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Freundschaft für die Bäume

Von dem kleinen Tische aus, an dem ich schreibe, sehe ich durch die Spalte eines aufgezogenen Vorhanges einen großen Baum im nachbarlichen Garten, der ernst und geduldig seine Schneelast trägt. Der niedrige, graue Himmel läßt ihn ungeheuer groß erscheinen; vom Rahmen meines Fensters aus gesehen erfüllt er die ganze Welt. Die Wochen gehen vorüber; meine Gedanken oder meine Leidenschaften, die ich in seiner Nähe niederschreibe, fliegen als kleine Blätter in die Druckerei. Auch er hat zu jeder Jahreszeit ein neues Aussehen und andere Gewohnheiten, die er wieder ablegt. Seine Blätter übersäen die Alleen. Seite an Seite verändern wir uns ohne Unterlaß nach unserem Instinkte. Wie bewunderungswürdig ist seine sichere, friedliche Kraft! Welches Vorbild für einen Arbeitenden! Ich liebe ihn sehr, mit einer ruhigen und hygienischen Freundschaft.

Der Verein gegen den Mißbrauch der Vivisektion erwies mir die Ehre, mich unter seine Mitglieder aufzunehmen, und ich protestiere zweifelsohne freudigst mit diesen Herren gegen die vielen Grausamkeiten, die man an den Tieren verübt. Aber bietet das Gedeihen, die Schönheit und die Gesundheit der Bäume nicht auch einen Gegenstand der Sorge, für den man sich leidenschaftlich begeistern kann? Die Hunde, die wir heute aus müßiger Neugierde vivisezieren, haben einstens mit unseren Vorfahren ein Bündnis geschlossen, das es der Menschheit möglich machte, sich vor den großen Tieren des Waldes zu schützen und vor jenen Menschenaffen, die der Neid gegen den erfüllte, der ihnen deutlich überlegen schien. (Was noch heute in unserer Gesellschaft vorkommen soll.) Ebenso haben uns die Bäume in ihrem Gezweige Wohnstätten gegeben, uns beschützt und mit ihren Früchten genährt. Tiere und Bäume dienen uns in gleichem Maße.

Wenn wir gesund und ganz den Intrigen unseres Milieus überlassen sind, können wir die Liebe, den Haß, die Ambition, jede Leidenschaft und die Intrigen selbst gern haben. Aber wenn dann die Abspannung kommt, einiger Ekel, Überdruß – dann, gestehen wir es nur, dann finden wir in den Dingen der Natur weit mehr Erquickung als in allen diesen Geschichten der Zivilisation. Einer der allermerkwürdigsten Männer und einer, der ein umfassendes Wissen über die Völker und Zeiten besitzt, gibt zu: »Nichts scheint mir den Vergleich mit den Bergen, dem Meere, den Wäldern und den Flüssen bestehen zu können,« sagt Taine. In meiner Erinnerung übertrifft nichts das angenehme Gefühl, das mir in Cadix der Anblick eines Esels unter einer blühenden Magnolie bereitete.

Wenn ich einen Atlas durchblättere – gibt es eine bessere Zerstreuung? – wendet sich meine Neugierde immer nach den alten Ländern Asiens, nach den Tälern des Kaukasus und nach Armenien. Trotz der unter Steinen verborgenen Skorpione, welcher Rausch müßte es sein, die frische Abendluft in Etchemiadzin zu genießen, neben dem Erdhügel, den man als Noahs Grab bezeichnet, und in Betrachtung des gewaltigen Arrarat, dessen weißen Schneegipfel schwarze Lavastreifen durchfurchen!

»Ohne die Belehrung, die wir den Asiaten dieser Länderstriche verdanken – sagen die Geographen –, ohne die Gewerbe, deren Kenntnisse sie uns überlieferten, ohne die Pflanzen und Früchte, die sie als erste kultivierten; ohne die Freunde und Helfer, die sie uns in der Tierwelt herangezogen, befänden wir uns noch in der tiefsten Barbarei.« Wie gerne würde ich eine Pilgerfahrt dahinunter machen!

Das sind die Regionen, in denen die menschliche Bestie allmählich Mensch wurde und die ersten großen Pakte schloß: die Dressur, den Ackerbau. Ein Büchlein voll von Begeisterung, mit Versen und Träumen könnte man von dort mitbringen, einen Aufruf zur Mystik dieser Institutionen, die uns manchmal bis zu dem fernsten Ursprünge unseres Ich zurückführte. Wie schön ließe es sich mit einer etwas Hegelianischen Geistesrichtung in jenen verlassenen Herbergen der Ebene philosophieren, deren Stille nichts unterbricht als die klagenden Laute der Hyänen, die wie große Katzen auf den Gräbern sitzen.

Maßgebende Leute behaupten, daß lediglich die rohe Behandlung in unseren Ställen daran schuld sei, warum nicht beinahe alle, oder doch die Mehrzahl der Tiere darin ihre Unterkunft sucht. Eine andere Fahrlässigkeit ist nicht minder bedauerlich, nämlich der ungenutzte Überfluß an Pflanzen und Früchten in den Gärten des Kaukasus. Mit leichter Mühe könnten sie unsere Gärtner zum köstlichsten Wohlgeschmacke veredeln. Arme, vernachlässigte Pflanzen! Nicht nur ihrer Mannigfaltigkeit berauben wir uns, wir entbehren auch ganz die moralischen Hilfskräfte, die sie uns bieten, und über die ich sprechen möchte.

Die Sentimentalen sind zu wenig daran gewöhnt, sich über die Pflanzen liebevoll freundliche Gedanken zu machen. Wir verbringen Tage damit, in den Äußerungen der Tiere, die in der Intention ihrer Autoren ganz gleichgültig sind, Beweise ihrer Sympathie für uns zu entdecken. Der Hund, der uns seine Pfote gibt, bekundet uns damit keine größere Freundschaft als eine duftende, sich anmutig neigende Pflanze, oder als ein Kirschbaum, der seine Früchte darbietet. Man muß nur zugeben, daß Hund und Baum uns erfreuen, ohne es zu wissen.

Der unglückselige Chambige, dessen glänzende Phantasie bedauerlicherweise mit dem absoluten Unvermögen gepaart war, die Wirklichkeiten zu verwerten, machte die Vorarbeiten zu einem Buche, von dem mir nichts weiter bekannt ist als der Titel: Die unübertragbare Seele, in dem er aber sicher entwickelte, daß sich zwei Wesen niemals ganz ergründen können. Wir alle sind in ein schreckliches Alleinsein eingemauert. Das innerste Wesen unserer Geliebten, unseres Freundes bleibt für uns ebenso ein Rätsel, wie das Lebensgeheimnis eines Hundes oder eines Apfelbaumes. Wenn die Menschheit nun schon die Gewohnheit angenommen hat, alle Dienste und Liebkosungen, mit denen uns ein gutes Tier erfreut, als Beweise seiner Anhänglichkeit auszulegen, weshalb in bezug auf die Pflanzen weniger Wohlwollen zeigen?

In Spanien brachte ich eine rührende Geschichte in Erfahrung, daß eine Blume nicht weniger Zartgefühl kundgab als der Hund des Montargis, der, wenn ich nicht irre, berühmt ist durch den Trost, den er seinem Herrn gab. Es handelt sich um einen Mönch, der schwachsinnig schien. Er verstand nur eine Messe zu lesen und wiederholte sie alle Tage. Die Kinder, die er in den Gassen von Toledo segnen wollte, verspotteten ihn, denn trotzdem sein Herz voll guter Gefühle war, fand er nicht die rechten Worte. Wüstlinge lehrten ihn unflätige Redensarten wie einen Papagei, und er erregte großes Ärgernis. Als er starb, jubelten die frommen Seelen, denen er zuwider geworden war, und man begrub ihn eilends an unheiligem Orte. Aber Unsere Frau erschien einem von jenen, die sich über seinen Tod gefreut hatten, und befahl, daß man ihn ausgrabe und würdiger bestatte. Man fand den Leichnam unversehrt, aus seinem Munde aber sproßte eine schöne, wohlriechende Blume.

O kleine Blume, du bist nicht weniger rührend als der Hund, der seinem erniedrigten Herrn die Hände leckt.

Die Menschheit hat sich selbst geschädigt durch die Annahme, daß die Pflanzen keiner Zuneigung fähig seien. Wir hätten uns in dieser Hinsicht die gleiche Illusion bilden müssen, wie wir sie über die Tiere haben. Besaßen wir sie nicht vielleicht einstens in primitiver Zeit, damals, als der Mensch begann, sich eine leitende Stellung im Weltall zu erobern? Wenn ich ein paar Wochen in Armenien verleben könnte, würde ich dort über die ungeheuere Hoffart trauern, zu der uns die Zivilisation führte, die jenen tiefen Ebenen entstammt. Es ist ein geheiligter Lehrsatz unserer Universitäten, den Triumph der »freien Hellenen« über die »Horden des Darius und Xerxes« als die Offenbarung der Menschenwürde zu verherrlichen. Daher datiert der Begriff des Individuums. Der Mensch wurde glorifiziert, zum Gott gemacht. Ich hin damit einverstanden. Aber wenn ich jene Länder bereiste – sie sollen trotz allem ein wenig beschwerlich sein –, so wäre es nicht, um meine in der Schule gesammelten Vorurteile dorthin mitzunehmen. Ich würde mich fragen, ob nicht etwas unter dieser mächtigen Zivilisation, die Griechenland als Bruchstücke sammelte und weiter entwickelte, zugrunde, ging.. Die menschliche Rasse so hoch zu heben, hieß die anderen Wesen hintanzusetzen, sie unterdrücken und erniedrigen. Um präziser zu sprechen: indem man uns einen so egoistischen Begriff vom Wert und Bedeutung des Menschen vermachte, hat man das Bild atrophieren lassen, das sich unsere Vorfahren vom Gesamtleben gemacht hatten.

So habe ich für diesen von der Universitätsweisheit so molestierten Xerxes eine lebhafte Sympathie. Er besaß eine Größe und Macht der Melancholie, die weder die Griechen noch wir alle erbten. Gewiß, er hatte von der persönlichen Freiheit und besonders der Gleichheit eine Anschauung, die unsere Demokratien nicht billigen würden; aber er besaß ein ausgeprägtes Gefühl von der Brüderlichkeit aller Wesen, das seitdem vollkommen verloren ging. Erinnert man sich der wundervollen Geschichte, die Herodot erzählt? Als Xerxes mit seiner ungeheueren Armee, die er gegen Griechenland führte, jene Länderstriche durchzog, kam er an einem schönen Baume vorüber und wurde für ihn von solcher Bewunderung und Liebe ergriffen, daß er ihm seine Armbänder und Halsketten an die Zweige hängen wollte. Dann bestimmte er zur Pflege des Baumes einen »unsterblichen« Mann, das heißt, wenn der eine Pfleger starb, mußte ihn ein anderer ersetzen.

Ah! Diese Geschichte ist vornehm und von einer Art Wirkung, wie man sie manchmal in den schattendüsteren, feuchten Parks der kleinen deutschen Städte wieder fühlen kann, oder in Granada, dessen Wert nur in seinem märchenhaften Baumschatten besteht, unter einem verzehrenden Himmel! Lieben wir die Bäume.


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