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In der Gruft von Ravenna

Ist es ein verfallenes Dorf der Bretagne? ein trostloses Stück der Camargue im Regen? Diese Stille noch zu steigern, mit dem sichtbaren Verfall diese Vision der Armut zu komplizieren, diesen Moder fieberisch zu machen, nennt uns dies Land seinen Namen: Ravenna, ganz beladen von Jahrhunderten, ein schweres Schiff, das samt seinen Schätzen aus Byzanz auf dem Sande der adriatischen Küste gescheitert ist.

Volle acht Tage braucht man hier, um die vergessensten aller vergessenen Toten Italiens zu besuchen: Mosaiken, Mausoleen, Basiliken, die keine Kulte mehr haben, keine Leichname, keine Schönheit.

Hier ruht das beste Dokument jener dunklen Periode, die das klassische Altertum mit dem Mittelalter verbindet. Schon in den Katakomben Roms nimmt die Atmosphäre dieser Zeit unsere Phantasie ganz gefangen, in Ravenna aber fühlen wir unser ganzes Wesen noch intensiver von den Moderdüften einer Verwesten Kultur durchdrungen.

Tastend und unsicher versucht unser Fassungsvermögen diese Mosaiken der ersten christlichen Zeit zu verstehen, wendete sich davon ab, wäre der Raum weniger kahl; dieses Ravenna aber hat sich, einsam und machtvoll, ganz unter den Einfluß der musivischen Maler begeben und hat allem, was seine Mauern umschließen, die gleichen zeremoniellen und kränklichen Attitüden aufgezwungen, in denen diese Maler ihre monotone Vorstellung der Menschheit ausdrückten. Die Bevölkerung der Stadt ist armselig und niedrig, geldgierig und aller Erwerbsquellen entbehrend. In dieser Abgeschiedenheit und weit eher als in Rom, das so mannigfaltige Anregung bietet, sympathisiert man allmählich mit diesem geschmacklos unfreundlichen und ganz abstrakten Ideal, das die christliche Kunst der ersten sechs Jahrhunderte verfolgte.

Nach den Mosaiken die Mausoleen. Zum Beispiel die Rotonda, das Grabmal des Königs Theodorich. Spätere Zeiten rissen die Gebeine dieses Häretikers aus seinem prachtvollen Sarkophage und streuten sie in alle Winde. Man sieht hier, wie unsere Ehre oder Unehre den jeweiligen Verhältnissen unterworfen sind und im übrigen sehr rasch bedeutungslos werden. Theodorichs Grab umschließt ein kleiner, vergitterter Garten, zu dem uns ein anmutiger, samtgrüner Rasenpfad führt. Es ist der Arianer Theodorich, aber auch ein Pensionist, der sich außerhalb der Stadt zur Ruhe setzte. Er ist aus dem sechsten Jahrhundert, aber auch aus Neuilly. Der Wächter seines Gartens okulierte Rosen als ich an seiner Türe läutete.

Wenn man in Ravenna auf den Straßen herumwandert, sieht man da und dort Erinnerungstafeln, daß hier »der und der von diesem oder jenem meuchlings ermordet wurde«. Und man fühlt dabei weder Mitleid noch Mißfallen, nicht einmal Neugierde. Sich dem herben Vergnügen völliger Gleichgültigkeit hinzugeben, dafür ist kein Ort geeigneter als Ravenna. Ich fand mich ohne wirkliche Beziehung zu den Leidenschaften, denen ich mich weihe.

Dieses Ravenna ist so mit Geschehnissen und Reliquien beschwert, daß sein Boden einsinkt. In der Krypta des heiligen Apollinaris, außerhalb der Stadtmauer, dringt bereits grünliches, verfaultes Wasser bis zur obersten Stufe, zerstört langsam den Vorplatz der Kirche, und zerbröckelt die zehn Grabmale, die seit zwölf Jahrhunderten das Gedächtnis an völlig gleichgültige Tote verewigen. In ganz Ravenna möchten alle Dinge, ihres Bestehens müde, dahin gehen, wo bereits die Geschöpfe sind: unter die Erde. Alles hier fühlt Grabessehnsucht, um endlich ganz zu verfaulen. Und dieses Verlangen der Dinge behauptet sich so mächtig, daß es uns wie ein Frevel erschiene, wollte man diesem Aufstieg des Todes Einhalt gebieten.

War es nicht hier, wo Byron sich anstrengte, die Guiccioli zu lieben, und zog er nicht schließlich doch das Grab ihrem Bette vor?

Ein fader Verwesungsgeruch beengt mich. Kommt er aus den ärmlichen Möbeln meines Hotelzimmers oder aus all den Eindrücken, die ich während acht Tage Neugierde in diesen zerbröckelnden Ruinen sammelte? ...

 

Zwischen niedrigen Häusern durch, auf spitzem Pflaster, kamen wir vor die Stadt, auf das Land.

Tritt man aus Ravenna, so dehnt sich die ungeheuere, ernste Fläche, die einmal das Meer ausfüllte. Die Straße führt in gerader Richtung auf einen schmalen Damm zwischen den Sümpfen; man hört die ferne Brandung des adriatischen Meeres. Keine Schönheit ist da, kein lustvolles, aber ein so undefinierbares, überwältigendes Gefühl, das die Seele interessiert, indem es sie ernst macht.

Unten, an den Böschungen der Kanäle, weiden schwarze Schafe. Während einer Fahrt von zwei Stunden begegnen wir niemand als einem armen Esel, der zwei vom Fieber erschöpfte Bauern schleppt; dieser Stille einzige Belebung ist ein Wasservogel, der über den Sümpfen seine Kreise zieht. Nach den Nattern, die der Reisende an gewitterschwülen Tagen unter seinem Wagen zischen hört, suchte ich bald darauf vergeblich in der Pineta. Endlich fühlen wir den salzigen Seewind. Vor uns in der Ferne tauchen langsam die aufgespannten Schirme der Pinien auf.

Nach einer zweistündigen Fahrt erreicht man, was einstens die Pineta war, in der Dante mit den Polentas jagte und Byron und die Guiccioli ihre Pferde tummelten. Beide Dichter suchten hier Bilder, die ihre tragischen Stimmungen wiedergeben sollten. Vor vier Jahren zerstörte ein Waldbrand weite Strecken dieser legendären Pinien. Die Bäume, die in dieser Verwüstung noch einzeln zerstreut übrigblieben, wirken nur um so mächtiger. Alles, was ihnen der Wind, die Zeit und das Mißgeschick nehmen konnten, haben sie hergegeben. Das stöhnende Meeresrauschen, die Unverwüstlichkeit der Pinienbäume in dem stagnierenden Gewässer, das häuft um den Wanderer die Vorstellung der Ewigkeit. Von hier aus ist das Leben nichts als ein fernes Geräusch bellender Hunde. So müßte man es hinter den geschlossenen Fenstern aus einem Sterbezimmer hören.

Einen klaren Blick uns für die Gattung Energie zu geben, die einer haben muß, der die Imaginationen einiger Jahrhunderte beherrschen will, das vermag keine Enquète so stark, wie ein Nachdenken in der Öde von Ravenna. Alle Nuancierungen, alle Liebenswürdigkeiten, alle entzückendsten Finessen vermögen nichts, nur Gewalttätigkeit und Eigenart vermögen es.

Die Säule auf dem Grabmale des Großkapitäns Gaston de Foix, das Bildnis der großen Kurtisane, der Kaiserin Theodora, Dantes Grabmal und die Hütte Garibaldis, das sind die vier Glückswürfel Ravennas, die jene werfen, die vom Glücksspiel die Unsterblichkeit verlangen.

Die Säule des Gaston de Foix und das Bildnis der Theodora, die bereits im Schlamme versinken, haben keinen Sinn mehr, da andere Schönheiten und andere Soldaten die gleiche Zahl Augen geworfen und diesen Glücksfall gehabt haben, sich auf einem Throne zu prostituieren oder auf einem Schlachtfelde zu sterben. Aber das Grabmal Dantes, einsam an der Biegung einer Straße, zwischen deren Pflastersteinen das Gras sprießt, hat die Völle seiner Stimmung bewahrt. Indem dieser Dichter den mittelalterlichen Katholizismus in Schönheit ausdrückte, nahm er die Gnade einer Art des Fühlens auf sich, dessen einziger Repräsentant er für uns ist.

Auch sie hält noch ihr Prestige, – in dieser fiebrigen Einöde, die sich zwischen dem Meere, der Pineta und Ravenna hinzieht, – die Cabana, in der sich Garibaldi versteckte, als er im August 1849 vor den österreichischen Patrouillen verfolgt wurde, die Befehl hatten, ihn zu erschießen. An der Vorderseite der Hütte ist eine Aufschrift angebracht, die alle ehrgeizigen Herzen in eine gehobene Stimmung versetzen wird: »Diese geheiligte Scheune ehren die Italiener wie den Stall von Bethlehem.« Italien hat es in seinem glühenden Verlangen nach Einigung verstanden, wunderbare Memoranda auf alle die Steine zu setzen, unter denen jene ruhen, durch die es sich durchsetzte. In Frankreich hinterließ Garibaldi ein etwas zweifelhaftes Andenken, aber in Italien wird die Geschichte des Mannes im flatternden Mantel bis zur heiligen Legende wachsen, denn er vereinigte in sich (und zum Nutzen seines Landes) alle Züge eines Abenteuerers, wie er seit Jahrhunderten häufig auf der Erde war, den sie aber wieder ins Dunkel zurückschleudert.

 

... Wir lenken unsere Schritte von der Pineta nach der heiligen Scheune zu und sind am Meer. Es ist Abend, brüllend brechen sich die schweren, herrlich gelb und grün schimmernden Wellen der Adria. In den Leuchttürmen zündet man die Lichter an. Unser Kutscher ist unruhig: die Flanken seines armen elenden Pferdes, dessen Nahrung nur aus Gras besteht, sind mit einem eklen Schaum bedeckt. Wir müssen nach Ravenna zurück.

Der Abend breitet über Land und Sumpf seinen ungeheueren Schleier violett mit Gold durchwirkt. Hinter uns läuft das Stöhnen des Meeres. Von allen Seiten steigen Gedanken auf, kühn und verzehrend, als wären sie von all den vielen Leidenschaftlichen in dieser Öde zurückgelassen worden, die sie einst durchzogen, trunken von Begehren, von Haß und Verbrechen. Diese Gedanken schlummerten zu lange in den Sümpfen und haben sich mit dem Fieber gemischt. Sie gesellen sich zu unseren gemeinen Sorgen, steigern sie ins Fieberhafte, daß sie über alles Maß gehen, und Träume werden Delirien.

Diese Kälte durchschauert mich. Sie dringt heftig ein, und man kann sich ihrer nicht erwehren; doch liebt man sie. Ist es wirklich die kühle Brise vom Meere? Es ist ein Hauch aus dem Grabe. Er weht alle jene kleinen Illusionen weit weg, welche die Gesellschaft jedem zuerteilt, auf daß er den Mut habe, seinem Schicksal zu folgen.

Vor den Stadttoren sah ich arme Teufel, die bis an die Hüften in schmutzigem Lehm versunken waren, um Ziegelsteine daraus zu formen. Die Mausoleen und Basiliken Ravennas sind aus diesem Material erbaut und haben sich als haltbar erwiesen; sie überdauerten zwei bis drei spätere, bereits wieder verschwundene Kulturen. Gleichviel, mir flößt dieser lehmige Schmutz, der dem Tode solchen Widerstand leistet, Grauen ein: steigen wir aus der Gruft, ziehen wir wieder unsere Vorurteile an. So vergänglich sie auch sind, sie geben uns wenigstens warm. Beginnen wir damit, nicht mehr darüber zu denken. Verschließen wir unser Herz über der Wahrheit.


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