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Paul Bourget (in Cosmopolis): »Der Schriftsteller Dorsenne hatte sehr wenig Herz.«
Antwort: »Die Hauptsache ist, daß er Phantasie hat.«
Tasso verbrachte die letzten schönen Monate seines Lebens. In Sorrent, an der Schwelle« seiner toten Schwester, hatte er geweint; den Reigen der jungen Mädchen von Bisaccio hatte er angeführt, in neapolitanischen Nächten, unter den Säulengängen des Monte Oliveto, und es hatte ihm gefallen, sein Schreckgespenst Ferrara zu beschreiben. Nunmehr erregten weder die Wollust noch das Mysterium sein Interesse. So viel Genie in Verse gegeben war verströmt, und hat nur einen zitternden Greis übriggelassen. Seine Phantasie, einstmals eine der fruchtbarsten der Menschheit, verschloß sich in düsterer Laune gegen das Dasein. Niemals hatte er viel Herz besessen und darum entbehrte er den normalen Trost eines Lebensendes.
In den kalten Sälen des Vatikan, wo seiner der Triumph harrte, den ihm ein begeisterter Papst bereitete, wurden ihm die Zuvorkommenheiten der berühmtesten Kunstfreunde zur Qual. Selbst nach seinem Freunde, dem Marquis Manso, verlangte ihn nicht.
Welch schöne romaneske Biographie könnte man von diesem Manso verfassen, von dem man nichts weiß, als daß er, zartsinnig, ritterlich und von ausnehmender Schönheit, dem in seinen letzten Tagen halb wahnsinnigen und durch Armut erniedrigten Tasso seine Dienste erwies, und nachher diesen anderen großen Dichter, Milton, erkannte und liebte. Bei dieser Fähigkeit, die Genies zu erkennen, entschuldigte Manso sicherlich deren Absonderlichkeiten. Er bat dringend um Einlaß in ihre schönen imaginären Paläste, ohne zu beanspruchen, daß sie sich selber für seine kleine Behausung, das Haus eines ehrlichen Mannes, interessierten.
Der gealterte Tasso wollte Sonne, lange Stunden tiefen Schweigens, eine schöne Ordnung um sein Erlöschen haben. Er betrieb seine Aufnahme in das Kloster San Onofrio. Wir nordischen Pilger sind jeder von uns dort hinaufgestiegen, um uns jener melancholischen Strömung zu überlassen, die unsere Seele nach dem unentwirrbaren und allzu lebendigen Rom führte. Aber der alte Orangenbaum, unter dem Byron, Chateaubriand, Lamartine saßen, war jung, als er Tassos letzten Nachmittag beschattete! Es war im März, ein schon etwas milder Monat. Die unermeßliche Landschaft war voll Licht und Lieblichkeit, gleichwohl ohne Lyrismus noch Leidenschaft, denn der Dichter hatte nicht mehr die Kraft, die Dinge bis zur Schönheit zu steigern. Nicht Rom, nicht das Kolosseum und nicht die tragische Kampagna sah er, sondern eine Stadt, die in der Häßlichkeit der Ruinen ihre Abendmahlzeit zubereitet. Sein Antlitz zeigte nicht mehr diese beunruhigende Verzerrung, die einstens vernünftig denkende Leute veranlaßt hatte, ihn zu den Verrückten zu sperren. »Jetzt ist er ruhig,« sagte die Menge, die sich den ganzen Tag in der Einfriedung des kleinen Klosters drängte, um den Helden des Tages zu sehen. Besser unterrichtet würden diese Besucher gesagt haben: »Der Tasso heute ist nicht mehr der Tasso.«
Umsonst zählte ihm ein junger Mönch, stolz darauf, an diesem Ruhme teilzunehmen, die Besuche auf: »Seht nur die hohen Würdenträger der Kirche, die Stadtverwaltung, die vornehmsten Herren des Adels, und alle bewundern sie Euch!« Tasso waren diese Huldigungen nichts; er hatte zu sehr unter so vielen Mißhandlungen gelitten, und teilte die Menschheit in zwei Teile: sich selbst, dann die andern, denen er mißtraute. Er verlangte nichts sonst, als daß keiner ihn mehr beurteile und beachte.
Junge Frauen und junge Männer, schön anzusehen in ihrer Gesundheit, Pracht ihrer Kleider und galanten Freundschaft, wandelten in den Bogengängen, ihre Windspiele an der Leine, Veilchen im Gürtel. Aber Tasso dachte: »Eine Schönere hat mich verschmäht.« Und da er nicht mehr genug Feuer besaß, um Leonore zu begehren, haßte er sie als die Grundursache aller seiner Leiden.
Am Abend tönte das Angelus über die Stadt. War es der weiche Ton der Glocken, der den Rest von Phantasie weckte, die dem großen Manne verblieben war? War es der Nebel, der Rom, die Pinien des Pincio und die zerfallenden Steine des Kolosseums bedeckte und das Traurige des Abends auf diesen Ruinen weckte? Zum Mönche, der ihn mit seiner kindlichen Verehrung quälte, sagte er: »Nicht mit dem Lorbeer des Dichters, sondern mit dem Glorienscheine der Heiligen im Himmel möchte ich gekrönt sein.«
Er stand im Rufe, herzlos zu sein. Man warf ihm seine innere Frostigkeit vor und keiner ahnte, daß er sich in Zweifeln verzehrte, in welcher Wertschätzung sein »Befreites Jerusalem« bei Gott stünde.
... Von den immer dichter werdenden Schatten der Nacht ermutigt, hatten sich mittlerweile in Lumpen gehüllte, von Klosterschwestern unterstützte Männer und Frauen genähert. »Die Kranken der Spitäler,« sagte der Mönch, und dieser leicht erregbare, weil sehr nervöse Jüngling begann, vor Bewunderung darüber zu weinen, daß ein Sterbender so berühmt war, selbst die Teilnahme der Kranken und Bedürftigen zu erregen.
... Die Hospitalbewohner entfernten sich, die Nacht brach herein und Tasso war noch immer in Gedanken. Der Mönch, dieses Schweigens müde geworden, war fortgegangen, um sich mit seinen Genossen in Rührung zu begeistern. Bloß eine kleine Bucklige, die den Alten mit verzehrenden Blicken betrachtete, war zurückgeblieben, und er, den so viele hohe und schöne Herrschaften nicht aus seiner Ruhe zu bringen vermocht hatten, streckte ihr seine Arme entgegen.
Er, der Unsterbliche, der die der Liebe wertesten Jungfrauen besang, das warme Blut sterbender, junger Krieger, das Pathos der kraftvoll mannbaren Jugend, deren Sterben keinen Widerwillen einflößt, die der Wollust nachgibt, ohne unrein zu erscheinen, der rief der armen Verkrüppelten zu: »Bleib, geh nicht fort, du wirst mir schöner und wirst mir trostreicher sein als Leonore!« Die Bucklige aber floh entsetzt in die Nacht.
Man glaubte an einen Wahnsinnsanfall; man brachte ihn zu Bett, und er starb in dieser Nacht. Ich meine ganz im Gegenteile, daß er niemals eine tiefere Vernunft zeigte. Der Lösung des Problems von der literarischen Verantwortlichkeit, die er mir an diesem Abend zu geben schien, stimme ich ganz bei.
Die kleine Bucklige begeisterte ihn, da sie ihm zeigte, daß er kein unnützer Dichter gewesen war. Die jungen Männer und die schönen Frauen haben Freunde, Geliebte, Verwandte und ihr Glück ist da, wenn ein anderes Herz das ihre in Aufruhr bringt. Für diese Bevorzugten ist keine tote Erfindung einen Lebenden wert, der sie liebt Aber der siechen Verwachsenen kommt ein Dichter, mag er auch der zerstreuteste und trockenste aller Männer gewesen sein, ganz richtig als der unvergleichliche Wohltäter vor. Was liegt daran, daß es ihm im Leben des Alltags an Herz gebricht, wenn er Schönheit unter jene verteilt, deren Dasein alles entbehrt!
Tasso entschlief seiner ewigen Seligkeit gewiß. Er war zur Überzeugung gekommen, daß er der Welt einen Ton gegeben habe, der es vermochte, die Menschen über ihr Alltagselend hinauszutragen. Was für eine Befriedigung, festzustellen, daß er es dieser kleinen Verwachsenen möglich gemacht hatte, unrichtig zu sehen, das heißt, einige Stunden zufrieden zu sein! Nach so langen Tagen der Erschlaffung empfand er eine Begeisterung, deren Zeugnis man noch auf der Maske entdecken kann, die auf seinem Totenbette abgenommen wurde. »Selbst in der tiefen Ruhe des Todes«, bemerkte Lamartine, »entdeckt man eine nicht näher bestimmbare Zwiespältigkeit in den Zügen, die an den Kampf des Wahnsinns mit dem Genie mahnt.« Damit ist ein gut beobachteter Umstand schlecht ausgedrückt. Man findet in der Maske, was bei jedem Dichter sein soll: eine außerordentliche Sensibilität, eine alles mit sich reißende Phantasie, die imstande ist, uns von allem zu trennen, uns dem übrigen Leben zu entrücken. In diesem Sinne ist er ein Verrückter, der Verrückte macht. Der Dichter hat sich nicht bei den individuellen Nichtigkeiten aufzuhalten. Er führe uns in eine schöne ganze Welt, das ist seine einzige Pflicht, seine wirksame Kraft.