren, daß man den Juden auf der einen Seite politisch gleichstellt, auf der andern ihn im Geiste lebendiger Feindseligkeit betrachtet. Man kann keinen Frieden bekommen, wenn man den Status einer Minderheit, der wir notwendig Nachbarn sind, bloß juristisch definiert, sich aber weigert, den sozialen Verkehr dieser Definition entsprechend zu gestalten. Versucht man das, dann will man zwei Dinge tun, die einander ausschließen. Und niemand kann im Zweifel sein, welches stärker sein wird bei einem Konflikt: ein lebendig empfundenes Motiv oder eine bloße Definition des Staatsrechts.
Eine Haltung der Frage gegenüber, die ich ziemlich oft aus dem Munde von Juden gehört und in ihren Schriften gelesen habe, läßt sich ungefähr so fassen: »Unsere Angelegenheiten gehen Leute außerhalb unserer Nation nichts an. Die Diskussion des »Jüdischen Problems«, wie ihr es nennt, ist eine Impertinenz von euch. Es gibt freilich ein jüdisches Problem, aber es ist ein rein inneres, und wir ersuchen euch (etwas gereizt), euch um eure eigenen Sachen zu kümmern.«
Wäre diese Haltung richtig, dann würde das Suchen nach einer Lösung, wie ich sie verstehe, wenngleich es den Intellekt befriedigen könnte, ein Einbruch in die staatsbürgerliche Moral sein; in gleicher Weise, wie wenn ich etwa eine Schlichtung des Streites zwischen Herrn Jones und dessen Schwiegermutter ausarbeitete, die beide ich nicht kennte und zu denen ich in gar keiner Beziehung stände, und dann beiden streitenden Parteien mein Ergebnis aufzwänge. Aber das Haar in dieser Haltung ist, daß das Problem eines ist, das wesentlich zwei Parteien bedingt, die Juden und die Nichtjuden. Das Problem, das wir zu lösen versuchen, läßt sich nur ausdrücken in Sätzen beider Parteien. Manche würden sogar sagen, daß es schwerlich eine innere Frage der jüdischen Nation gibt, die nicht auf die Gesellschaft außerhalb ihrer einwirkt, und die zu erforschen nicht auch das Geschäft dieser Gesellschaft wäre. Das würde freilich etwas zu weit führen. Aber das Hauptproblem geht eben doch aufs innigste beide Parteien an, die eine ebensosehr wie die andere. Freilich ist es richtig, daß die Folgen einer falschen Lösung oder eines völligen Sichdrückens um eine Lösung für den Juden schwerer wären als für uns; aber wir würden doch beide leiden, und auch auf unserer Seite würde das Leiden drückend sein.
Auch wenn es sich nicht um Leiden im gewöhnlichen Sinne des Wortes handelte, würde doch immer noch die Frage der Gerechtigkeit bleiben. Die Juden, die eine Aufstellung des Problems und einen Versuch, es zu lösen, übelnehmen, tun damit ihrem eigenen Volke keinen Gefallen und streiten uns gleichzeitig das Recht ab, unsere eigenen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, was natürlich unerträglich ist: denn die Stellung der Juden innerhalb unserer großen Staaten und der islamitischen Gesellschaft ist etwas, das diese zu bestimmen haben. Sie können das nicht in der Luft lassen. Sie müssen zu einem Resultat kommen, und zwar bald; von der Art dieses Resultats hängt ihr Friede ab.
Zwei recht verschiedenen Geisteszuständen entspringende Theorien, eine das Gegenteil der andern, beide aber jede Möglichkeit einer Lösung ausschließend, gehen aus von der zugrunde liegenden Idee, daß die Beziehungen zwischen dem Juden und seiner Umgebung etwas unerbittlich Bösartiges an sich hätten. Die eine Form dieser Theorie ist, zu behaupten, daß der unglückliche Jude ohne Unterschied von seinen bösen Wirten mißhandelt wird und immer mißhandelt werden wird. Die andere Form sagt, daß der böse Jude immerzu ein Verschwörer ist und seine guten, freundlichen Wirte zu schädigen versucht und immer ein Verschwörer bleiben wird. In beiden Fällen hat es keinen Sinn, nach einer Lösung zu suchen, da feststeht, daß der Streit im Wesen der Sache liegt. Die Leute sagen einem: »Warum soll man versuchen, etwas zu ändern, was doch nicht geändert werden kann? Warum das Material als etwas anderes darstellen, als was es ist? Die Katzen werden sich immer mit den Hunden balgen, und wenn man einen Streit vermeiden will, bleibt nichts übrig, als Katzen und Hunde im Hause getrennt zu halten.«
Eben weil ich beide Formen dieser Theorie für unrichtig halte, habe ich nach einer Lösung gesucht. Ich halte sie beide für falsch, weil der Augenschein gegen sie spricht. Dieser Augenschein steht mir zur Verfügung, ich kann ihn ohne Hilfe prüfen, und so auch jede andere Person unserer modernen Gesellschaft. Ich kann mich nicht an einen einzigen Fall unter all den Hunderten von Juden erinnern, denen ich begegnet bin – nicht einen unter den zwanzig, die ich zu Freunden zähle –, bei dem ich irgendein Anzeichen eines solchen bösartigen Hasses bemerkt hätte. Ich habe viele Ausbrüche von Erbitterung erlebt, die, wenn wir an die Vergangenheit denken, erklärlich genug sind; aber von einem dauernden und bösen Wunsche, die zu schädigen, unter denen sie leben, von einem instinktiven Wunsche, ohne Verbindung mit vergangenen Leiden, und der eben als eine Art von Instinkt wirkte, habe ich keine Spur gesehen. Würde man ausnahmsweise bei einem Juden in einem großen Bekanntenkreise Spuren davon entdecken, so würde ich daraus schließen, daß es von einer kleinen Minderheit wahr sein könnte, aber gewöhnlicher Menschenverstand und gewöhnliche Erfahrung genügen, um zu zeigen, daß es für die große Masse nicht gilt.
Zu den Ursachen der Reibung, sogar scharfer Reibung, die ich auf vorhergegangenen Seiten aufgezählt habe, gehören die Gewohnheit der Verheimlichung, die gegenseitige Verachtung, entstehend in einem jeden aus einem Gefühle der Überlegenheit über den andern; der Streit um Nationales und Internationales, zwischen dem Unserigen und dem Fremden. Kurz, da ist eine Menge von Elementen, die zufällige Gegnerschaft bedeuten können, aber für innerliche Gegnerschaft gibt es keinen Beweis – es gibt keinen Beweis, meine ich, daß die Juden noch eine Gesellschaft zu vernichten wünschten, in der sie sich wohlbefänden.
Und wenn wir uns prüfen, werden wir gleicherweise der Überzeugung sein, daß auch auf unserer Seite kein entsprechender Wunsch ist, den Juden unrecht zu tun. Auch wir sind erbittert bei dem Gedanken an erlittene Beleidigungen in Augenblicken des Streites, an internationale Aktionen gegen unsere nationalen Interessen und an die Reibungen zwischen Einheimischen und Fremden; aber das ist etwas ganz anderes als dauernde und notwendige Gegnerschaft. Ich weiß sehr wohl, daß, was man »modernes Denken« nennt, dem unbewußten Teile des Menschen einen weiten Spielraum gibt und das Feld der Vernunft so stark wie möglich einengt. Ich kann dem nicht zustimmen. Mir scheint es, daß der Mensch wesentlich rational ist; und seine politischen Beziehungen können in Übereinstimmung mit seiner bewußten Moral und seiner bewußten Logik gebracht werden.
Können sie es nicht, dann hört jedenfalls alle Staatskunst auf und auch alle politische Tätigkeit, sogar in Kleinigkeiten.
Demnächst kommen die zwei umgekehrten Haltungen gegenüber der Frage, von denen sicherlich die eine eine wachsende Zahl von Anhängern auf unserer Seite hat, die andere vielleicht eine interessierte, wiewohl geheime Anhängerschaft auf der anderen, ich meine jene zwei entsprechenden Haltungen, wonach auf der einen Seite die messianische Idee des Juden besteht, daß er schließlich die Herrschaft über die Welt haben werde, auf der andern Seite äußerste Angst vor dieser Idee, und die Meinung, daß sie aktiv verfolgt werde mit dem Zwecke der Zerstörung unserer Institutionen und unserer Religion.
Ich kann wohl verstehen, daß mit den Traditionen seiner Nation hinter sich und mit dem Klange ihrer heiligen Schriften in den Ohren ein Jude in hohem Maße eine solche Vorstellung hegen kann, oder jedenfalls, daß einige Juden sie liegen können. Und sicherlich war es natürlich, daß angesichts der lächerlich übertriebenen Macht der Juden in neueren Zeiten (sie ist jetzt im Abnehmen, denn Geheimnistuerei gehört zu ihrem Wesen, und sie ist jetzt auf das Feld offener Diskussion übergeführt worden) die Leute in eine übertriebene Angst fielen. Sie sahen, wie die Juden, ein dünner Bruchteil fast aller Gemeinschaften, nicht mehr als der zwanzigste Teil einer jeden, eine Macht ausübten, die in gar keinem Verhältnis stand zu ihrer Zahl oder auch zu ihren Fähigkeiten; und sie sahen, wie diese Macht sich auf Ziele richtete, die jüdisch waren und darum feindlich oder gleichgültig gegenüber dem Rest der Menschheit. Aber der Grund, warum ich nicht nur Übertreibungen dieser Idee verwerfe, sondern auch deren fundamentale Folgerungen, ist, daß sie mir praktisch unmöglich erscheint. Sie setzt Fähigkeiten voraus auf jüdischer Seite und einen kontinuierlichen Willen, die beide offensichtlich nicht da sind. Und man hat nur auf die Geschichte zu blicken, um zu sehen, daß, lange bevor es zu einem eigentlichen Kampfe um die Suprematie kommt, der Jude es ist, der am meisten unter dem Verdachte, einen solchen Plan zu verfolgen, leidet, nicht wir. Und das ist ja eben eines der wichtigsten Elemente der gefährlichen Lage, die heute geschaffen worden ist.
Es ist viel wahrscheinlicher, daß die stark wachsende Gruppe von Leuten, die die jüdische Herrschaft so sehr fürchten und unter dem Einfluß dieser Angst so heftig gegen die Juden reagieren, mit Ungerechtigkeit und Gewalt gegen die Juden enden wird, als mit Unterwerfung. Aus solcher Atmosphäre heraus sind in der Vergangenheit die großen Mißgeschicke erstanden. Es ist wesentlich für jede Lösung, daß diese Stimmung auf der einen wie auf der anderen Seite ausgetrieben werde.
Es gibt eine andere Theorie, die ich in mehr als einer gelehrten jüdischen Abhandlung gelesen habe, und die (nachdem jüdische Autoren sie selbst vom Stapel gelassen hatten) von vielen nicht jüdischen Gesellschaften und Historikern wiederholt worden ist; sie besagt, daß an dem Überleben der Juden, an ihrer Existenz als einer Sondergemeinschaft, Bedingungen schuld waren, die, der Vergangenheit gemeinsam, jetzt verschwunden sind, und daß deshalb die gegenwärtigen Schwierigkeiten ruhig der Zeit überlassen werden können.
Das heißt natürlich nichts anderes als die allgemeine Behauptung aufstellen, daß die jüdische Rasse aufgesaugt werden kann, und daß die Lösung eben in der Aufsaugung besteht. Diese Schlußfolgerung habe ich in einem früheren Teile dieses Buches summarisch zurückgewiesen aus dem historischen Grunde, daß sie unter den für einen Erfolg günstigsten Umständen doch immer fehlgeschlagen ist. Aber in dem besonderen angeführten Falle bedient diese Theorie sich einer eigenen Beweisführung, die eine spezielle Untersuchung erfordert; es handelt sich darum: –
Die Verteidiger dieser Theorie sagen uns, daß, wie günstig immer in der Vergangenheit die Gelegenheiten zur Aufsaugung waren, sie doch nichts bedeuten gegen die in der Gegenwart und in der Zukunft, und daß deshalb das Argument der Geschichte versagt. In der Vergangenheit seien die Juden exklusiv gewesen und hätten sogar aus ihrer Exklusivität eine Religion gemacht. Sie ihrerseits hätten sich sowenig wie möglich mit der umgebenden Welt vermischt, und wir unsererseits hätten diesen Ausschluß aufrechterhalten durch eine gleichstarke Betonung des Unterschiedes zwischen ihnen und uns. Wir hätten zu jener Zeit, wird behauptet, eine Religion gehabt, die auf der Lehre von der Inkarnation beruhte und dem Juden verhaßt war; diese Religion sei tot oder im Sterben, und mit ihr sei die Tendenz zum Ausschluß von außen verschwunden; während auch auf jüdischer Seite die alten religiösen Bande eine große Lockerung erführen, am wenigsten immer noch das alte messianische Dogma, und auf beiden Seiten der ungeheure Schmelztiegel Ich entlehne dieses Bild Herrn Zangwill, der es speziell auf New York anwendete. Ich wende es auf die gesamte moderne industrielle Welt an. für eine Aufsaugung mit einer in der Vergangenheit völlig unbekannten Intensität und Schnelligkeit sorge. Es war etwas anderes, den Juden aufzusaugen, wenn ein gewöhnlicher Reisender von London nach Rom einen Monat lang brauchte, als wenn er nur drei Tage braucht. Es war etwas ganz anderes, den Juden aufzusaugen, wenn in der Mehrzahl der Fälle eine Schranke die Vermischung der Rassen unmöglich machte, eine Schranke errichtet durch die Kraft der Religion, als heute, wo diese gewaltigen das Gemüt erregenden Kräfte verschwunden sind – und so fort.
Die Gründe nun, welche mich diese Theorie ablehnen lassen, sind doppelt. Zunächst, meine ich, übertreibt sie den Gegensatz zwischen Vergangenheit und Zukunft, zweitens sehe ich, daß in der wirklichen Welt vor meinen Augen und genau unter den Umständen, wo eine Fusion, wo die Wirkung des »Schmelztiegels« am vollständigsten sein müßte, gerade im Gegenteil die allerheftigste Reaktion gegen eine Aufsaugung beobachtet werden kann.
Was den Gegensatz zwischen der Vergangenheit und der Zukunft anlangt, so glaube ich, daß er auf einer unvollkommenen Erfassung dessen, was unsere Vergangenheit gewesen ist, beruht. Schuld daran ist unsere falsche Perspektive zur Geschichte, von der ich in anderer Verbindung im zweiten Kapitel gesprochen habe.
Die lange Geschichte unserer Rasse zwischen der römischen Okkupation Judäas und der modernen lokalen und ephemeren Industriephase der großen modernen Städte läßt sich nicht in die zwei Kapitel einteilen: die seltsame Vergangenheit und die verständliche Gegenwart. Sie bleibt sich ungefähr immer gleich. Die beständigen Fortschritte, die uns heute in den Naturwissenschaften z. B. in Erstaunen setzen, sind nicht bemerkenswerter, als die gewaltigen neuen Entwicklungen der Architektur und Philosophie, welche das Kennzeichen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts waren. Die Verwirrung des Denkens, die wir »moderne Skepsis« heißen können, ist bei weitem keine so wichtige Wandlung des geistigen Lebens, wie jene ungeheure Revolution, die wir die Bekehrung des Römischen Reiches nennen. Das Feld des Skeptizismus ist heute nicht ausgedehnter, als es in manchen einzelnen Perioden der Vergangenheit war. Die Gefühle starker religiöser Erregung, die diese oder jene Handlung verbieten, sind noch da unter uns, zuweilen verknüpft mit ihren früheren Gegenständen, zuweilen (wie in der Verrücktheit der Prohibition) mit irgendeinem neuen. Die Gleichgültigkeit, die man gegenüber der besonderen religiösen Schranke zwischen Jude und Nichtjude finden kann, ist keine Eigentümlichkeit unserer Zeit. Sie kam und ging auch in der Vergangenheit; nach einer Welle solcher Gleichgültigkeit hatte man wieder eine der heftigsten Reaktion erlebt, und ich glaube, man kann gerade heute eine solche Welle der Reaktion beobachten.
Ich sehe auch nicht ein, wie die Schnelligkeit bloßer materieller Verbindungsmittel die Sache berührt, noch selbst der Umfang der Wanderungen. Gewiß, man kann eine Million Juden aus Litauen nach Newyork – eine Entfernung von 5000 Meilen – in kürzerer Zeit bringen, als man vor Jahrhunderten eine Million Juden vom Rheinland nach Polen schaffen konnte – aber die Million Juden scheinen genau dieselben Juden unter modernen Bedingungen zu verbleiben, wie sie es in der Vergangenheit taten. Freilich, die Duldung der Juden, die freundliche Aufnahme derselben und darum die Gelegenheiten, sie aufzusaugen, waren im mittelalterlichen Polen unvergleichlich größer, als sie es im modernen Amerika sind. Mir scheint, daß dieser ganze Teil des Arguments ein Ergebnis der vorherrschenden Geschichtsauffassung ist und der Lektüre unserer kleinen modernen Lehrbücher: und unsere kleinen modernen Lehrbücher sind ein rechter Schund. Es ist eine Auffassung, an der die absurde Betonung alles Zeitgenössischen schuld ist. Man meint, die modernen Fortschritte der Naturwissenschaften hätten die Welt sowohl außen wie innen total verändert. Wir haben aber nur einen Blick auf die moderne Welt zu werfen und sie zu vergleichen mit irgendwelchen zwei auseinanderliegenden speziellen Perioden, die wir kennen, um zu entdecken, daß der Unterschied zwischen je zwei von diesen dreien gleicherweise auffallend ist. In mancher Hinsicht gleicht die moderne Welt mehr der Welt der Antonine als der Welt Innozenz des Großen. In mancher Hinsicht gleicht die Welt Innozenz des Großen mehr dem Römischen Reiche als der modernen Welt. In mancher Hinsicht haben die Welt Innozenz des Großen und unsere mehr Gemeinsames als jede von ihnen mit dem heidnischen Römischen Reiche. Die daraus folgende Lektion lautet also, daß unsere Zeit mit all ihren bemerkenswerten Eigentümlichkeiten nur ein Muster ist aus einer großen Anzahl gleicherweise individueller heraus, und sicherlich ist in ihr nichts, weder an alte religiöse Schranken niederreißendem Skeptizismus, noch an Schnelligkeit der Verbindungen, noch an irgendeinem anderen fundamentalen Faktor, das speziell die Aufsaugung der Juden andeuten würde.
So vermischten sich z. B. die Juden mit den Mohammedanern zu bestimmten Zeiten der islamitischen Okkupation Spaniens sehr viel bereitwilliger, sehr viel gleichmäßiger und mit weit weniger Reibung, als es sogar in England heute geschieht. Indessen wurden sie dort sowenig aufgesaugt wie in Polen. Sie wurden auch nicht aufgesaugt von jener älteren, toleranten, recht entnationalisierten heidnischen römischen Welt, wo sie so oft die vollen bürgerlichen Rechte genossen, und wo sie sogar, wie heutzutage, die Finanzen des Staates leiteten.
Was den Verfall der Exklusivität auf ihrer Seite anlangt, so sehe ich davon kein Anzeichen. Denn diese Exklusivität entspringt nicht so sehr einer Beobachtung starrer Regeln, die zu Zeiten gelockert, zu andern wieder angespannt werden können, wie vielmehr einer unveränderlichen nationalen Tradition, die wohl an Intensität schwankt, aber niemals so tief sinkt, daß sie die Kontinuität des Volkes in Gefahr bringen könnte.
Wenden wir uns von der Argumentation zurück zur Beobachtung, dann springt uns die Falschheit der Theorie in die Augen. Wir haben nur auf einen Punkt zu blicken, wo der Vergleich mit dem »Schmelztiegel« am besten paßt (und auf den er ursprünglich auch gemünzt war): die Stadt Newyork. Was war die Wirkung dieses großen Zustromes von Juden nach Newyork, der die Stadt vor unsern Augen und in so kurzer Zeit zu einem Drittel jüdisch machte? Wie wir alle wissen, ist die Wirkung gewesen, daß in einer einstmals so gleichgültigen Atmosphäre eine solche Erbitterung gegen die Juden erwuchs, daß wir, sähen wir das in der Alten Welt mit an, entsetzt wären. Sie geht bis zur Gluthitze. Es ist eine scharfe Reaktion, die sich täglich immer maßloser ausdrückt; und die Gesinnung dieser Reaktion kann nicht besser ausgedrückt werden, als in einem Satze, den wir, glaube ich, Herrn Ford und seiner berühmten Propaganda gegen die Juden verdanken, in seiner Zeitung »Dearborn Independent«! »Das ist alles ganz gut mit dem Schmelztiegel,« sagt er, »aber es fehlt so weit, daß die Juden in diesem Tiegel schmelzen, daß es vielmehr aussieht, als wollten sie den Tiegel selber schmelzen.«
Da haben wir also in Newyork, wenn irgendwo, eine Gelegenheit, wo die Theorie der Aufsaugung sich bewähren kann. Da gibt es an die zwanzig verschiedene Rassen, einschließlich großer Massen einer von der unseren so äußerst verschiedenen, wie der Neger. Es gibt eine gewisse kleine Zahl von Chinesen, und von europäischen Stämmen eine unbeschränkte Auswahl – die meisten von ihnen eine große Anzahl. Man hatte nicht nur in lokalen Niederlassungen, oder auch nur in der Staatstheorie, sondern in wirklicher Praxis – in schwärmerischer Praxis – eine vollständige Gleichheit und einen positiven Stolz bei der Aufnahme von was immer für Elementen aus der Einwanderung, weil man die Gewißheit hatte, daß alle sehr rasch in die amerikanische Form sich einfügen. Die meisten dieser Elemente wurden auch aufgesaugt, und sehr rasch; wo es nicht geschah, war doch wenigstens Friede zwischen ihnen. Dann kommt der Jude, und auf der Stelle haben wir eine vollkommen neue Situation. Es gibt Herausforderung, Ärgernis, offene Ausschließung, heftige Debatte und sogar Tumult: aber kein Zeichen von Aufsaugung. Trotz der Anwesenheit all der Elemente, die die Aufsaugung bewirken sollten, wachsen in Newyork die Streitigkeiten und der Haß zwischen Jude und Nichtjude mit der Üppigkeit eines Tropengewächses.
Es gibt noch eine andere Theorie, die, wäre sie nicht so weit verbreitet und würde sie nicht von so vielen Juden selber vorgebracht, ich als etwas Komisches beiseite lassen würde, als etwas, das für eine ernsthafte Diskussion nicht in Betracht kommt. Aber da sie nun einmal vorgebracht worden ist, muß ihr begegnet werden. Es ist nicht mehr und nicht weniger als die Theorie, daß es solche Menschen wie Juden überhaupt nicht gebe, daß die ganze Sache nichts als eine Illusion sei.
Diese ungeheuerliche Behauptung gründet sich, das brauche ich kaum zu sagen, auf eine sogenannte »wissenschaftliche« Untersuchung der Sache; denn dieses Wort »wissenschaftlich« ist allmählich mit jeder Art von Unvernunft Verbindungen eingegangen. Männer, besonders jüdische Männer haben sich gefunden, die höchst feierlich behaupten, daß sie Schädel gemessen, Haare gespalten, die Farbe der Augen katalogisiert, die Gesichtswinkel tabellarisch geordnet, das Blut analysiert und ich weiß nicht was sonst noch für Kunststücke gemacht hätten, mit dem Resultat, daß kein jüdischer Typus entdeckt werden konnte! Leute, die so räsonieren können, scheinen den Grundstreit zwischen Nominalismus und Realismus nicht zu kennen, noch von dem alten philosophischen Scherz über die Definition von »ein Ding« etwas gehört zu haben.
Wir wissen, daß ein Pferd ein Pferd ist, ein Apfel ein Apfel, ein Chinese ein Chinese oder ein Jude ein Jude, auf Grund eines Erkenntnisprozesses, über den die Philosophen debattieren können, aber an dessen Wirksamkeit kein gesunder Mensch zweifelt und auf dessen richtiges Resultat wir alle unser Leben gründen. Ein Chemiker mag mir sagen, daß die chemische Analyse eines Stückes Kohle dasselbe Resultat ergebe wie die eines Diamanten, worauf jeder einigermaßen denkfähige Mensch erwidern wird, daß in bezug auf eine sehr große Anzahl anderer Möglichkeiten der Analyse wie Farbe, Tastgefühl, Verbrennbarkeit, Härte und Weiche, wirtschaftlicher Wert, Vorkommen (und so immer weiter) die beiden eben nicht dasselbe sind. Keine Analyse ist vollständig, und wenn wir eine bewußte Analyse überhaupt nicht angestellt hätten, könnten wir doch noch auf der Stelle wahrnehmen, daß ein Stück Kohle nicht ein Diamant ist.
Es verhält sich genau so mit diesen pseudowissenschaftlichen Versuchen, offensichtliche Wahrheit zu widerlegen. Sie schießen auf und sind alle miteinander gleicherweise lächerlich, weil sie ihre Schlußfolgerungen aus ungenügenden Data ziehen. Die Existenz und die Unterschiedlichkeit des jüdischen Volkes, ethnisch als Rasse und politisch als Nation, ist eine ebensolche Tatsache wie die Existenz von Kohlen oder von Diamanten. Sie sind politisch eine Nation, weil sie als Nation handeln, weil ihre einzelnen Glieder das Gefühl einer korporativen Funktion haben und eine solche ausüben. Wir wissen, daß sie eine Sonderrasse sind, weil wir das sehen können. Begegnet einer einem Juden, ob Freund oder Feind, so begegnet er eben einem Juden. Er hat einen gewissen Ausdruck, gewisse Manieren, gewisse physische Merkmale, die im Augenblick, da man ihn sieht, zu analysieren man nicht imstande sein mag, die einem aber den Eindruck und die Gewißheit geben, daß man es mit etwas Besonderem zu tun hat, nämlich mit der jüdischen Rasse. Natürlich ist es wahr, daß der Typus, wie alle allgemeinen Typen, an den Rändern verschwimmt, und es wird immer Fälle geben, wo einer im Zweifel sein kann, ob er es mit einem Juden zu tun hat oder mit einem Nichtjuden, aber es gibt einen ausgesprochenen Haupttypus, nach dem der jüdische Einzeltypus sich richtet. Das ist so sicher, wie es einen mongolischen oder einen Negertypus und andere mehr gibt.
Ich nehme den Einwand nicht sehr ernst. Ich merke ihn nur an, weil er einmal gemacht worden ist, und im Laufe irgendeiner Diskussion über diese schwere politische Streitfrage plötzlich wieder auftauchen kann.