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Ideologien der Leidenschaft

 

Ein Amateur der Seelen

1. Die Verzückung in der Einsamkeit

Die Landschaft von Toledo und das Ufer des Tajo gehören zu den schwermütigsten Dingen dieser Welt.

Wer öfter dorthin kommt, braucht den ernsten Jüngling, den Pensieroso in der Medici-Kapelle nicht mehr anzusehen; auch die Biographie und die Pensées des Blaise Pascal kann er sich erlassen. Die Empfindung selber, die in diesen einsam großen Werken Form geworden ist, wird ihn ganz erfüllen, wenn er sich der herben Tragik dieser auf hohem Felsgestein zerfallenen Pracht hingibt.

Ein solcher landschaftlicher Hintergrund führt uns mit Gewalt zu einer alles umfassenden Naturanschauung und zu dieser Philosophie des Ganzen zurück, die man sich notwendig erhalten muß, wenn man sich der Wollust hingibt, die im Wahrnehmen der differenziertesten Empfindungen liegt.

Toledo auf seinem Abhang, mit dem gelbschimmernden Halbkreis des Tajo unten, hat die Farbe, die Unwirtlichkeit und das stolze Elend der Sierra; auf die es hingelagert ist, und deren starke, wuchtige Gliederungen schon beim ersten Nahen einen Eindruck von Kraft und Leidenschaftlichkeit geben. Toledo ist kaum eine Stadt, kaum dieses brausende und den Bequemlichkeiten des Lebens angepaßte Wesen, als vielmehr eine bedeutungsvolle Stätte für die Seele. Unter einem grellen Licht, das jeder Kante seiner Ruinen eine Kraft und eine Deutlichkeit verleiht, durch die sich die weichsten Charaktere gefestigt fühlen, hat es doch auch wieder etwas Geheimnisvolles mit seiner zum Himmel ragenden Kathedrale, seinen Alcazars und seinen Palästen, die das Licht nur durch ihre inneren Höfe empfangen.

So ist in diesem herben, überhitzten Lande Toledo, das schweigsame und starre, wie ein Bild der Verzückung in der Einsamkeit, ein Schrei in der Wüste.

Auf den schroffen Abhängen, die den Horizont Toledos umranden und den Tajo senkrecht eindämmen, hatte Delrio die Ruinen eines maurischen Landhauses wieder aufgebaut, eine jener berühmten Cigarrales, wo Tirso de Molina Erzähler versammelte gleich jenen, die unter Boccaccios Augen in der Villa Palmieri plauderten, zwischen dem blumenreichen Fiesole und dem pesterfüllten Florenz.

Gebäude in orangefarbenem Tone, ein innerer Hof mit schönen Brunnen, deren marmorne Becken abgestufte Ränder zieren, einige Lorbeerbäume, nur mühsam erhalten in diesen glühenden Schluchten, eine Atmosphäre, deren Duft die Sonne aus den Lavendel- und Benzoëstauden des Gebirges gesogen, endlich eine Fernsicht, deren Herrlichkeit Gedanken von Einsamkeit, Tod und Schönheit aufdrängt, das war unter diesem Himmel, den niemals ein Wölkchen verschleiert, Delrios Besitztum.

Er trieb seine Neugierde nach allen Energien des Lebens bis zur Leidenschaft. Deshalb freute er sich mit einer gewissen Selbstverachtung eines richtigen und starken Wortes Napoleons auf St. Helena: »Ich habe die Kunst besessen, aus den Menschen alles herauszubekommen, was sie geben konnten.« In diesen Worten erkannte er den, der es verstanden hatte, Menschen zu erschaffen. Er glaubte zu ahnen, daß ein sicheres Verfahren existiere, den Gehirnen Leidenschaften zu geben. Das ist vielleicht ein falscher Ausgang. Ist denn beim Handeln die Mitwirkung der Umstände nicht das Wesentliche? Ihm aber gefiel an dieser einseitigen Idee die machtvolle Sensation, die historische Entwicklung als vom Willen bestimmt aufzuweisen.

Mit einer solchen Begeisterung für die Herrschaft wußte er sich doch nicht besser zu beschäftigen, als alten Steinen etwas Leben wieder zu geben. Das Geheimnis seines Unvermögens war, daß er dazu neigte, alles vom Standpunkte der Ewigkeit aus zu prüfen; er betrachtete die Dinge nur in ihrer Entwicklung und es war ihm unmöglich,, die Menschen und die Ereignisse des Tages so hoch einzuschätzen, wie es nötig ist, wenn man auf seine Zeitgenossen wirken will. Die Sturzbäche des Dichterischen stauten sich in seinem Inneren um so mehr, als er sie für kein Rad irgendeiner Mühle nutzbar machte. Unter diesen Ruinen und so vielen von ihnen heraufbeschworenen toten Kräften, und befreit von Sorge um seine materiellen Interessen, verlor er sich in Träumereien, denen er kein anderes Objekt zu bieten hatte als sich selber.

Durch seinen Ewigkeitscharakter, sein Wesen außer der Zeit, auf das die Jahre keine Kennzeichen mehr prägen, so alt ist es, noch die Ereignisse, so sagenhaft ist es, durch dieses sein Wesen fesselte Toledo diese verschlossene Phantasie bis in ihr Tiefstes. Dieses exaltierende Toledo war die bestimmte Komplementierung eines vom Überdruß so stark erfüllten Wesens, daß es in den Künsten nur den gewaltsamen Verkürzungen eines Pascal und Michel Agnolo – Seelen wie die seine, einsam und überreizt – gelungen wäre, sein Wesen aufzurütteln.

Einem Einsiedlerkloster, das ihm gegenüber auf einem nackten Felsen lag und dessen Geläute der Wind des Tajo jeden Abend herübertrug, hatte er Glocken geschenkt, die den gleichen Klang hatten wie jene, die er in seiner Kindheit hatte läuten hören. Nicht als ob er in dieser selbstgewählten Heimat seinem Dorfe in Frankreich ein frommes Andenken bewahrte! Es geschah aus Interesse und Gefälligkeit für den kleinen Jungen, der er gewesen war. »Jener«, dachte er, »hatte seiner wahren Natur noch nichts hinzugefügt. Damals hatte und zeigte ich arglos jedem dieses mein Wesentliches, das ich jetzt nicht wieder in mir finden kann und von dem aus man wirken muß, um ein Wesen bis ins Tiefste zu bewegen.«

Manchmal sah er von den hohen Terrassen seines Besitzes aus einem ganz unten in den gelblichen und schnellen Wellen des Tajo verlorenen Schwimmer zu, einem armen Kerl, der sich plagte und dessen Anstrengungen genau wie das öffnen und Schließen einer Hummerschere aussahen. »Tapferes kleines Geschöpf,« sagte er sich, »das rührend wie ein Tier seine harte Arbeit ohne Hilfe verrichtet. Es gibt weder ein Genie noch einen Prinzen, der nicht mit Armen und Beinen herumschlagen müßte, wenn er ins Wasser fiele ... Das ist die instinktive Geste! Er will am Leben bleiben! ... An welche Empfindung müßte man im zivilisierten Leben appellieren, die bei allen Individuen so konstant wäre als der Selbsterhaltungstrieb? Auf welcher Basis soll man bei nicht interessierten Gemütern einen Stützpunkt finden, um sie zu beherrschen?«

Inmitten dieser Beschäftigung mit dem moralischen Räderwerke geschah es, daß er an ein Mädchen denken mußte, das einem ehebrecherischen Liebesverhältnisse seines Vaters entstammte.

Seine Schwester! Sie stand nun im neunzehnten Lebensjahre. Die Erinnerung an sie erfüllte ihn mit einem Gefühl von Frische und Wollust. Es verlangte ihn, sie an sich zu fesseln, weil er sie sich nach seinem Herzen gebildet dachte.

Noch ganz klein hatte sie mit ihrer Mutter nach Ägypten gehen müssen, die man wegen ihres Lebenswandels davonjagte. Jetzt war sie Waise und lebte in Dresden bei Verwandten. Sie willigte ein, die Brühlsche Terrasse mit der Toledaner Sierra zu vertauschen.

Von ihrer ganzen Reise erinnerte sie sich, wie sie später erzählte, nur daran, daß ihr grundlos Tränen in die Augen kamen, sooft der Zug in der ungeheuren Stille der Nacht durch grell beleuchtete Städte fuhr.

Simone war keine vollendete Schönheit, aber ein matter Teint, eine delikate Haut, wie geschaffen, daß Perlen sie berührten, ein trauriger, etwas traumverlorener Blick, eine ganz leise Feuchtigkeit in ihrer Kinderhand, welche die Finger des Bruders um Schutz bittend suchte und drückte, das bildete ein rührendes Ganze voll Sanftheit, Grazie und Unbeholfenheit.

Dieses kleine Mädchen, das sich tief in seinen hellen weitfaltigen Kleidern verbeugte, war für den, der es schlecht begriff, die frostige Vollendetheit einer sehr jungen Frau bei irgendeinem zeremoniellen Apparat, aber darunter schlug ein Herz, fähig der allerschönsten Verwirrungen.

Als Kind hatte sie geweint, wenn man schlechte Witze, über den Papst machte. Ihre Religiosität hatte sich stark am Widerspruch der Protestanten entwickelt. Diese Moral des Marienkindes ist sehr mittelmäßig, wenn wir sie für eigennützig oder scheinheilig halten, aber es gibt Herzen, in die solche Gefühle von Geburt an gelegt sind und tief, daß sie tausendfältige poetische Blüten treiben.

Ohne Zweifel hatte die Mutter, von ihren Verirrungen beunruhigt, Gott durch eine bis ins kleinste gehende Frömmigkeit zu versöhnen gesucht und das Kind ihrer Sünde dem Himmel geweiht.

Diese Zeit war die glücklichste im Leben Delrios.

Kein Reisender von einiger Bedeutung kam durch Spanien ohne einen Empfehlungsbrief für die Villa in Toledo, und nur ganz wenige stellten sich dort vor, die man nicht ein paar Tage zurückgehalten hätte. Seine Schwester zur Seite konnte Delrio viel bequemer Frauen empfangen, deren Gesellschaft er liebte.

Simone, die eine ängstliche Genauigkeit in der Anordnung aller zartsinnigen Dinge besaß, unternahm es, den Gang dieses Lebens zu reformieren. Die Männer sind immer leicht für eine Ordnung empfänglich, die ihnen eine junge Schönheit vorschlägt. Aus einem gastlichen Heim, das schon beinah einem Gasthaus glich, machte sie einen kleinen Hof. Sie verstand es, die Stimmen zu dämpfen und Delrio mit einer Atmosphäre von Höflichkeit zu umgeben, die seinen hochzielenden Betrachtungen einen noch größeren Wert ließ. Indem man die Unordnung aus dem Wege schafft, die plötzliche Entschlüsse in den kleinen Nebenumständen des Lebens zur Folge haben, vermehrt man die Intensität außergewöhnlicher Gefühle; man macht sie frei. Es ist wie bei einem Monumente: große, ebene Flächen lassen das architektonische Motiv besser siegen.

Ursprünglich hatte Delrio, der das Sinnliche liebte, daran gedacht, sieh in der Lombardei niederzulassen, am Maggiore oder am Comer-See, wo beinah die wienerische Süße ist; aber die Gärten mit den singenden Silben, Melzi, Sommariva, Giulia und der alte Hafen von Pallanza hätten seine Sinne weniger befriedigt als diese Felsenwände, nackt und stilkräftig wie die Sentiments, die sein Bereich waren. Seitdem man die Cigarrales des Molina zerstört hatte, verweigern es die Abhänge, auf denen magere Esel die harten, vertrockneten Zweige einer sehr stark riechenden Eichenart – retama macho – abweiden, Rosen zu tragen. Simone vermochte es, zwei oder drei Setzlinge zum Wachsen zu bringen. Indem sie alles in ihrer Umgebung gefälliger machte, ersparte die Schwester es dem Bruder, irgend etwas zu vermissen; unter diesem ausdörrenden Lichte, auf diesen Bergen von beinah grausamer Kraft schuf sie ihm einen jungen Garten.

Sie war stets in gelb und violett gekleidet, kräftige Farben, die er allen anderen vorzog und deren Zusammenstellung ihn mit sinnlichem Wohlbehagen umfloß ... Aus einer bizarren Laune hatte er sie gebeten, als Wäsche nur rauhes, grobes Leinen zu tragen; es gefiel ihm, daß diese Art von mildem Büßerhemd ihn beständig in den Gedanken des jungen Mädchens mit dieser so intimen Anordnung verband.

Bis zum Abend beschäftigte er sich allein, aber gegen sechs Uhr liebte er es, sie zu begleiten. Der Niedergang des Tages erregte ihn; die Blumen färben sich stärker, die Umrisse werden schärfer, alles belebt sich und beginnt zu reden. Er hatte auf dem Berge eine Allee in Terrassen herstellen lassen, über dem Tajotal und Toledo. Es war der lieblichste und kahlste aller Ausblicke, auf eine Landschaft vornehm und verlassen wie das Meer, aber auch unbeweglich wie ein Friedhof. Oft setzten sie sich auf einer der da aufgestellten Bänke, und es war sein größtes Vergnügen, Simone über ihre Kindheitseindrücke zu befragen, von damals, als sie noch ganz klein mit ihrer Mutter in das rosige Land Ägypten floh.

Sie war geschaffen, Gespräche mit Engeln zu führen, so viel Ehrlichkeit und Ernst legte sie in die Aufzählung ihrer Empfindungen. Keines ihrer Worte entstellte ihren Gedanken. Sie drückte manchmal Gefühle aus, die man schlechte nennen konnte, aber das verriet sich so natürlich auf der Oberfläche ihrer Worte; wie die schillernden Farben des Gefieders einer Taubenbrust war es; sie verfolgte keine Absicht damit, und bei näherer Prüfung handelte es sich dabei niemals um niedrige gemeine Dinge. Delrio erkannte ziemlich rasch, daß ihr gegenüber Ironie oder Mißtrauen schwere Ungeschicklichkeiten wären. Er nahm sich vor, sie niemals auszuforschen, denn die meisten seiner Fragen hatten für sie gar keinen Sinn. Genau genommen beschränkte er sich darauf, ihre Nähe zu atmen, und wenn sie gewisse, ganz ungewöhnliche Dinge gesagt hatte, die er ebenfalls fühlte, so küßte er sie.

Tief unten zu ihren Füßen zogen Reiter, die in dieser Entfernung zwar ganz klein aber doch sehr vornehm aussahen, unter den hohen Toren über die Brücke von Sankt Martin. Das Geklingel der Maultiere drang bis zu ihnen herauf, und jedes Glöckchens besonderer Klang war in der heißen, trockenen Luft hörbar. Die Durchsichtigkeit der Atmosphäre hob die Distanzen bis zu einem Grade auf, daß, wenngleich außerhalb Toledos, sie doch immer mitten darin lebten. In diesem unvergleichlichen Lichte der niedergehenden Sonne konnte man die Fremden mit ihren Reisebüchern unter dem Arm unterscheiden, und die Unruhe dieser armen Irrenden nach dem Glücke und die ewige Pracht dieses Felsenrundes bildeten einen Kontrast, dessen undeutliche Empfindung dieses schweigsame Paar liebte. O Licht! Herrlichkeit über der Ruine dieser alten Herrscherin!

Und gleich mit der Kühle des scheidenden Tages – wie füllte sich diese Landschaft mit herzzerreißender Traurigkeit! Eines Abends, beim Ave Maria, als sie ihre großen, blauen Augen weiter als sonst geöffnet hatte und ihre Lippen von der Melancholie der Dämmerung blasser waren, kam ihrem Bruder ein Wort auf die Lippen: »O meine Pia!« So schmerzbewegt und heimlich verschlossen rief sie in seinem Inneren die geheimnisvollen Verse Dantes herauf. Glich die über alles erhabene Trostlosigkeit des Tales von Toledo der des Büßerberges, wo Dante jene begegnete, die zu ihm sprach: »Entsinne dich, ich bin Pia; Siena hat mich gemacht, die Maremma hat mich zerstört. Er weiß es, der mir den Trauring an den Finger steckte.«

Dieses Milieu, das die Empfindungen bis zum Exzeß kultivierte, war dem jungen Mädchen lustvoll, zerstörte es aber auch zu gleicher Zeit. Sie ward darin und verging darin.

Delrio liebkoste sie und tröstete sie, bis ihr die Tränen in den Wimpern hingen, die er mit solchem Mitleide wegküßte, daß sein Herz köstlich zersprang. »Mir kommt vor,« sagte er ihr, »daß dich in meine Arme zu drücken für mich eine größere Lust ist als sie mein Vater empfinden konnte, da er dir das Leben gab.«

 

Auf der runden Isola-Bella im Lago Maggiore haben die Borromäer die Blumen aller Zonen zusammengetragen. Unter einem Lorbeerhaine von heimlicher Dunkelheit, hohem Wuchse und Frische scheuchte mein Tritt zwanzig Tauben auf, doch zu so schwerfälligem Fluge, daß ich sie hätte in die Hand nehmen können. Wen hätten sie nicht gerührt, so halbberauscht von den auf zu engen Terrassen zusammengedrängten Düften so vieler Bäume aller Himmelsstriche! Eine solche gegen alle Natur kombinierte Luft kann man nicht atmen. Sich ihr hingeben, heißt die Wirklichkeit verlieren. Daher die Wehrlosigkeit der Jungfrauen, die in den Tempeln aufwuchsen.

Das kleine reine Mädchen war gleichwie durch einen Zynismus von einer gewissen Teilnahmslosigkeit verletzt, die dieser Amateur der Seelen in Hinsicht auf Abstraktes und Prinzipien zur Schau trug, und auch wieder gerührt von dem Mitgefühl, das er für alle sentimentalen Kleinigkeiten ihres ganz jungen Wesens zeigte.

– »Mein Bruder,« sagte sie zu ihm, »es gibt Minuten wo ich Sie nicht schätze und dann wieder, in anderen Augenblicken erkenne ich wohl, daß Sie besser sind als ich.«

Sie war betäubt von all den Empfindungen, die auf ihrer Terrasse von Toledo kultiviert wurden und die so wenig zu harmonischer Einung kamen. Ihre kleinen, schwerfälligen Gedanken wurden nach und nach weniger scheu, und Delrio nahm sie ganz in seine Hand.

Die Pia war ein wenig anämisch wie viele schwärmerische junge Mädchen. Man riet ihr Bewegung. Die Terrasse von San Juan de los Reyes ist der einzige Winkel dieses sonndurchglühten Toledo, wo man morgens um neun Uhr noch Schatten findet. Sie wurde das Ziel ihres Spazierganges. Kinder ohne Taschentücher und ohne Hemden schwirrten um sie herum wie Fliegen auf einem Stück Zucker. Und die Erwachsenen, empört, daß sie kleine Silbermünzen bekamen, schrien ihnen beim Vorübergehen mit gutturaler Stimme zu: »Hombre«.

Die alte Kirche de los Reyes, außen mit Ketten behangen, die einstmals christliche Gefangene bei den Barbaresken getragen hatten, war ein Begräbnisplatz der Granden von Spanien gewesen, und schimpflicherweise machte unser Soult einen Stall daraus. Wenn Conchita, Concepcion, Dolores, Remedios und ein Haufen kleiner Jungens, die ihre Zeit damit verbringen, die Fremden herumzuführen, den Schwalben aufzulauern und die Esel mit Steinen zu werfen, immer an diesem schattigen Platze zusammenkommen, so geschieht das nicht in Erinnerung an die Gräber, auf denen die Pferde der Kriegsknechte mit Füßen trampelten, sondern weil der Vorplatz die Aussicht auf das Schlachthaus hat.

In den armen Städten ersetzt das Schlachthaus die Arena der Stierkämpfe. Um der Pia begreiflich zu machen, welchen Zweck das hohe Gebäude ohne Dach habe, in das sie so unermüdlich ihre Augen hinunter, tief hinunter versenkten, schlugen sie ihr mit einer drolligen Vertraulichkeit auf den Nacken und machten zugleich die Gebärde des Sterbens oder vielmehr des Schlafens, mit einer plötzlich aus dem Mund hängenden Zunge, – was der Pia Nerven interessierte, weil es sie ein wenig anekelte. Endlich schien sie es zu begreifen. Um sie in ihrer Annahme zu bestärken und aus Bescheidenheit sagten sie ihr, indem sie sich alle auf den Bauch schlugen: »El toro para nosotros« und indem sie auf den ihrigen zeigten: »La vacca para usted«.

Das Elend entvölkert diese herrlichen Ruinen. Daß die kleinen Stammgäste der Terrasse von los Reyes so eigensinnig am Dasein festhalten, ist ein Beweis, daß sie eine wunderbare Lebenskraft haben müssen. Sie erhalten Toledo und bilden einen wichtigen Bruchteil der spanischen Energie. Daher kommt es, daß diese ganz ungebildeten kleinen Fremdenführer einen so sicheren Instinkt für die charakteristischen Punkte ihrer Stadt haben. Sie wollten, die Pia solle das Gefängnis ansehen.

Toledo, das übrigens noch nicht aufgehört hat stolz zu sein, gleitet mit dem Schutte und dem Miste seiner Paläste bis zum Fluß hinunter. Auf diesem ruinenbedeckten Boden und gegen die Tiefe dieses rutschenden Talhanges erhebt sich das düstere Gebäude. Die Zellen sind von einem Hofe flankiert, dessen hohe Mauern dennoch gestatten, daß der Blick von den höchstgelegenen Punkten der Stadt aus die Köpfe der Gefangenen streift.

Die Kinder wünschten sehnlichst, die Pia möchte den Aufseher bestechen; sie verhandelten und die Pia gab das Geld. Alle betraten hierauf einen engen, auf den Zinnen der Mauern angebrachten Durchgang; zu ihrer Rechten der Abgrund des Tajo, zu ihrer Linken das Loch der Gefangenen, erreichten sie zwischen zwei Schwindelanfällen ein verwegen angelegtes steinernes Schilderhaus, wo ein Gendarm Wache hielt. Selbst in dieser schwindelnden Höhe wurden es die Kinder nicht müde, die Diebe und Mörder zu bewundern, die in ihrem Elend rund um einen Brunnen herum saßen: wilde Leute, deren starke Ausdünstung ein wenig zu spanisch war für die Nasenflügel einer Ausländerin.

Ein Schlachthaus, ein Gefängnis, alles in einem Schweigen gebietenden Glanze von Licht, das ist das Wesentliche einer spanischen Stadt.

Ein solches Milieu ist ein Exil.

Die Pia attachierte sich besonders an ein kleines Mädchen, das dem Haufen mit allen seinen Schätzen folgte: eine Schachtel englischer Zündhölzer und ein paar oftmals gesohlte Schuhe, deren Besitz ihm das Lächeln eines unbezähmbaren Stolzes gab. Aus der Leidenschaft, die sie für ihre mächtigen, spanischen Schuhe zeigte, schloß die Pia, wie wollüstig diese Kleine war. Drei Tage später erfuhr sie, daß die Schuhe dem Kinde gar nicht gehörten, aber daß man ihm erlaubte, sie jeden Morgen eine kleine Weile über die Hände gestülpt zu tragen. Es war nur ein Stolz auf diese Erlaubnis! Und doch war er die einzige Empfindung einer menschlich zugänglichen Qualität, welche die Pia mit neunzehn Jahren in der Stille dieser steinigen Flächen und Räume fand und die sie nur betrachten konnte, wenn die Sonne für ein paar Augenblicke hinter eine Gewitterwolke trat.

Die nicht geringe Zahl junger Leute, die bei Delrio verkehrten, Spanier, öfter noch Ausländer, betrachteten Pia als einen niedlichen Luxusgegenstand und ergötzten sich, je nach dem Grade ihrer ästhetischen Bildung, an ihrer Anmut oder ihrem Luxus, aber alle, mit Ausnahme eines einzigen, mißfielen ihr.

Dieser Bevorzugte besaß eine hübsche, kleine Seele von bester Qualität, schneller bereit, andere zu verurteilen, als sie zu begreifen. Er hatte vierundzwanzig Jahre, und zweifellos wird er mit fünfunddreißig Jahren zu den Leuten gehören, denen im besten Glauben immer das als das Richtige erscheint, was sich mit ihren Interessen deckt. Er hatte Vermögen und kein Talent, das produktiv, keinen Ehrgeiz, der befriedigt werden sollte; daher seine Sorge um das Tugendliche. Im ganzen genommen lebte nichts in ihm, außer dieser schwachen Bewegtheit zum Liebesglück hin, die man immer in diesem Alter fühlt.

Delrio schätzte die intellektuelle Kraft dieses Jünglings als eine sehr mäßige, aber er dachte, man könnte ihr eine bessere Nahrung geben: und so hielt er ihn gerne in Toledo fest, als Objekt, an dem bei Gelegenheit eine Leidenschaft zu entwickeln wäre. Jetzt noch eine ziemlich dürftige Seele, zeigte sie doch in allen ihren Äußerungen jene innere Grazie, die der Blick bei den Jünglingen Rafaels und Pinturricchios so vollkommen wiedergibt. So ganz jung und wie eine schöne Frucht erweckte er eine Sinnlichkeit, die jene verstehen werden, die manchmal durch die Gegenwart eines Jünglings versucht waren, an ein drittes Geschlecht zu glauben, zu dem man auch die jungen Tiere zählen würde.

Diesem Lucien gegenüber war die Pia nachsichtiger, gütiger. Ihm hatte man, da er noch klein war, hübsche Manieren beigebracht. Er hatte, wie sie, die Vorliebe für Schmuck, interessierte sich für geblümte Beinkleider, für perlengestickte Brokatjäckchen, für leichte, türkische Pantoffeln, für diesen Paradestaat, den sie manchmal anlegte, um mit Santa Maria la Bianca mehr zusammen zu stimmen, der allerreinsten toledanischen Perle ganz versteckt im Judenviertel. Himmlisch ist diese Synagoge in der Klarheit ihrer Arabesken, ihrer Rosetten, maurischen und byzantinischen Bogen und in deren Innern ein Bild eine liegende Jungfrau zeigt, die uns auf ihrem Spruchband sagt: »Ich liege am Ufer des Jordan und träume.«

Er beteiligte sich mit großem Ernste an dem hübschen Zeitvertreib, zu dem sie dieser vage Glaube an die Beseeltheit aller Dinge führte, dieser Glaube, der nie in den jungen Mädchen stirbt, die man in Andersens Märchen großzog. Einstweilen verhinderte beider Mangel an Erfahrung sie, herauszuempfinden, was selbst am gemeinsten Geschöpfe merkwürdig ist; sie trafen darin zusammen, die Gäste Delrios »Barbaren« zu nennen. Damit wollten sie die Fremden bezeichnen, mit denen ihre Sensibilität in keinen Kontakt kam. Ein Gekränktsein, ein Unbehagen und alles das Kindische, was man bei allen Jünglingen bemerken kann, die mit einem starken Fühlen begabt sind, und das für diese beiden jungen Leute zu einem geheimen Band wurde, aber auch zu einer inneren Vereinsamung.

II. Spaniens Wechseldouchen

Die Pia hatte für ihren Bruder Zutrauen und einen zärtlichen Blick, aber es fehlte ihr die Wärme. Aus Unklarheit befangen, hätte man von ihr sagen können. Geboren für die Rolle, die Delrio für sie wünschte, machte sie doch nicht die entsprechenden Gesten. Und sie war noch nicht jemand, mit dem er hätte aufrichtig sein können. Er gedachte sie zur Reife zu bringen, ihr den letzten leisen Fingerdruck zu geben, indem er ihr Spanien zeigte, das zügelloseste Land der Welt.

In ihren Sittlichkeiten gehen die Spanier gerade auf ihr Ziel los; unter einem intensiven Himmel bilden sie sich nach ihren Sensationen. Es ist ein Land für den Wilden, der nichts weiß, oder den Philosophen, der für alles blasiert ist, außer für die Energie. Italien ist weniger einfach, viel zusammengesetzter: in seiner Süßigkeit kannst du träumen; hier aber ist alles unvermittelt und von einer beißenden Schärfe.

Im Norden ist die Spanierin Unempfindlichkeit: fruchtbar und reichlich, und doch ist ihre Kälte aus verhaltenem Empfinden. Im Süden ist es ein unaufhaltsamer Strom von Sinnlichkeiten; – aber wer fürchtete, sich darin zu besudeln? er reißt uns fort als die Natur.

In diesem zwiefachen Lande ist alles Weichlichkeit und dann wieder nichts als Spannung und Schwung; der ewige Kampf der Kastilianer gegen die Mauren und gegen den Zauber Andalusiens. Ein langer Widerstand, ein mächtiger Gegensatz, aus dem das asketische Gefühl der heiligen Therese, die Dramatiker, die Maler und die königlichen Häuser Spaniens hervorgingen! Davon erwartete Delrio vieles für Pia, denn er betrachtete diesen heftigen Widerstreit als ein moralisches Excitans, ebenso wirkungsvoll, wie es in der Therapie die Wechseldouchen von siedheißem und eisigkaltem Wasser sind.

»Ich werde ihre Seele schmiegsamer und stärker machen,« sagte er sich. »Ich will ihr zu ihren himmlischen Gaben der Melancholie und Grazie in einem Alter, wo alle Eindrücke mit unserem Körper verwachsen, noch die Tiefe und die Glut der göttlichen Meister geben, zu denen ich sie an der Hand hinführe.«

Dem jungen Mädchen zu Gefallen, nahm Delrio Lucien auf die Reise mit. Die Kammerfrauen der Pia packten ihre Matrazen und ihre Bettwäsche ein, da sie nur darin schlafen konnte. Die kleine Karawane reiste ohne Unterbrechung nach dem Norden; Delrio wollte seine Schwester in den Herbheiten Kastiliens sich erhitzen lassen, ehe er sie in der Weichheit Andalusiens schmolz.

Zuerst zeigte er ihr den Eskurial als den Ort der Asketik und die granitne Übertragung der kastilianischen Zucht, die aus einer katholischen Vorstellung vom Tode kam.

Von einem Felsen dieser düsteren Sierra aus, der das ungeheure Kloster aufgebürdet worden war, welcher Reisende hat da nicht den Despotismus dieser Landschaft empfunden und die so schmerzhafte Regelmäßigkeit des Bauwerkes auf diesem verzerrten Horizont! Aber die meisten lehnen sich gegen diese Vergewaltigung ihrer Seele auf und kehren schnell in die elende Herberge zurück, um dort über die melancholische Laune der Maurer Philipp des Zweiten Witze zu machen. Vergebliche Mühe, das Erzittern ihres ganzen Wesens zu leugnen, das unter die Gewalt des kastilianischen Genies gekommen ist!

Dieser König, der seiner Allmächtigkeit ein Grabgewölbe zur Behausung gab, hält uns unter die Augen, daß »die Größe des Menschen darin ist, daß er sich elend erkennt«.

Über den ungeheuren Eskurial geneigt, den er von einer Anhöhe aus beherrschte, ergab sich Delrio dem Schwindelgefühl des asketischen Abgrundes; er gab dem katholischen Kaiserreiche des Schmerzes nach. Ein Gekreuzigter in Todesnot, von Geißeln zerfleischt und von Beleidigungen und Schrecken, zwingt der Erde seine Farben auf; und um die tiefsten Wellen unseres Bewußtseins zu bewegen und die Saiten des Idealen, ist nichts mächtiger als die Schönheiten eines Leprosenhauses. Diese durcheinandergeworfene, von düsteren Leidenschaften zerquälte Landschaft, die das königliche Kloster wie einen erdrückenden Block bläulichen Granits trägt, schien ihm genau die Komposition einer Landschaft zu sein, die ein meditierender Pascal seiner Phantasie schuf, um sie zu fixieren.

Es liegt mir wenig am inneren Gehalt der Philosophien. Es ist ihr Elan, den ich goutiere. Die Asketen Spaniens oder des Port-Royal nannten es für die Ewigkeit leben, was wir sich beobachten und die Nichtigkeit des Lebens begreifen nennen. Sollten diese gehobenen Seelenstände heute verloren gegangen sein?

Jeden Tag versuchte Delrio der Pia diese seine Betrachtungen mitzuteilen, während sie über die düsteren Höfe schritten unter eisigen Gewölben, denen es an Luft mangelt. So plötzlich aus der Mühelosigkeit ihrer toledaner Terrasse in ein schauerliches Gruftgewölbe gefallen, das da mitten in die Sierra hineingesiegelt war, um der Ewigkeit das Tête-à-tête eines Despoten mit seinem Gotte zu überliefern, fanden sie sich darin verloren wie Kinder in der Summa, dem Code oder der Geometrie. Unbehagen der Seele mehr noch als des Leibes! Was sie da bedrückte war weniger das starre und monochrome Labyrinth, als vielmehr die ganze Auffassung des Lebens, die moralische Methode, die Ethik, die sich hier symbolisierte. Ewiges granitnes Blau, harte, unnachgiebige Linien, welche die Seele in einer Weise einschnüren, daß sie, gäbe sie nichts in Gesten aus, verlöre sie nach außen nichts von ihrer Wärme, dem Dasein erstürbe und sich von diesem losringen würde wie eine Dynamitpatrone, die in einen Felsen gelegt, diesem nur entweichen kann, indem sie ihn in der Richtung gen Himmel zersprengt!

Immer wieder kommen sie zur Kirche, dem Mittelpunkte des Gebäudes zurück, und wenn die Pia da versucht, durch die Gitter der Seitenkapellen die auf den Beinhäusern gehäuften Reichtümer zu erkennen oder den Gängen entlang ein paar Bildnisse zu betrachten, die, wenn auch düster, sie in diesem dunklen Wirrsal von Lebensüberdruß und Todesschatten doch mit der Menschheit verbinden, da sagt ihr Delrio: »Was für eine Verkehrtheit! Besondere Sehenswürdigkeiten dürfen unsere Gedanken in dieser Kaserne der Abstraktion nicht ablenken. Du riskierst es, dieses Milieu herabzusetzen, das so außerordentlich ist, weil es uns der Zeit entrückt und uns ein Gefühl des Losgelöstseins von allen persönlichen Zufälligkeiten gibt.«

Er erlaubte es unter diesen unsagbaren gedankenerfüllten Gewölben nur zwei Gegenständen, die Aufmerksamkeit zu erregen: den beiden Gruppen der Königsstatuen von Leone Leoni, überlebensgroß, prachtstrotzend wie goldene Götzen und von so mächtigem Ausdruck, daß man bei dem Anblicke ihrer Gesichter ihre Bekenntnisse zu hören vermeinte, oder besser noch hinter sich im Schatten das Wispern ihrer Kammerdiener. Das Gold auf den Beinhäusern dürfte wohl die einzige Zerstreuung sein, die der Eskurial der Phantasie zu bieten hat.

Eine kleine Seele, zitternde Sklavin ihrer Sensationen, war die Pia am Zusammensinken vor Ermüdung, die sich mit Grauen mischte. Weniger um frische Luft zu schöpfen als um dieser Philosophie zu entrinnen, wo der Tod sich selbst seiner Romantik entkleidet, näherte sie sich den Fenstern. Hinter ihren Gitterstäben sah sie den Springbrunnen der Infantin, einen jämmerlichen Trog, Päonien in der dunklen Einfriedung, geduckter noch als der Stein. In diesen unversöhnlichen Mauern ist also nichts sonst zu erwarten als die Spiele des Denkens! Das war zu viel und sie schien ohnmächtig zu werden.

Er nahm sie, schleppte sie fort und als sie auf den Terrassen einen granitgefaßten Tümpel erreichten, dessen Wasser die Schwalben berührten, weinte sie. Sie fand endlich in dieser unversöhnlichen Tragik etwas, das sich bis zur Melancholie herabließ.

Später, des Nachts, in dem traurigen Gasthaus, nach dem einsilbigen Abendessen, als die Pia sich niedergelegt hatte und ihn, wie es alle Abende seine Gewohnheit war, mit ihren Händen und Ringen spielen ließ:

– Reisen wir nicht ab, sagte sie, von einer Art von Trunkenheit für den Abgrund erfaßt. Hier sehe ich am besten, wie du mir allein auf der Welt bist.

– Machen wir rasch ein Ende, antwortete er. Unser schmerzliches Glück vom Eskurial wirst du weit heftiger noch empfinden, wenn wir aus dieser Disziplin in das Aufblühen Andalusiens kommen werden.

Zwei Tage später waren sie in Granada.

Ihre erste Nacht konnten sie nicht schlafen, so brauste unter ihren halb offenen Fenstern die ganze Stadt, die sich Kühlung auf der Alameda sucht. Delrio klopfte an die Türe seiner Schwester und die kleine, weiße Gestalt, die sich in der Dunkelheit ankleidet, gesellt sich zu ihm. Sie gingen aus. Beide waren von dem Glück erregt, im Dämmerscheine der duftenden Nacht an den Orten herumzustreifen, die sie zum ersten Male betrat.

In den Feigenbäumen, den Magnolien, den Steineichen, Pistazienbäumen und dem blühenden Lorbeer kündete sich bald leise der Morgen an und das junge Licht verschwendete seine Effekte. Der Mangel an Schlaf, der in diesen milden Ländern kein Unbehagen ist, machte sie nur etwas weicher und ihre Körper empfänglicher für die Köstlichkeiten der Natur.

Granada ist auf den Gipfeln dreier Hügel erbaut, die sich von hohen, schneebedeckten Bergen abheben. Seine Häuser und wundervollen Bäume bedecken Abhänge, die sanft abfallen, um an der Schwelle einer ungeheuren, gesegneten grünen Ebene zu enden. Der untere Teil der Stadt ist modern; man trifft dort die Herren aus den Klubs oder vielmehr die Herren, die Aperitifs nehmen, wie man sie im ganzen Süden Frankreichs findet, in Spanien und Italien; Wichtigtuer, Gecken und Halbelegants; und wenn man dann die Freitreppe der Cartuja, auf deren Stufen sich die Bettler, die Krüppel lagern, als eine der erstaunlichsten menschlichen Faulgruben bezeichnet, und darauf die Bedeutungslosigkeit der granadischen Malerschule festgestellt hat, die in der Kathedrale deutlich wird, so kennt man das Wesentlichste. Der ganze Zauber liegt im alten Granada, dessen verfallene Gäßchen sich aufwärts schlängeln, um bis zu den Abhängen der Alhambra und des Albaycin emporzuklettern, wo sie sich bei Tageslicht ein malerisches Vis-à-vis geben.

Als die größte Hitze des Tages vorüber war, besuchten die Pia, Lucien und Delrio die Alhambra. Es ist nicht ein einfaches, hervorragendes Bauwerk, sondern ein ganzes Stadtviertel. Man findet dort unter ungeheuren Baumschatten eine Kirche, Hotels, altes Gemäuer, Ruinen, welche die maurischen Könige überleben, und deren Sommerpalast, den Generalife, sehr fein, sehr schmucklos mitten in seinen Gärten und Springbrunnen, aus denen der Schnee der Gipfel rieselt, die einem immer wolkenlosen Himmel den Horizont geben.

Von den kleinen Gärten der Alhambra aus genossen sie unvergleichliche Blicke auf die weite Ebene, die Granada so heiter macht. Die Erdfalten und die Berge Andalusiens breiten sich aus wie wundervolle Draperien. In der Vega ist alles Anmut und Lieblichkeit. Die Luft, die von den ewigen Schneefeldern oberhalb der tropischen Gärten kommt, bringt mehr Frische und Verwirrung auf dein Gesicht als am Abend der junge Mund der Spanierinnen von fünfzehn Jahren es vermöchte.

Die Pia gab sich diesen großartigen Weiten mit mehr Lust hin als es ihre nervöse Kraft erlaubte. Ihre Augen wurden müde, bevor ihr Herz sich des Lichtes zu erfreuen aufgehört hätte, und die Augenlider senkend, streckte sie die Hände aus, um noch mehr von der Helligkeit zu fassen.

Granadas Zauber ist gar nicht kompliziert: er liegt darin, daß es die schönsten Bäume des Nordens und fließendes Gewässer unter einer afrikanischen Sonne hat. Sein Name zieht die ganze Welt an, aber es ist nur ein Zelt in einer Oase und das allerweichste Kopfkissen der Erde unter einem köstlich gestickten Sonnendache.

Weder dieser zerbrechliche Dekor, noch das sinnliche Wohlbehagen können einen tiefen Eindruck auf die Seelen üben, die sie auf die Dauer aber doch stumpf und schlaff zu machen wüßten. Delrio, dem daran lag, alle Vorzüge dieser Station zu nützen, damit das Bild der Landschaft in der Seele des jungen Mädchens einen vollendeten Sinn bekomme, stachelte darum den Führer an, ihnen eine Menge Vorkommnisse zu berichten, bei denen das Entzückende sich mit dem Schrecklichen vermischte, das auf diesen Steinfliesen Spuren von Blut und Liebe zurückließ.

Er wollte, daß in der Phantasie seiner Freundin von der Porta Elvira an bis zu der von Bivarambla alle Stätten der Alhambra ihren großen und naiven Sinn bekämen, und daß sie mit ihren Legenden sich an maurischen Damen belebten, den Sarazenenrittern im grünen Überkleide, roten Mänteln, goldenen. Sporen, breiten, silbernen Steigbügeln, wie sie auf isabellenfarbenen Hengsten und spanischen Stuten reiten und ganz stolz auf ihre Federbüsche sind. Der Romanzero ist über ganz Andalusien verbreitet und dehnt sich noch bis über Ubeda, la Guardia, Andujar, Baeça, Jaen, Riofrio, Alhama, Quesada, Cacorba aus, lauter ärmliche und köstliche Städte, eiserne Bijous, heftige und wilde Schreie, die stark an die Seele schlagen und sie karessieren. Granadas Sturz ist so berühmt wie der Fall von Troja; die Romanze, die seufzen macht, prägt sich dem Gedächtnisse der Menschen, denen sie ein Zeitvertreib ist, ebenso fest ein, wie die Tragödie, die sie härter macht. El Rey Chico, der kleine König Boabdil, der Feigling, Verräter und Mörder, ist für uns halbverhüllt von den niederhängenden Zweigen dieses Oleanderbaumes, unter dem er sich versteckte an einem Tage, wo seine Soldaten tapfer für seine Sache starben. Wir haben nichts gegen ihn und verteidigen ihn, weil man ihm ja doch den Beinamen Zogoibi, den vom Mißgeschick Verfolgten gegeben hat und da er unter einem Unglücksstern geboren war. Bei der Betrachtung des Tores, durch das er die Alhambra verließ von dem er als allerhöchste Gnade erbat, daß es für immer zugemauert werde, im Verfolg des Weges auf der Seite von San-Antonio-il-Viejo hin, den er eigens bauen ließ, um in das christliche Lager zu fliehen, ohne mit seinen Mauren zusammenzustoßen, da sagt man sich: um so am Dasein zu hängen, muß dieser Schattenkönig unvergleichliche Wollüste gekannt haben.

Um diese Atmosphäre reinster Romantik zu komplettieren, machte Delrio seine kleine Schwester auf das Porträt der Maria von Neuburg aufmerksam, ein etwas aufgedunsenes Gesicht, wie oft in Österreich, und die mit ihrem Finger auf eine Blume zwischen ihren von der Zeit verblaßten Brüsten zeigt. Währenddem atmete die Pia selber den Duft einer Teerose ein, die nach Sumpfwasser roch und Traurigkeit ausströmte.

Allen Besuchern schenken die Führer und Gärtner Blumensträuße; sobald die Sonne untergegangen ist und die Parasiten sich entfernt haben, sind diese ungeheueren Blumenspaliere ihres Glorienscheines beraubt, aber in ihrer geheimnisvollen Einsamkeit, zur Stunde, wo der magische Mond die Alhambra besucht, während die fleischvertilgenden Engländer auf den Hotelklavieren klimpern und zueinander sagen: »beautiful«, da fassen die Rosen wieder Mut und denken immer, daß Lindaraja am nächsten Morgen den Wohlgeruch von Tausenden von ihnen nötig haben wird und sie erblühen aufs neue. Die Loyalität und die Verschwendungssucht der Rosen von Bätika sind ohne Ermüden.

Die drei Reisenden beschlossen den Tag mit einer Wagenfahrt zum Gebirgspasse von Alhendin, wo Granada dem Auge entschwindet, wenn man sich der Alpujarra zuwendet. Die Araber nennen ihn Fedj-Allak-Akbar, in Erinnerung der Worte, die Boabdil sprach, als er mit einem letzten Blicke auf seine Paläste ausrief: »Gott ist groß« und Tränen vergoß. Die Spanier nennen es: »El ultimo sospiro del rey moro.« Die Mutter des Flüchtlings beschimpfte ihn: »Du tust gut daran, wie eine Frau das zu beweinen, was du als Mann nicht verteidigen konntest.« Aber ein Vezier sagte ihm: »Bedenke Herr, daß die Trübsal diejenigen erhöht, die sie mit Standhaftigkeit ertragen.« »Ach,« antwortete er, »welches Mißgeschick kam je dem meinen gleich!« Gegen das Jahr 1851 fand man beim Abbruch der alten arabischen Häuser in Tlemcen eine Türschwelle von Onyx, welche die Grabschrift des jungen Königs trug. Sein Grabstein war von den Muselmännern aus Verachtung mit Füßen getreten worden; sie konnten ihm den Sturz des Islam in Spanien nicht vergeben. Die Feigheit und das Schicksal dieses Genußmenschen erregten das Mitgefühl der Pia, denn sie selbst hielt sich für schwach, und um derartige Herzensnöte ertragen zu können, hätte sie Chloroform verlangt.

Von der ganzen Reise schien dieser Tag dem Geschmacke des jungen Mädchens am meisten zuzusagen. Sie fand nichts, was übermächtig auf sie eingestürmt wäre und sie dem drückenden Zwange des Nachdenkens aussetzte in einem Alter, wo man es vorzieht, dem Herzen nachzugeben.

An einem Nachmittage besuchten sie die kahlen Hänge des Albaycin, wo in felsgehauenen Löchern, zwischen riesenhaften Kakteen, das ausgehungerte Volk der Zigeuner seinen Unterschlupf sucht.

Was für eine Romantik hat dieses schweifende Volk in die Welt gebracht! Sieht man diese jungen Mädchen vorübergehen, wird der Spruch, daß man nichts lieben kann, was man nicht achtet, zur plattesten Albernheit. Sie tanzen, flittergestickte Lumpen um die Lenden geschlungen, Glut in den langgeschlitzten Augen, die nicht sagen, ob sie Feind oder Freund sind. Auf allen Landstraßen Europas erwecken sie in der Seele der Arglosen eine Sinnlichkeit, analog jener zärtlichen und unkeuschen Träumerei, welche die Maler und die Dichter um die Herodias gelegt haben, die eine Blüte und ein Aroma ist.

Halb nackte Bettler beider Geschlechter erschienen am Eingang der Höhlen. Sechs kleine Mädchen gingen, rückwärts schreitend, vor den drei Besuchern her, legten ihre Hände auf ihre etwas dicken Mäuler und wiederholten immerzu gegen die Pia gewendet: »Bonita caramella.« Süß wie ein Bonbon! Die Pia, etwas ängstlich, daß sie ihre Kleider mit den Fingern berührten, wollte sich in eine Kirche flüchten; aber mit der allergrößten Schnelligkeit veranstaltete die Älteste, die wohl acht Jahre zählen konnte, auf dem köstlich kühlen Kirchenvorplatz einen ganz seltsamen Tanz, wobei Freiheiten junger Tiere beinah frauenhafte Hüften zur Schau stellten. Verwirrende Phantasie, diese habgierigen Kinder einen ketzerhaften Zorongo im frommen Halbdunkel tanzen zu sehen! Aber das Unheimliche bei der Sache und das unvergeßliche Zeichen waren die auf Lucien und Delrio gerichteten zu glänzenden Pupillen und das Augenzwinkern, das in dem kleinen Mädchen schon die alte Kupplerin verriet ... Längs des Fußweges plagten diese schlechten Kinder die drei jungen Leute unablässig mit ihrem Geschrei und ihrem, schwindelerregenden Herumspringen auf den glühenden Kieselsteinen, immer die Hand ausgestreckt, und um verständlich zu machen, daß sie fortgingen, wenn man ihnen etwas schenkte, verflochten sie in ihre Forderung den Ausruf des Unwillens, den ihnen schon so oft geärgerte Fremde hingeworfen hatten: »Fünf Centesimos und macht, daß ihr weiterkommt! ... Fünf Centesimos und macht, daß ihr weiterkommt!«

Es war sechs Uhr abends; das Scheiden eines sieghaft strahlenden Tages; aber die Natur läßt uns, wenn sie diese Herrlichkeit erreicht, ihre unerbittliche Gleichgültigkeit für unsern Jammer allzusehr fühlen; sie steigert unsere Vereinsamung. Zudem hatte das häßliche Augenzwinkern des unbekannten Zigeunerkindes von Granada das junge Mädchen in verschleierter Weise, aber genügend, um ihr das Herz zusammenzuschnüren, auf die Verwirrungen des Verlangens und auf Demütigungen gewiesen, die gewisse dunkle Triebe unseres Blutes mit sich führen.

Wenige Tage später, als die Pia wieder das Tal von Genil emporstieg, nicht weit von dem denkwürdigen Platze, wo der harte Sieger den Schlüssel aus den Händen des kleinen Königs Boabdil empfing, feierten auf dem gegenüberliegenden Berghange fünfzig schrille Kinderstimmen die allerreinste Jungfrau. Längs des Zigeunerviertels zog eine Prozession. Die Pia erkannte die kleinen Bettlerinnen. Umsonst schrieen sie mit einer offiziellen Stimme in die Berge: »Maria ... Ora pro nobis, Maria,« das Echo wiederholte: »Merito, senora, cinco centesimos.«

Für gewöhnlich pflegte Delrio die beiden jungen Leute nicht zu begleiten. In den Höfen und auf den mit Bäumen bepflanzten Terrassen der Alhambra fühlte er die höfische Atmosphäre, aber nichts was vom Besucher einen höheren Seelenstand verlangt hätte. Er hatte die Empfindung, in einem Bijou zu lustwandeln. Diese Art Schönheit fesselt die Seele an Kleinigkeiten. Er zog es vor, einige Zeit des Morgens, und des Abends in der Alameda unter einem blühenden Magnolienbaume zu verbringen.

Eines Tages, morgens um neun Uhr, wenn die Frische vergeht, trafen ihn die beiden jungen Leute unter diesem wunderbaren, in herrlicher Kraft schimmernden Baume, der Wohlgerüche aushaucht, eine Vereinigung der Rose, der Narzisse und der Orangenblüte. Neben der Bank, auf der er es sich bequem machte, war ein Leierkasten von einem orientalischen Esel gezogen, den ein guter Hund und zwei kleine Knaben begleiteten; der eine drehte die Kurbel der Drehorgel, der andere die Ohren des Tieres. Als Lucien und Pia sich darüber freuten, daß Delrio so vergnügt war, sagte er zu ihnen:

– Meine kleine Schwester, diese Kinder, der Hund, und das Lied in dieser sonnendurchflimmerten Luft, das alles bereitet mir eine ganz makellose Freude, eine Reinheit des Genießens, die dem Gefühle gleichkommt, das ich von deiner zärtlichen Freundschaft habe. Meine Befriedigung ist vollkommen, wenn ich in deinen Augen, wo ich Tränen zu sehen fürchtete, etwas vom Ernste des Eskurials wiederfinde, den du zweifellos bereits vergessen hast.

Die Pia schwieg mit betrübter Miene, weil er es für möglich hielt, daß sie die verworrenen Dinge, die sie gemeinsam empfunden hatten, hätte vergessen können.

Am Tage der Abreise begaben sich Pia und Lucien zu den Wagen, wobei sie den kleinen Esel vor sich her trieben, der so mit den allerschönsten Magnolienzweigen beladen war, daß er wie ein Tulpenbündel aussah, wie eine wandelnde, balsamisch duftende Kugel.

– Wir haben, sagten sie, eine um die andere deiner Lieblingsblumen von dem Magnolienbaume abgeschnitten, weil sie die berauschendsten und allergrößten sind und bringen sie dir dar als Symbol der Herrschergewalt und des Feuers, die in dir sind.

Er erkannte wohl ihre freundschaftliche Absicht, aber eine gewisse moralische Unbefangenheit hatte ihnen jene subtileren Gefühlsäußerungen noch vorenthalten, mit denen man heimlich die Banalität eines mondänen Lebens umgehen muß. Ihm wäre es lieber gewesen, der Faden seiner Erinnerungen hätte sich in Granada an etwas Freudiges geknüpft und nicht an einen verstümmelten Baum.

Die weißen Kelche der großen Blumen, die sie mitnahmen, fleckten sich mit dem Tode. Unter dem Zwange des Leidens entfalteten sich noch einige Blumenknospen. Diese fleischrosa-verfärbten, abgeschnittenen Haufen machten den Eindruck der allertraurigsten Zerstörung und des höchsten Leidens.

Sie reisten zwei Tage im Wagen, um durch Ermüdung sich das Land noch näher zu bringen; sie nahmen sich vor, von Jaen aus mit der Eisenbahn nach Toledo zu fahren.

Bei der Ausfahrt aus Granada jagten ihre mit allen Glöckchen Spaniens gezierten Maultiere einen Mückenschwarm auf, der die Bettler der Cartuja belagert hatte. Die große Julihitze begann; um diese Jahreszeit rieseln die geschmolzenen Schneemassen mit doppelter Kraft in die Stadt und ihre paradiesischen Gärten nieder. Die Feigenbäume mit den glänzenden Blättern, die bescheidene Olive, der Weinstock, alle Gattungen Obstbäume vermischen sich mit den großen Gewächsen der heißen Zone, unter denen selbst das Zuckerrohr nicht fehlt. Unter den glitzernden Türmen der Alhambra ist die grüne Vega, von blauen Bergen umgeben, wie ein Smaragd in einen Saphyr eingefügt. Aber als unsere Reisenden die Sierra Elvira erklommen, bot diese ihre roten, zerklüfteten Abhänge dar, von der Sonne zu Staub zermürbt, bedeckt von den kriechenden Zweigen der Kapernstaude. In den Felsenspalten streckten Agaven ihre unbeweglichen und bläulichen Blätter dem glühenden Himmel entgegen, Salbei und Cistusrosen hauchten ihren Geruch aus. Die Pferde rasteten bei der Venta del Zegri, von der aus man die kühlen, klaren, riesenhaften Gruppen der Sierra Nevada überblickt. Am Ende des Engpasses Puerto Carretero fanden sie in der kleinen Stadt Campillas de Arenas ein erbärmliches Nest für die Nacht. Am nächsten Tage ging es durch ein felsiges, endloses Tal, dessen klaren, tosenden Bach zeitweilig lange Linien von enormen Oleanderbäumen beschatten; öfters aber noch bedecken in seltenen Flecken nur Fenchel und Ginster die glühenden Abhänge. Sie erreichten Jaen la Moresca, das Granada fast gleicht, ganz mit weißem Kalk getüncht und wie eine Seemuschel auf die Abhänge eines rötlichgelben Berges gestülpt, an dem schreckhafte alte, grün umsponnene Mauern emporklimmen. Noch ein dritter solcher Rastplatz und die Pia wäre krank geworden.

Schweißtropfen auf der zarten Stirne, vertrocknete Lippen, vom Durst gequält, die Schlaffheit eines jungen Körpers, der trotz der Stöße des Wagens zu schlummern versucht, diese ganze Ordnungslosigkeit der Natur in einem noch mysteriösen Wesen und auf einem Angesichte, dessen schöne Augen noch niemals im verdächtigen Schimmer des Verlangens erglänzten, das ist genug, um uns zu verwirren und unsere Gedanken an die Geheimnisse der Schönheit zu führen.

III. Wenn ein junges Weib die Leere ihres Herzens und ihrer Hände fühlt

Als alle drei wieder nach Toledo gekommen waren, mußte Delrio Geschäfte halber für drei Tage verreisen. Damit die Pia nicht ein Dornröschen werde, und um die Sorgfalt zu verdoppeln, unter der sich eine Seele bereits zu bilden begann, wählte er fünf oder sechs der allerromantischsten Stücke des spanischen Theaters aus und bat Lucien, sie selbst zu lesen und sie dann ihrer Freundin vorzulesen im dufterfüllten Schatten der inneren Höfe oder angesichts Toledos in den günstigen Abendstunden, wenn ein junges Weib die Leere in ihrem Herzen und in ihren Händen fühlt.

Sie liebte den »Glücklichen Ruffian« des Cervantes, eine Art verwilderten, verbrecherischen Don Juans, der sich bekehrte und ein so großer Heiliger wurde, daß er zwanzig Jahre später in Mexiko an das Bett einer Kurtisane, seiner ehemaligen Geliebten, gerufen, dieser in aller Form seine Tugenden und guten Werke zediert und die Sünden, die sie beschweren, auf sich nimmt, so daß ihre Seele in den Himmel fährt, er aber von neuem ein Leben der Reue und Buße beginnen muß; – die »Tote Königin« von Luis Velez Guevara, eine unendlich traurige Begebenheit, die sich in diesem kleinen Hause von Portugal abspielt, wo sich inmitten von Blumen und großen Bäumen die naive Sinnlichkeit eines jungen Weibes entfaltet, das ein Greis grausam zum Tode verdammt, den er mit ihr beweint; – »Der Arzt seiner Ehre« von Calderon, in der uns die harmlose zum Unglück bestimmte Mencia als eine so rührende Gestalt entgegentritt, nachts, in der Laube ihres Gartens, mit ihren Frauen, welche die Gitarre spielen, währenddem, o Gott! der Eifersüchtige und der «Wüstling nahen, durch den sie stirbt; – »Treu bis in den Tod« von Lope de Vega – Geschichte des jungen, ungestümen, zärtlichen Mazias, dessen Treue das Sprichwort unsterblich machte: »Enamorado coma Mazias«, der seine Geliebte trotz aller Hindernisse anbetete, selbst als er in der ersten Nacht, nachdem sie seinen Rivalen geheiratet hatte, durch die Türe ihre gemeinsamen Seufzer vernahm; – endlich der »Aus Unglauben Verdammte« von Tirso de Molina, wo unerbittlich gelehrt wird, das Tun zu verachten und nichts sonst Wert zu geben als der inneren Begeisterung, denn man sieht da einen Anachoreten nach zehn Jahren der Buße und Kasteiung mit einem Schlage die Gnade verlieren und dafür der Verdammnis anheimfallen, während ein Bandit besudelt mit Schändung, Gotteslästerung und Morden, die Vergebung erlangt durch einen Schrei des Glaubens in der Todesstunde.

Diese brennenden Schilderungen der Liebe und des Katholizismus interessierten die Pia, ohne jemals ihre Vernunft zu verwirren, denn ihr Herz schlug ebenso rasch als das Herz dieser Männer und Frauen, und ihre Phantasie überflog, wie jene der Helden in den Dramen, fünf, sechs Gedankenassoziationen, um zu den letzten Dingen zu kommen. Woher hatte sie dieses Gefühl des Sichaufgebens, dieses Sich-dem-Schicksale-Unterordnen, das die Lehre von der Gnade rechtfertigt und das ich im spanischen Gehirn als ein augenscheinliches Überbleibsel des orientalischen Fatalismus ansehe? Sie befriedigte den ihren mit diesen Dramatikern. Vielleicht waren auch ihre zwanzig Jahre nicht so sehr in Schlummer befangen, daß sie dem Erwachen ihrer Sinne entgangen wäre.

Simone konnte eines Tages Psyche sein, die eine Fackel anzündet, um den schlafenden, nackten Amor zu betrachten. Ein sinnlicher Affekt, der den Gedanken an etwas Abstoßendes nicht aufkommen läßt, weil wir darin nur eine nachgebende und ungezwungene Geste sehen.

Eines Abends, als sie nach solcher Lektüre von ihrer Einsiedelei aus die Berge von Toledo betrachteten, ein Blick, nie satt zu bekommen, fühlten diese Kinder, unter einem stummen Himmel von Leidenschaft ganz umschlossen und gehalten, das unwiderstehliche Verlangen, ihrer Einsamkeit zu entrinnen und all dem Schönen entgegen zu gehen, sich damit zu vermengen, teilzunehmen an dieser Wollust, von der ausgeschlossen zu sein ihre Herzen bedrückt waren.

Auf der Tajobrücke blieben sie stehen, um die Kühlung, die da aus dem Schlamme aufsteigt, zu atmen, und klommen dann langsam die spitzkieseligen Gäßchen zur Kathedrale hinauf.

Von dieser hohen Terrasse aus hat man immer dieses Erhabene, das niemals die Seele sättigt, da es sie mit seiner Fülle weitet ins Unendliche.

Toledos Erde, Fels, Vegetation machen trostlos durch ihr Elend, und doch ist es ihr Stil, im Beschauer jeden gewöhnlichen Gedanken zu unterdrücken. Und dann, dort unten, da ist der Fluß, wie ein schwerfälliges Schlangenkriechen des Fiebers, und sind die Ruinen der Vorstadt von Antequerela, ebenso aufregend für die Phantasie wie das Geheul und der Geruch der Hyänen in den Friedhöfen des Orients.

Durch Castiliens Schroffheit geht ein langer Seufzer Andalusiens! Über dieser zugleich maurischen und katholischen Stadt vermählen sich die Düfte, die aus der Sierra aufsteigen, mit dem Geruche der Wachskerzen, der sich aus den Kirchen stiehlt. Die Sensationen des Eskurial und der Alhambra schwellten gleichzeitig Pias Brust, und aus ihrem equivoken Gemisch, das weit davon war, sich gegenseitig abzuschwächen, sogen sie die Gewalt, die Trauer widerstreitender Leidenschaften.

Was wäre, wenn die Pia sich in dieses Häuserlabyrinth hineinwagte, wo jede Türeinrahmung eine Inschrift gegen die Pest und das Unwetter trägt, noch dazu bei Nacht, wenn leichenfarbiger Mondschein die Totenstille erhöhte! ... Nie werden wir die plötzlich auftauchenden Lichter der Mönche vergessen, die sich morgens gegen zwei Uhr hin und her bewegten, während ihr schauerliches Singen, von der Orgel verstärkt, hinter grabesdüsteren Mauern aufstieg. Etwas weiter entfernt klangen himmlische Klagen aus Santo Domingo el Real, dem Kloster der Karmeliterinnen, in dem die heilige Therese an Neuralgien litt ...

Pia und Lucien betraten die Kathedrale, die der prächtigst möblierte Raum der ganzen Welt ist.

Eine große Kupferplatte, die ich in der Kirche von Toledo mit Füßen trat, scheinen sich gewisse Geister in ihrer Unruhe beständig vor Augen zu halten, sie trägt nichts als die Worte: »Hic jacet pulvis, cinis et nihil.« Hier ruht Staub, Asche und Nichts. Sie ließ ihr Herz höher schlagen als irgendein Wort von einem Dichter. Das Gotteshaus verkündet uns durch die Stimme des Toten, der keinen Grund mehr zu lügen hat, die große verborgene Wahrheit und schrieb sie auf eine Platte, damit, letztes Raffinement, alle Menschen darüber hinwegschreiten müssen! Bin ich denn sicher in dieser Überfülle von Pracht, nach der immer meine Sehnsucht geht, ob dieser sublime Ton, der Toledo glänzend machte, daß ich es ewig lieben muß, nicht aus, diesen drei trockenen Worten pulvis, cinis, nihil gemacht ist, aufgerafft von meiner Jugend, die nur ein lang währendes Träumen war?

Es wäre schwer für ein junges Geschöpf, nicht deprimiert zu sein, wenn es sich auf einen solchen Stein der Wahrheit niederkniet. Glücklicherweise hatte die Pia für ihre einsamen Besuche hinter dem Altarbild der Capilla Mayor in dem Transparento kleine Marquisen aus weißem Marmor gefunden, in lange Nachthemden gehüllt, – die Schwestern einer heiligen Theresa des Bernini, die man in Santa Maria della Vittoria in Rom sieht – und in ihnen ihre eigenen älteren Schwestern. Es kam ihr vor, als lebte sie in Familiarität mit ihnen und als machte es ihnen Spaß, sich vor ihr auszukleiden. Diese Figuren, die einzigen churrigeresken Stiles, die man in diesem düstern Bauwerk findet, gaben ihr oft einen Halt; dank ihrer Gegenwart konnte Pia gerade wie eine Infantin, die von ihren Damen umgeben sich den Eskurial anzupassen vermochte, die Größe, die Höhe und die Tiefe dieses Ortes ertragen.

Heute kann sie, da Lucien zur Seite mit ist, ihrer graziösen Beschützerinnen entbehren; sie schreitet geradewegs auf den Stein zu, in dem sich die Fußspuren der Jungfrau Maria eingeprägt haben. Vor dem glitzernden Feuer der Saphyre, Rubinen und Perlen, unter dem Scheine der ewigen Lampen kniet sie nieder, um sich ganz der Sensation hinzugeben, inmitten dieser Kostbarkeiten ein ganz niederes Wesen zu sein, eine arme, kleine, in der weiten Welt verloren gegangene Perle.

Aber mit der Zeit litt Lucien, als er sah, daß er inmitten dieser Dinge prunkenden Geschmackes deplaziert sei, während seine Freundin einer der tausend Edelsteine zu sein schien, die an der Glorie dieser Sonne von Schönheit mitarbeiteten: z. B. einer der kleinen Türkisen, die am Fußgelenk der Maria grünten.

Auf sie zugehend sagte er: »Meine Königin, Sie verachten mich!« Da sah er, daß ihr Gesicht naß von Tränen war, was ihn so stark erschütterte, daß er seine Lippen auf die des jungen Mädchens drückte, und ohne daß sie ihre jungfräuliche Reinheit verlor, vergingen diese beiden armen Kinder in küssender Ohnmacht.

Aber auf einmal weckte sie das Gefühl ihrer wahren Liebe auf. Sie fühlte ganz dumpf und verzweifelt, daß sie von ihrer wirklichen Bestimmung abgewichen war; diesen Wonneschauer, den alle Spanierinnen rechtfertigten oder verlangten, hätte sie nur in den Armen ihres Bruders und eigentlichen Herrn völlig harmonisch empfinden können.

Vierzehn Tage lang verblieb sie, ohne daß ihre Fähigkeit zu leiden nachließ, in einer kraftlosen, niedergeschlagenen, finsteren Verfassung. Alle ihre Glieder schienen ihr abgestorben, aber ihr Geist wachte: sie fühlte sich erstarrt und gelähmt bis auf eine Stelle, ihr Herz, das eine unmögliche Leidenschaft überempfindlich machte. Trotzdem sie nicht imstande war aufzustehen, mit welchem Elan würde sie, mit Aufwand aller ihrer Körperkräfte sich auf den Ausweg geworfen haben, den sie gesehen hatte!

Als Delrio, der eilig zurückgekehrt war, sich über das Bett der Fiebernden beugte, bekam sie furchtbare Schüttelfröste, einen Weinkrampf und dann, als man sie für einen Moment allein gelassen, brachte sie sich eine tödliche Verwundung durch eine Kugel bei. Es war so, daß man es nicht anders erklären konnte, als daß das exaltierte und gewissenhafte Kind nicht über die Überzeugung hinauskam, daß ihr Glück nur in einer widernatürlichen Sünde gewesen wäre und sie sich diesem ihrem Schicksal nicht gewachsen zeigen könnte.

Ganz entsetzt von ihren Leiden verkauerte sie sich in ihrem Bette und antwortete nicht mehr als ein armer Hund. Delrio legte seine Hand auf ihr Herz und sprach ihr vom einen und andern, das sie erregt haben konnte, und als er den Namen Lucien aussprach, bestätigte ein stärkeres Klopfen seine Besorgnisse, ohne daß es ihm die Wahrheit mitteilte. Der Unsinnige! er glaubte, sie hätte sich ihm hingegeben, sie, die starb, weil sie geahnt hatte, für wen sie sich aufsparen wollte! Und beim Gedanken, sie habe Lucien bis zur Hingabe ihres Körpers geliebt, empfand er etwas, das ihn vielleicht zu einer kränkenden Äußerung verleitet hätte, wäre sie nicht im Sterben gelegen.

Erregt von dieser falschen Empfindung sprach er ihr von Lucien, aber in so unklaren Ausdrücken, daß sie ihnen nur eine Anspielung auf den Kuß in der Kirche entnahm. Und als er andeutete, daß er wisse, welcher Leidenschaft sie den Tod vorgezogen habe, glaubte sie sich erraten.

O! wenn ich immer hätte lügen müssen, antwortete sie – ich hätte nicht weiterleben können. Wie glücklich bin ich, jetzt, wo du die Wahrheit weißt! So genoß sie die Süßigkeit eines Liebesgeständnisses. Aber er beharrte bei der Idee, es handle sich um Lucien. Ohne Zweifel, sagte er sich, besteht diese Sache schon lange! Und ganz laut: Ich danke dir, daß du mich belogen hast, ich danke dir, daß du mir durch deine Lüge ein glückliches Leben bereitet hast.

Die Umstände hatten an diesem Bette des Todes und der Liebe ein Mißverständnis geschaffen, aber sein ganzes Benehmen als Bruder und Geliebter war dem jungen Mädchen ein Beweis seiner zärtlichen Gefühle, von denen er nicht ahnte, daß sie gerade an ihnen stürbe, und deren Geständnis er nicht hörte.

«Wie schön war sie, seine Schwester, deren junger Körper sich unter den Bettüchern abzeichnete und bald glühend, bald fieber-erstarrt den Tod fühlte!

Er nahm sie in seine Arme und preßte seine Lippen auf ihre zarten Schultern und er gab ihr mit zärtlichen Worten die letzten Tröstungen.

– Schweig, schweig, sagte sie ihm, deine Stimme allein ist es, die mich am Leben hält und ich will sterben.

– Du wirst sterben, meine geliebte Vollkommene, in meinen Armen wirst du mit dem Tode ringen. In diesen letzten Augenblicken vertrau mir deinen letzten Atemzug an, daß ich ihn in meinem ersten Seufzer der Trauer aushauche. Laß meinen Leib an dem deinen die letzte Wärme nehmen, daß ich damit deinen Leichnam noch für ein paar Stunden erwärmen kann. Nimm unter deinen Tränen mein Bild in deine Augen auf, daß ich über seinem Widerschein, den deine versiegenden Tränen verdunkeln, dir, geliebtes Kind, die Lider schließe.

Aus einem Gefühl von Keuschheit und Liebe sagte sie zu ihm:

– Fühlst du dich nicht abgestoßen, mich zu umarmen, krank wie ich bin? ...

Aber das mit einer Stimme, daß er antwortete:

– O meine schöne Nelke, die nun nicht mehr die melancholische Pia ist, seit deiner erstaunlichen und überraschenden Entscheidung, wie so sehr liebe ich dich, so blutüberströmt! und wie verlangt es mich nach dir unter dieser Blässe und Röte des Todes!

Und das ganz leise Stöhnen, das ihr die Wunde abrang, klang mit ihren halb erstickten Geständnissen zusammen, und sie drückte im Sterben die Hände ihres Herzensfreundes gegen ihre kleinen, blutbefleckten Brüste.

In der äußersten Anspannung aller Kräfte seiner Halbschwester erkannte Delrio das Geheimnis, das sie zu scheiden bestimmte, aber es war mehr ein Fühlen als ein Wissen. Eine vollkommene Klarheit ist ja immer nur in den Diskussionen durchaus nötig; dunkle Erlebnisse und Probleme, die auf die unklarste Weise gestellt werden, können ungemein fruchtbar für uns sein. Delrio fühlte von diesem Tode eine unvergängliche Wunde; das Andenken an die Pia gab seiner Seele etwas Konstantes und von nun ab ward er glücklicher, da er einen empfindlichen Punkt hatte, um den herum er seine Persönlichkeit gruppieren und festigen konnte.

Er bat seine Freunde, den Namen dieser Toten nicht mehr auszusprechen. Den aufgeworfenen Erdhügel, unter dem seine Pia ihrer vollständigen Vernichtung entgegenging, sollte niemand außer ihm kennen. Dann verkaufte er die Villa unter der ausdrücklichen Bedingung, daß man ein Hotel daraus mache, damit diese Stätte durch jeden und jedermann profaniert und die Erinnerung daran dem Universum zurückgegeben würde, auf daß niemand sie besitze.

Natürlich konnte er es nicht verhindern, daß die Kinder ausgiebigst über die Tote auf der Terrasse von San Juan de los Reyes sprachen. Aber das war nur eine Affäre für ein paar Jahre. Die Kinder, die ein bewunderungswürdiges Unterscheidungsvermögen für die ernsten Dinge besitzen, nennen diese Kindereien, sobald sie zu großen Personen heranwachsen. Es kommt nur dann anders, wenn ihre erste Neugierde, ihre ersten, überraschenden Eindrücke anstatt sich zu verwischen, sich zu einem poetischen Sinn wandeln, was übrigens sehr selten ist, denn es setzt die Vereinigung der allerhöchsten Intelligenz mit der stärksten seelischen Aufnahmefähigkeit voraus.


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