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III. Die Legende einer Kosmopolitin

Den Neo-Katholiken

Einige Orte, berühmt in der Geschichte der menschlichen Sensibilität, tragen unsere Seelen über uns selbst hinaus und teilen uns die Fieber mit, die sie einmal erfüllen werden. So der Strand von Helsingör, wo der trübe Hamlet über den Tod seines Vaters und seine persönlichen Kümmernisse wehklagte; so die zu engen Zimmer in Auxonne, Dôle und Seurres, in denen der junge Napoleon in deklamatorischen Schriftstücken sein Genie versuchte, das uns einen Byron gegeben hätte, wären die Throne nicht vakant gewesen. Eben das sind Kurorte der Ideologie, die gerade so mächtig auf die Imagination wirken, wie dieser oder jener Brunnenkurort auf bestimmte körperliche Beschaffenheiten, und die katholischen Wallfahrtsorte zeigen auf wunderbare Weise, daß diese Methode der intellektuellen Exaltation alle Bedingungen in sich vereinigt, um die Neugier und die Verehrung in Leidenschaften zu verwandeln.

Jede Generation aber wählt sich ihre Lieblingsandachtsorte, und gerade in dieser Wahl treten die Variationen der Sensibilität zutage. Welcher von unserer jüngsten Generation dächte daran, in der Avenue d'Eylau vor dem verschlossenen Hause, in dem ein weithintönender Ruhm erlosch, eine innere Erregung zu fühlen? Unsere jungen Alten, wie Catulle Mendès oder auch Camille Pelletan, müssen uns ob dieser Kälte bedauern und werden selbst unsere Ehrlichkeit bezweifeln, wenn ich hinzufüge, daß wir, gleichgültig gegen die letzte Wohnstätte Victor Hugos, vor einem gewissen kleinen Hause des Quartier Monceau ergriffen sind. Sicher bewahrt uns das Gefühl des Maßes davor, unseren Geschmack ihrem Kultus gegenüberzustellen, aber wir sind einmal Andächtige, die viel eher in einer Kapelle sich verzögern als in der Kathedralkirche. Nummer 61 rue de Prony lebte ein paar Jahre und starb Fräulein Marie Bashkirtseff, ganz dazu geschaffen, das Tausend jener degutierten Intelligenzen zu begeistern, deren gleichzeitig anziehender und abstoßender Ton seit ein paar Jahren die Aufmerksamkeit der Kritik fesselt. Am bezeichnendsten für sie ist es vielleicht, daß sie, wenn auch durch jede Uneleganz verletzt, doch mehr auf das Ethische aus sind als auf das ästhetische; sie lieben, mit einem Worte, das innere Leben der Wesen mehr als deren pittoreske Außenseite. Die Monographie, die jenes junge Mädchen hinterließ und die man unter dem Titel »Tagebuch von Marie Bashkirtseff« veröffentlicht hat, befriedigte diese jungen Leute mehr als irgendeine Arbeit unserer Berufsschriftsteller.

 

Ich will nicht die Biographie von Fräulein Marie Bashkirtseff referieren, die eben deshalb so bekannt ist, weil der Kultus ihrer Getreuen von den Details dieses Lebens lebt. Trotz der Erfolge dieses jungen Mädchens als Malerin, trotz ihres grausamen Todes mit sechsundzwanzig Jahren, selbst trotz ihrer schriftstellerischen Gaben, begeistert sie die Generation ausschließlich nur durch ihre besondere Sensibilität, mit der sie die geringsten Umstände ihres Lebens vivifizierte. Kein Leben bietet eine instruktivere Fülle jener Züge von Klarsicht und moralischem Ungestüm, wie sie bei den Intellektuellen von heute so sehr in Mode sind. Von einem jungen Mädchen, dazu von einem jungen Mädchen, das der brutale und raffinierte Nimbus Rußlands zierte, mußte ein solcher Seelenstand auf die jungen Leute einen ganz besonderen Zauber ausüben, und in Wirklichkeit flößt er ihnen ein Gefühl ein, das der Liebe nachbarlich ist, ohne die es keine fruchtbringende Meditation gibt.

Zweifellos haben zwanzig andere die Art, das Leben zu fassen wie Marie Bashkirtseff, affichiert. Aber besaßen sie die geistige Schmiegsamkeit, die Unmittelbarkeit und belebende Triebkraft dieses auserwählten Kindes? Auf keiner Falte ihres Gewandes finde ich den Bücherstaub, der die Lebendigsten unserer Zeitgenossen entstellt. Und uns über den Sinn unserer eigenen Gefühle Klarheit zu geben, das ist die Kraft einer echten Schönheit, daß ich nirgend anderswo besser an die Formel der Seelen von Morgen kam als in der rue de Prony. Ich ging dahin denselben kurzen Weg, den das junge Mädchen selber damals so oft machte, als sie in der rue Legendre den sterbenden Bastien Lepage besuchte, in einem Hause, in dem ich durch einen Zufall, der mich rührt, nach dem guten Maler zu wohnen kam, den sie wie einen Bruder liebte. Die untröstliche Mutter derjenigen, die wir hier in Erinnerung bringen, erzählte mir, wie Bastien Lepage, als er die traurige Nachricht vernahm, seine Tränen in die Kissen verbarg, auf denen er selbst nur noch drei Monate den Tod erwarten sollte. Fräulein Bashkirtseff wurde ein Opfer der furchtbaren Miasmen, die über Paris verstreut kreisen; auf ihrem Schreibtische sah ich Kant und Fichte, deren Logik für sie der Tod unterbrach, an begeisternden Stellen aufgeschlagen. Ihre Bücher, ihre Bilder, einige kleine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, und ihr Bildnis in allen Altersstufen machen aus diesem kleinen Hause ein rührendes Heiligtum, in dem die mütterliche Pietät fortfährt, wie sie es mit der jungen Lebenden tat, der eleganten und unerschöpflichen Seele zu dienen, die dahinging.

Das Haus in der rue de Prony, die Villa mit dem reichen Rosenflor in Nizza, die sie so liebte, und das Grabmal auf dem Friedhofe von Passy, das kommt Madame Bashkirtseff zu erhalten zu, wir aber, der und der, sind aus dem geistigen Geschlechte dieses rührenden jungen Mädchens, und bewahren sie in unserer Phantasie und, wenn es gestattet ist, nahe unserem Herzen. Nun aber, nach sechs Jahren and nachdem sie im Tode hinlänglich sich entrückt hat, ist es da nicht am Platze, daß wir, um diese ungewöhnliche Erscheinung der Vollendung entgegenzuführen und ihren ganzen symbolischen Wert zu zeigen, ihr eine Legende schaffen?

1. Unsere liebe Frau vom Schlafwagen

Und, um es gleich zu sagen, können wir zugeben, daß das kleine Haus in der rue de Prony der passende Rahmen für die unruhigste aller Kosmopolitinnen ist? Wenn sie uns um ihrer inneren Glut, ihrer Ekel und ihrer Einsichten willen teuer ist, sieht sie da unser Träumen inmitten ihrer Gemälde oder selbst in unserer Stadt Paris?

Keineswegs. In ihr eine Malerin oder eine Pariserin sehen, das heißt sie befremdlich verkleinern. Zweifelsohne bekunden die Bilder, die Madame Bashkirtseff den Angeboten so vieler Fremder, besonders Amerikaner, die sich für das junge Mädchen begeisterten, verweigert hat, einen starken Sinn für die Natur und eine große Güte. Übrigens bestätigt man es bei jeder Zeile ihres Tagebuches, daß ihr Scharfblick für die Unzulänglichkeiten der Natur bei ihr das Mitleid nicht ausschloß; ihre Empfänglichkeit der Delikaten verhinderte sie niemals, das Unsterbliche in den unbedeutendsten Bruchstücken des Universums zu erkennen. Sie besaß die köstliche Gabe, von dem sanften Lichte sich durchdringen zu lassen, das im Blicke des Hundes liegt, der seinen gütigen Herrn fragend anschaut. Aber gerade darum lächeln wir darüber, daß sie, dem Talente Wichtigkeit beilegte, sie, die das Wesentlichste, das so selten ist, besaß: ein nachsichtiges Verstehen. Und wenn sie darum zu schätzen ist, daß sie nicht auf alle diese Leute im Atelier Julian, wo sie malen lernte, herabsah, wenn es wahr ist, daß sie sich damit verkleinerte und uns ungeduldig machen würde, wenn sie diesen Leuten die Gefühle gezeigt hätte, die sie aus unzulänglichen Gründen bei kulturlosen Berühmtheiten auslösen, so bestätigen wir wenigstens, daß die Neigung, die sie ihnen zeigte, Verstehen war, aber keineswegs ein Sich-ihnen-gleichfühlen. Sie schätzte sie, aber unter Vorbehalt. Wir wollen nicht damit ihre Physiognomie entstellen, daß wir sie unserem Gedächtnisse als Malerin einprägen.

Trotz dieser allernötigsten Vorsicht und Warnung bezweifle ich, ob dieses junge Mädchen, das sich so ganz seinen Begeisterungen hingab, jemals völlig dieses Unterschiedes inne wurde, den ihre Bewunderer gezwungen sind zwischen ihr und unseren besten Künstlern zu machen. Mit welch köstlicher Naivität hielt sie sich damit auf, mit Madame Breslau zu rivalisieren! Wahrlich, es wäre sehr angezeigt gewesen, Fräulein Bashkirtseff auf die Lehre zu weisen, die sie zu praktizieren wie keine berechtigt war, die Lehre von der zulänglichen Geringschätzung.

Die zulängliche Geringschätzung hätte Marie Bashkirtseff gelehrt, die Maler, die Schriftsteller, die Künstler einfach nur dafür zu schätzen, daß sie Emotionen empfanden, die sie selbst verspürte. Um dieser Beschaffenheit ihrer Sensibilität willen verdienen sie ehrenvoll klassifiziert zu werden. Was die Fähigkeit anlangt, ihre Gefühle in Farben, Sätze oder Marmor zu übertragen, so bezeichnet sie diese als angenehme, selbst notwendige Nützlichkeiten in jedem wohleingerichteten Hause, kann ihnen aber in keinem Falle eine höhere Rangstufe geben als den Wesen ihrer Art. Nun aber ist, was Tiefe und Weite anbelangt, die Beschaffenheit der Seele von Fräulein Bashkirtseff so, daß unsere gefeiertsten Talente neben ihr nur sind, wie ein paar kleine Flöten neben einer vollkommenen Partitur. Weil in dieser Seele, so jung und schwach sie auch war, im ganzen doch die menschliche Sensibilität widertönte, deshalb sage ich, daß keine unserer allerersten Flöten sie ganz auszudrücken vermöchte, sie, die alle ihr eigen nannte. In ihrer Unscheinbarkeit besaß sie den Geist des Ganzen. Begehen wir nicht die grobe Ungeschicklichkeit, sie mit den Spezialisten zu verwechseln, wären diese auch ganz exzellente Malersleute.

Es ist wiederum im Namen der zulänglichen Geringschätzung, die sie ganz beseelte, wennschon sie sich dessen nur unklar bewußt wurde, daß ich ihr Andenken nicht in den Rahmen von Paris zusammendrängen, kann. Ohne Zweifel verlangte es sie nach dem flüchtigen und geräuschvollen Allbekanntsein, das unsere Stadt gibt; ich mache ihr keinen Vorwurf daraus; selbst dies wäre Mangel an Einsicht, auf dieses kindische Verlangen nach den Medaillen der Salons Wert zu legen und nach der Reklame im Figaro, nach dem Leben in den Häusern, wo man Diners gibt. Das befriedigte ihre momentane Auffassung vom Leben. Das waren die ihr für den Moment erwünschten Lebensbedingungen. Ist das nicht eines der Zeichen jener glühenden Sensibilität, deren vollkommensten Typus wir in ihr verehren, nichts an sich vorübergehen zu lassen, ohne teil daran zu haben? Paris war sicher würdig, eine der Stationen ihrer Sensibilität zu sein und das allein war es für sie. Theuriet, der das, was die Öffentlichkeit von Marie Bashkirtseffs Journal besitzt, herausgab, verweilte mit Vorliebe bei den im Atelier verbrachten Jahren, den Preisbewerbungen und allen diesen kleinen parisischen Ehrgeizen: wir beabsichtigen, dieses Tagebuch in extenso zu veröffentlichen, und es wird uns Marie Bashkirtseff in zwanzig verschiedenen Stellungen dem Leben gegenüber zeigen, anstatt der einen, in der wir sie zuerst sahen.

Noch ganz jung amalgamierte Marie Bashkirtseff in der Tat fünf bis sechs Ausnahmeseelen in ihrer zarten, bereits dem Tode verfallenen Brust. Als sie in dem Atelier in der rue de Prony starb, waren in ihrem Kopfe die Bücher von vier Völkern, in ihren Augen alle Museen und die schönsten Landschaften, in ihrem Herzen die Koketterie und die Begeisterung. Eine ganz junge Pilgerin, die quer durch Europa nach einem Fieber sucht, dessen man nicht müde wird, hinterläßt uns Marie Bashkirtseff ihr Andenken, damit wir sie liebhaben, ihre Legende, damit wir sie zur aufregenden Vorstellung der kosmopolitischen Sensibilität erweitern.

Nach dem Bilde in Frankfurt kann man sich Goethe vorstellen, ausgestreckt unter einem dekorativen Pinienbaume in der römischen Campagna; Byron, der auf dem gelben Sande des Lido am einsamen Ufer der Adria dahingaloppiert; Balzac, der sich in einem düsteren Zimmer mitten im nächtlichen Paris methodisch über Geldbedarf und eine grandiose Soziologie aufregt; aber welches Bild, welche Gewohnheiten, welches Vaterland bei Marie Bashkirtseff? Diese Kosmopolitin, die weder ihren Himmel, noch ihren Boden, noch ihre Gesellschaft hat, ist eine Entwurzelte. In dem Brevier der Ideologen werden wir sie, um ihr moralisches, so seltsam mit Zartgefühl und Delikatesse kompliziertes Zigeunertum auszudrücken, mit einem etwas groben, aber bezeichnenden Federzuge als Unsere liebe Frau vom Schlafwagen einschreiben.

2. Roms Kosmopolitismus

Und während Marie Bashkirtseff die anmutige Herde ihrer Neugierden von Wiese zu Wiese spazieren führte und die Schönheiten, die sie angezogen hatten, gar rasch verbrauchte, liefert sie uns doch zwei oder drei lehrreiche Bilder. Sicher sind sie nicht wertvoller als photographische Momentaufnahmen. Wir maßen uns nicht an, eine oder die andere Attitüde dieser unbeständigen Dame festzuhalten, sie für ein Porträt zu geben und uns dabei zu genügen. Aber es bieten diese Momentaufnahmen compositiones loci, wie Lojola sagt, sehr geeignet für unseren Geschmack an der Meditation.

Gewisse Augenblicke ihrer delikaten Boheme sind für mich besonders bezeichnend.

Das erfinderische Wohlgefallen, das wir dem jungen Mädchen entgegenbringen, vergegenwärtigt es unserem halb geschlossenen Auge auf einem Gute in Klein-Rußland, wo es die Pubertät erlebt. Das sind geheiligte Ebenen, uns, die wir sie nur mit der Phantasie besuchen. Unter den Nebelschleiern, die unsere Unkenntnis über sie breitet, lassen sie unsere Herzen in Wehmut und Liebesungeduld schlagen. Dessen bin ich gewiß, daß in jenem Da drunten die Schönheit erstand, aus der heraus sich das unbestimmte, noch formlose Gefühl entfalten wird, das uns junge Leute erfüllt, in denen die Bergströme deutscher Philosophie die festgefügten lateinischen Schutzwehren und Kompartimente niederreißen. Dort unten empfing Marie Bashkirtseff, wie die selbstverständlichsten Dinge von der Welt, diese Kraft des Geistes und der Sinne, die uns die Bedeutung der Liebe restituieren wird, uns, deren Väter nichts anderes könnten als verstehen.

Auch ruft meine Phantasie sie herauf, wie sie die böhmischen, grünumlaubten Badeorte besuchte, deren Musik am Abend die liebeleeren Seelen traurig stimmt.

Dann war sie in Nizza; übermütig im Sonnenscheine trägt sie Anemonen, Mimosen und Tamariskenzweige am Gürtel.

Doch wenn diese Schauplätze gesellschaftlichen Lebens auch vollauf genügen, unserer Erinnerung eine Unzahl von jungen, eleganten, romantischen Ausländerinnen einzuprägen, so vermögen sie diejenige, die außerdem für Spinoza schwärmte, weder zu umfassen noch zu bestimmen. Mademoiselle Bashkirtseff muß weniger wegen ihres unsteten Lebens, als um ihrer Intelligenz willen als Kosmopolitin genannt werden. Sie vermochte es, sich dem Winter der warmen Küste anzupassen, dem Frühlinge in Paris, der Season in London; sie schickte sich in alle Sitten und Bräuche, denn in unseren modernen Kosmopoliten liegt das, was uns die Schulbücher des Gymnasiums vom Alcibiades erzählen, der in Sparta der sittenstrengste aller Männer und bei den Persern der weichlichste unter den Schwelgern war. Als ob das so große Schwierigkeit böte! Sagen wir es bei dieser Gelegenheit: was ist Alcibiades im Vergleiche mit uns, die wir niemals unser Milieu fanden und doch sechsunddreißig verschiedene Leben führen? – Marie, die sich die letzte Note jeder Gesellschaft im Fluge aneignete, fand nirgends Befriedigung. Sie lechzte nach dem Fieber des kommenden Tages, dessen Schauer ihr ebenso armselig und eitel sein sollten. Daher ihr fortwährendes Herumzigeunern, das dem Wunsche entsprang, ihre Seele möchte die Gesamtsumme der Begeisterungen bilden, und dieses verstärkt von dem Ungenügen aller von ihr durchlebten Emotionen. Daher auch unsere wohldurchdachte Überzeugung, daß diese unruhige und großartige Jugend sich schließlich am wenigsten verwaist in der ewigen Stadt gefühlt hätte, in der Hauptstadt des Katholizismus, in Rom.

Rom ist in der Tat, trotz seines außerordentlichen Charakters, weniger merkwürdig als Ort an sich, sondern als der vollkommenste Inbegriff der europäischen Kultur. Es ging aus den ehrwürdigsten Fragmenten der Menschheit hervor. Marie Bashkirtseff, elegant und nervös und erst zwanzig Jahre alt, konnte sich sicherlich nicht diesem kolossalischen Pantheon gleichfühlen, aber diese Atmosphäre bot ihr etwas von all diesem Staube, der den Mund der jungen Pilgerin während ihrer Fahrt durch die Welt so köstlich ausgetrocknet und ihren Durst so erregt hatte. Dort wäre ihr keine von den glühenden Empfindungen, die sie verzehrten, vorenthalten worden, sondern hätten ihr der höchste Wert des Lebens bedeutet.

Ja, Rom, das zu allen Zeiten das Herz Europas gewesen, ist es von unserem besonderen Standpunkte aus gesehen heute noch, und bedarf unsere Phantasie nun einmal eines idealen Ortes, an den wir diese junge Kosmopolitin bringen, die uns das allermodernste Empfinden repräsentiert, so werden wir keinen anderen wählen können. In Rom fehlt keines jener Fieber, welche die Menschheit stimulieren.

Die Kunst, sich der Menschen zu bedienen, die Kunst, die Dinge zu genießen und das Göttliche in der Welt zu erkennen, was, nicht wahr? die drei Genüsse, das vollkommene Spiel eines Zivilisierten ausmacht, Rom lehrt sie uns mit unvergleichlicher Meisterschaft.

Erstens. Ist es die Melancholie der Erinnerungen, die ungeheure Menge angesammelter Schätze oder sind es die religiösen Interessen? Aber Rom bietet eine Vielfältigkeit der Nationen, eine Mischung der gesellschaftlichen Kreise, einen Zusammenfluß von Politikern, Aristokraten und Künstlern, zu gleicher Zeit eine Mannigfaltigkeit an Luxus, Poesie und Schmerzen, so daß, um außergewöhnliche Seelen, die großen Intrigen und die Geschichte der Völker zu durchdringen, um zu lernen, sich die Gesellschaft dienstbar zu machen, kein Aufenthalt gegen diesen in Betracht kommt, wenn man andererseits beachtet, daß keiner der hervorragenden Männer, die Rom vereinigt, dahinkam, um sich da Zerstreuung zu suchen, sondern vielmehr im Gegenteil der unvergleichliche Ernst der Stadt jeden noch tiefer in seine Manie sich zu versenken zwingt.

Zweitens. Andererseits eignet man sich in Rom allein eine vollständige Schulung um die Schönheit der Dinge an, weil die Galerien Roms, weit davon entfernt, aus der Erde aufzutauchen wie jene unvergleichlichen Blüten der Kunst in Florenz, Venedig und Flandern, eine Zusammenstellung der kostbarsten Zeugnisse des occidentalen Empfindens sind. Dadurch, daß Rom die Paläste mit den Meisterwerken aller klassischen Epochen schmückt, gibt es der Kunst ihre wahre Bedeutung wieder. In der Tat stellt sich das Kunstwerk zur Aufgabe, in einer erschöpfenden Form und mit übermittelnder Gefühlsanregung Seelenstände zusammenzufassen und uns daran teilnehmen zu lassen, als Entschädigung dafür, daß wir weder die innere Kraft, noch Gelegenheit hatten, diese zu erleben. Daher macht diese Stadt – deren Schwäche ich leichthin bezeichnen will, und die darin besteht, in der Natur nichts anderes als die menschliche Wichtigkeit zu erblicken – indem sie alle Künste zur Erziehung des Menschen herbeiruft, den Menschen wenigstens vollwertiger. Michel Agnolo scheint das Genie der römischen Jahrhunderte auszudrücken, wie Tiepolo das melancholische Fest Venedigs, wie Sodoma Sienas Inbrunst, wo die heilige Katharina ihre Verzückungen hatte, wie Botticelli die zerebrale Grazie von Florenz, und Watteau das hingebende und köstliche Genie eines gewissen pariserischen Paris. Aber es sind die Sybillen Michel Agnolos nicht wie die jungen Mädchen Watteaus, Botticellis, Sodomas oder Tiepolos ein Ausdruck der nach der einen oder anderen Seite hin verfeinerten Menschheit, sondern sie sind der Vollmensch, der ganze Mensch, der seine Kräfte zur Geltung bringt, der männlicher gestaltete Mensch.

Drittens. Im übrigen bleiben die Kirchen, welche Vorliebe auch immer Marie Bashkirtseff für die Salons und für die Kunst gehabt haben mag, das eigentliche Stelldichein aller jener, denen beim Reisen die seelischen Eindrücke am Herzen liegen. Ihre uralte Weihe hat selbst für jene eine Anziehungskraft, denen der Sinn der Dogmen verloren ging. Welche Stadt nun könnte ihre Basiliken mit denen Roms vergleichen? Notre-Dame und la Sainte-Chapelle, der Kölner Dom, Sankt Markus in Venedig, die Sophienkirche in Konstantinopel erscheinen in ihrer ins Auge springenden Verschiedenheit wie die ureigenste mystisch fieberhafte Gemütserregung jedes Landes, das sie erbaute. Aber Rom versammelt alle diese Fieber, um daraus eine harmonische Kraft zu bilden und zeigt, gestützt auf dreihundertneunundzwanzig Kirchen, unserer Phantasie die ganze Christenheit, die Kirche.

Zum Katholizismus hin drängen und erklären sich alle Regungen unseres Herzens, das sich nur verwirrt und unbehaglich fühlt, weil es die fieberhaften Gemütserregungen von fünf oder sechs Nationen in sich aufnahm. Durch sie hin- und hergezerrt durchirrt der Kosmopolit Europa; in der Hauptstadt, wo alle Nationen zusammenkommen, befriedigt er seine Fieber.

Während in Brügge die Glocke des Wartturmes ertönte, fühlte sich Marie Bashkirtseff, die die Memlings besichtigt hatte, etwas beguinenhaft, stelle ich mir vor, und ein Teil ihres Selbst blieb unausgefüllt; wenn sie bei schwülem Frühlingssonnenscheine das Café Quadri verließ und die Kühle in den Mauern von Sankt Markus genoß, so fühlte sie sich im Banne eines orientalischen sinnlichen Traumes und ein Teil ihres Seins seufzte auch hier. Ich habe die Unzulänglichkeiten der erhabensten Stationen kennen gelernt, aber eines Abends im Mai, gegen fünf Uhr, unter der Eiche von San Onofrio, wo sich dem Tasso seine Frömmigkeit mit den Zärtlichkeiten des Heroismus und der Wollust komplizierte und bis zur Raserei sich begeisterte, da wollte ich den römischen Boden küssen. Wenn in der Tat im Sankt Peter andere die Frostigkeit der ungeheueren Räume und ihren architektonischen Pomp erörterten, so erblicke ich da nur die Gläubigen, die diesen ungeheuren Bau füllen und in allen Sprachen reden. Hier ist der mathematische Punkt, wo sich alles zivilisierte Seufzen trifft, um die christliche Sensibilität zu bilden. Wenn die unzähligen Empfindungen, die von den äußersten Punkten der Christenheit unter diese Kuppel hergebracht wurden, sich in einem Wesen verkörperten, so würde das eine Seele bilden ohne das allergeringste Zeichen von Eigenart, aber mit der höchsten Befähigung, sich den verschiedenartigsten Milieus ohne Reibung anzupassen. Wenn man eine Seele aus allen Sünden zusammensetzte, allen Unruhen und allen Gewissenszweifeln, die hierher kamen, um den Frieden zu suchen, so wäre sie gerade das, was wir uns unter der Bezeichnung der kosmopolitischen Sensibilität vorstellen. Was mich anbelangt, so überschritt ich diese berühmte Schwelle niemals, ohne daß die Empfindung, mich auf dem Gipfelpunkte des menschlichen Fühlens zu befinden, in mir die Lust erzeugte, mich niederzuknien. Hier unter den Beichtvätern polyglotter Gewissen allein hätte ich jemand finden können, der meine Sprache sprechen könnte und sie verstehen. Nur hier würde Marie Bashkirtseff bei sich zu Hause gewesen sein und so schön, weil alle Unruhen aller Nationen sie durchglühten. Auf diese junge, unverbrauchte Barbarin hätten sich alle Fieber gestürzt.

3. Unsere liebe Frau, die niemals befriedigt war

In gewissem Sinne sind Leute, die auf alles verzichten und Leute, die nach allem verlangen, gut geeignet, einander zu verstehen. Die Einen und Andern sind durch nichts zufrieden zu stellen, denn der Sinn für das Prekäre und die Sehnsucht nach dem Vollkommenen wird für sie ein Leiden. Ja, Kosmopoliten und Katholiken gehören zur gleichen Familie, und man muß sich einfach darüber wundern, daß im gleichen Zeitalter so verschiedene Pfade zu den gleichen Zielen der Einheit, des Göttlichen, führen.

Auf daß Mademoiselle Bashkirtseff prüfe, in welchen Punkten ihre Empfindungen mit dem exaltiertesten Katholizismus im Einklänge ständen und um mittels einer römischen Anekdote das Bild zu illustrieren, das ich von der übermenschlichen Macht dieser Stadt entwerfe, hätte ich ihr gerne ein Ideal von Selbstlosigkeit vorgeführt, das zu erreichen sie ganz würdig war. Kennt man die Geschichte der Alexandrine von Alopeus und des Albert von Ferronnay, so wie sie uns der Bericht einer Schwester erzählt und von der einige von uns ebenso ergriffen waren als vom Tagebuch der Marie Bashkirtseff, denn es sind zwei Monographien heroischer Empfindung, geschmückt von der Romantik der Schönheit und des Todes –?

Mademoiselle Bashkirtseff, die eine etwas naive Begeisterung für mittelmäßige Maler, Künstler und das, was in Paris so obenauf schwimmt, ganz erfüllte, würde mich zweifellos bei den ersten Worten unterbrochen haben, die ich ihr über ein Buch gesagt hätte, das gewöhnlich nur für junge, etwas fromme und schüchterne Frauen aus der Provinz bestimmt ist: »Lächeln Sie nicht,« hätte ich ihr antworten können, »die Vorliebe, die ich für Albert von Ferronnay und für Alexandrine von Alopeus habe, geht von derselben vorgefaßten Meinung aus, durch die ich mich zu Ihnen hingezogene fühle. Wie seltsam wichtig erscheint Ihnen das Talent! Und von unserem Schulstandpunkt aus betrachtet wäre es bewiesen, daß ihre Sprache farblos und ihr Wortschatz banal ist; als ob das für meine heftige Sympathie ein Hindernis bedeutete! Ich liebe sie um ihrer uneigennützigen Begeisterung willen.« Die Helden des »Berichtes einer Schwester« empfanden die reine Liebe, von der uns Leibniz eine Definition gegeben hat, die ich wiederholen will, denn Geister wie Leibniz, Comte und Spinoza übertreffen in ihrer Trockenheit gar seltsam die Hübschigkeiten der Künstler. »Die reine Liebe,« sagt er, »das ist gewiß sein, Freude an der Vollkommenheit oder in der Glückseligkeit des Objektes zu empfinden, und demzufolge Schmerz zu fühlen bei dem, was seiner Glückseligkeit entgegengesetzt sein kann. Diese Liebe bezieht sich hauptsächlich auf Objekte, die der Glücksempfindung fähig sind, doch trifft man bisweilen ein Bild davon bei Objekten, die Vorzüge haben, ohne sie zu empfinden, z. B. bei einem schönen Gemälde. Derjenige, der Freude daran findet, es zu betrachten, dem würde seine Zerstörung Schmerz bereiten, selbst wenn es einem anderen gehörte, liebte es sozusagen mit uneigennütziger Liebe, was derjenige nicht täte, der nur einen Gewinn oder Verkauf im Auge hätte oder Beifall zu erwerben trachtete, indem er es herzeigte.« Albert de la Ferronnay ging in seiner Liebe so weit, sein Leben Gott aufzuopfern, damit Alexandrine von Alopeus, eine Protestantin, die er liebte, den wahren Glauben erkennen möchte. Bald darauf starb er, und neben dem Lager ihrer kurzen Liebe, das durch die Glut seines idealen Wunsches sein Sterbebett geworden war, empfing in einem Teile der Hostie, die seine Wegzehrung sein sollte, seine junge Geliebte die erste Kommunion.

Wie sehr fühle ich mich schon von diesem seltsamen Manne beschämt, der uneigennützig genug ist, um in den Armen derjenigen, deren Liebe ihn berauscht, den Tod zu ersehnen, damit sie durch den Besitz der Wahrheit noch vollkommener werde! Aber es erfaßt mich ein eisiger Abscheu vor mir selbst, wenn ich sehe, daß jene, die durch die erkalteten Lippen des Toten eine so große Gnade erlangte, die vergänglichen Dinge zu verachten, daß sie sich bis zu den Worten erhob: »Erst in dem Augenblicke, wo mir alles geraubt worden war, begann mein wahres Glück, meine Wonnen und meine Liebe.«

Das ist das Gefühl des Vergänglichen und der Aufschwung zur Vollkommenheit, durch den fast ebenso mächtig wie die Katholiken die Kosmopoliten fortgerissen werden, diese Kosmopoliten, die von Land zu Land drängen, von Leidenschaft zu Leidenschaft, Enthusiasten und niemals Erfüllte, jeden Tag verzichtend und immer verlangend, mit fieberhaften Augen und leeren Händen, weil keine der vergänglichen, das Weltall erfüllenden Formen ihnen das Unvergängliche, das Göttliche bringt. Ein hoher Idealismus, in dem, ohne sich gegenseitig zu erkennen, der Kosmopolit, der weder mehr Vaterland, noch häuslichen Herd verlangt, mit dem Katholiken, der selbst dieser Erde abschwört, sich begegnen. Kein Ort wird ihnen zusagen, ausgenommen Rom, wo die Sibyllen Michel Agnolos wachen, deren ernste Augen eine Seele zeigen, die das bittere Vergnügen genießt, das anzubeten, was nicht stirbt, inmitten alles dessen, was vorübergeht.

Unserem Kosmopolitismus, unserem Dilettantismus, unserem geliebten Nihilismus, um endlich das Wort auszusprechen, das am allerbesten unsere moralische Entwurzelung resümiert, dem gibt die große katholische Stadt seine volle Bedeutung wieder und zu gleicher Zeit eine hohe Richtung. In ihrem Lichte erscheinen mir unser Ekel und unser Ungestüm als das, was sie wirklich sind: religiöse Empfindungen. Mademoiselle Bashkirtseff raffte ein ungerecht verfrühter Tod dahin, ehe es ihr vergönnt war, der Erziehung durch Rom teilhaftig zu werden. Aber wir müssen ihr diese Vergünstigung gewähren in der Legende, die wir ihr bilden.

Paris, das akzeptiert man beim ersten Blick wegen seiner Koketterie und gütigen Anmut, London wegen der gediegenen und würdigen Gastfreundschaft seiner Klubs und seiner kleinen Häuser, Venedig wegen seines romantischen Fiebers. Aber Rom ist ein so schwerer Erwerb, daß eine Seele von zwanzig Jahren darüber die Kräfte verliert. Diese Stadt, rein von jeder Gemeinheit, ist keine schöne Geliebte, die uns freundlich aufnimmt und unsere Gewohnheiten hätschelt; sie ist eine Gebieterin, die alles, was ihr an uns unwürdig dünkt, zermürbt und in Stücke bricht. Was wäre dort aus Marie Bashkirtseff geworden?

Man kann es nicht bezweifeln, daß ihr Zigeunertum, das zuerst nichts anderes war als die Ruhelosigkeit einer kleinen Barbarin von unverbrauchter und begehrlicher Rasse, und die von Paris in ein Suchen nach Kultur umgewandelt wurde, Rom bis zu einem Grade erhöht hätte, daß es zur bekannten Krankheit der großen Idealisten geworden wäre, die den Geschmack an allem verlieren, weil allein das Vollkommene sie befriedigen könnte.

Geehrt sei dieses Gefühl des Unbeständigen, das dieses junge Mädchen in so hohem Grade empfand; mit Recht haben wir uns Betrachtungen darüber hingegeben. Es läßt uns an jener erhabenen Verachtung teilnehmen, die für die Wirklichkeit und ihr aktuelles Selbst alle Menschen empfinden, denen das Ganze am Herzen liegt, das sie mit ihrer Kraft umfassen und ihrem höheren Selbst, das noch nicht entwickelt ist. Jetzt, nachdem ich ihren ganzen legendären Wert festgestellt habe, wird jene, die ich mit dem niedrigen modernen Namen Unsere Liebe Frau vom Schlafwagen begrüßte, uns wie eine Versinnbildlichung der ewigen Kraft erscheinen, die in jeder Generation Helden erstehen läßt, und auf daß sie uns eine gute Ratgeberin sei, pflegen wir ihr Andenken unter dem stolzen Namen: Unsere liebe Frau vom Schlafwagen, die niemals befriedigt war.



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