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Gegen die Atonie ist Spanien ein vortreffliches Mittel. Ich kenne kein Land, in dem das Leben schmackhafter wäre. Es rüttelt selbst einen Menschen auf, den die moderne Verwaltungsmaschine völlig apathisch gemacht hat. Hier merkt man, daß die menschliche Sensibilität nicht nur auf die zwei oder drei starken Sensationen beschränkt ist (die Liebe, der Zweikampf, der Schwurgerichtshof), die in unserer Pariser Zivilisation allein noch vorhanden sind. Das ist schon Afrika; es bringt in die Seele ebenso rasch eine Art von Raserei als ein scharfes Gewürz auf der Zunge brennt.
Eines Tages, und bei welcher Sonnenglut, betrat ich den Zirkus von Sevilla. »Frisches Wasser!« schrien skandierend kleine Jungen. Zuerst wurde vier Pferden der Bauch aufgeschlitzt. Mitten durch die Stille, die über der Menge lag, hörte ich, dumpf wie das Aufklatschen von Kot, das Eindringen der Hörner in diese Bäuche. Vorbedeutender Eindruck, den Tod zu einem Feste zu entbieten! Ich fühlte nur ihn über uns allen und es packte mich das Entsetzen. Dann der junge Gott der Natur, der Stier, mit blutenden Nüstern, zusammengeduckt, wütend wie ein Stier, das heißt schöner als irgendein in Leidenschaft entbrannter Mensch, und er wiegte auf seinen Hörnern einen armen, schlappen, jämmerlichen Fetzenbündel von einem Reiter. Der ungeschickte Matador, in seinem engen, gestickten Anzug weit eher ein Komödiant, ließ vier Degen in dem Heldentiere, das er, von der Barrière gedeckt, erdolchen mußte. Das wütende Volk trampelte wie ein Zeuge, der sich bei einem Duell amüsiert.
Sollte ich das lieben, sagte ich mir im Hinausgehen, so würde das zur Folge haben, daß ich mich selber in die Gefahr begebe. Aber nur als Zuschauer an so was Gefallen finden? Unbegreifliches Vergnügen.
Das ganz davon trunkene Volk gab mir dazu noch Stockschläge auf den Kopf, weil alle stehend gestikulierten, während ich sitzen blieb; auch diese Familiaritäten taten das ihre, mich zu degoutieren.
In der Folge kam ich von dieser Wertung ab. Vielleicht hab ich es bei dem Experiment an gutem Willen fehlen lassen? Ich hätte mich der berauschenden Gewalt, die ein Blutbad ausströmt, ganz hingeben müssen. Subtile Seelen hebt es beim Anblick des Blutes; ein dampfender Dunst durchdringt uns und weckt das fleischfressende Tier in uns auf. Für die Menschheit ist das ein Jungbrunnen, sich in die allerfrüheste Jugend darin zu baden, die hart an der Animalität ist.
Das Stiergefecht, das ist Spaniens Banalität – wie die Gondel die Venedigs – aber es ist sein bezeichnender Zug, und. bloß deshalb spreche ich davon. Der breite, starke Schrei, den jede in ihrer Arena versammelte kleine Stadt an den Himmel wirft, wenn der Stier fällt, er ist der allerheftigste Ausdruck der spanischen Sensibilität.
Eine schöne Raserei, die die Nerven in Spannung hält, aber deren Intensität noch durch die Kontraste wächst, unter denen sie zum Ausdruck kommt.
Der Romanzero general, aus dem das ganze Spanien, wie aus einem unerschöpflichen Vulkan, hervorkommt, zeigt uns, daß die Könige und Grafen, die Edlen und alle Ritter ihren Pferden in dem Zelte Unterkunft gaben, unter dem sie mit ihren Frauen schliefen, damit sie beim ersten Kriegsgeschrei ihre Rosse und Waffen bei der Hand hätten, um auf der Stelle davon zu galoppieren. Unter einem solchen Zelte möchte man gerne leben, man fände die Frauen eine Stunde vor der Gefahr noch schöner, und der Aufbruch zur Schlacht, in der Morgenfrische, kommt entzückend dazwischen, um der Übersättigung vorzubeugen.
Auf Schritt und Tritt sah ich so Spaniens Gewaltsamkeit kontrastiert ...
Es war zuerst beim Aufwachen der Grenze, nach Irun, in einer Station; ich sah von meinem Coupé aus einen ganzen Waggon voll von Don Quichottes und Sanchos durcheinander. Nicht einen, sondern zwanzig, ganz genau wie die Urtypen des Meisterwerkes: die einen mit blühendem Teint, Optimisten, lustige Spitzbuben; die anderen mit ausgetrocknetem Gesichte, ernst und den Blick ganz starr.
Weil es immer das Konträre vereinigt, kommt Spanien den simplen Gehirnen vor, als trüge es seine Parodie mit sich herum. Der wunderbare Quevedo erscheint dem Ausländer karikaturenhaft, er, vielleicht einer der Schriftsteller von der größten Menschlichkeit! Er ist in der Literatur das, was Goya in der Malerei ist; dieser malte bekanntlich mit dem gleichen Realismus die Dinge und die Träume. Pacheco, der Schwiegervater des Velasquez, sagt in seinem Traktat, der die »Summarische Übersicht Spaniens in Hinsicht auf die Malerei« ist, daß die Gegenstände, deren Bild die Malerei wiedergibt, von dreifacher Art sind: natürliche, künstliche oder solche, die sich aus der Meditation der Seele bilden. Mit diesen letzten lebte Don Quichotte, seiner Dulcinea ganz ergeben; aber an seiner Seite hat er Sanchos mächtigen und groben Materialismus. Und keines dieser beiden Wesen ist Karikatur; so antithetisch sie uns auch scheinen, sie leben in Spanien dicht nebeneinander und vielleicht vereint in jedem Spanier.
Gehen wir noch einen Schritt weiter auf Madrid zu. Da ist in Alt-Kastilien Avila, die Stadt der Mystiker, ganz still, parfümiert vom Dufte der Asche der heiligen Therese und der Kerzen, die in ununterbrochener Anbetung in einer Menge Klöster abbrennen, deren zerfallene Mauern schöne Marmorgrabmäler und den Orden der Karmeliterinnen umschließen.
Um zur Kirche der Incarnacion zu kommen, folgte ich dem außerhalb der Stadt gelegenen kleinen Felsensteig, wo die heilige Therese meditierte, als sie in diese Kirche kam, um den Schleier zu nehmen. Welcher Schildträger begleitete sie? Sie hat es uns gesagt: Christus, der das Kreuz trägt. So exaltiert wir uns das junge Mädchen auch vorstellen, sie war ganz in Tränen. Sie, die man nur in Ekstase vor Gott zu sehen gewohnt ist, ketteten feste Bande an die Erde. Ich kenne nichts von zarterer Weiblichkeit und edlerer Wollust als diesen Satz, durch den sie sich entschleiert: »Dies ist eine große Gnade, die mir Gott erwiesen hat: wo ich auch war und hinkam, immer hat man mich gern gesehen.« Die Klöster der Askese waren in Wirklichkeit Bienenstöcke der Arbeit und kluger Verwaltung. Therese und ihre Freundinnen widmeten sich dem Predigen, der geistigen Führung der Seelen, und hatten Sorgen, ganz analog jenen eines Staatsmannes oder eines Großindustriellen. Man mußte Geschöpfe leiten, sie an eine bestimmte Ordnung gewöhnen, ihnen ein Obdach bauen, ihren Unterhalt sichern. Diese Mystikerin zeigte organisatorische Fähigkeiten, wie man sie bei diesen außerordentlichen Arbeitern findet, den Colberts, den Beamten Napoleons. Bei Loyola der gleiche Scharfblick und halsstarrig tüchtige Verstand, vereint mit den Verzückungen eines Visionärs.
... Eine Stunde davon ist der Eskurial wieder eine Antithese. Die einzige starke Sensation, die sich einer verschaffen kann, der über alles gebietet, ist: auf alles verzichten. Solcher Art war der Genuß des Königs, der sich in diese furchtbare Gruft einschloß. Indem er sich in diese Steinwüste einkerkerte, gab er sich die einzige Nervenerschütterung, die ein von allen Herrlichkeiten des Triumphes übersättigter blasierter Mann noch empfinden konnte. Das stärkste Bild, das ein Dichter ersann, der bis ins Geniale die Gabe der Antithese besaß, war der Armenwagen des toten Viktor Hugo, dem ein ganzes Volk das Ehrengeleite zum Panthéon gab; aber er ist unbedeutend, verglichen damit, was die Laune Philipp II. verwirklichte: der mächtigste der Könige, der sein Leben in einer Gruft stirbt.
Weiter auf unserer Reise und wir werden sehen, daß vom Norden nach Süden die Antithese, die Spanien resümiert, der Kampf des Mauren mit dem Kastilianer ist. Dieser unaufhörliche und heldenmütige Kampf hat die Künste bestimmt, die Sitten und den Rassencharakter. Von Provinz zu Provinz findet man die allerheftigsten Widersprüche und selbst in jedem einzelnen.
Ich will nicht auf die einzelnen Biographien eingehen: Sevilla wird uns den Don Juan geben, der eine packende Wendung machte; Cordova wird uns den wollüstigen Seneca erinnern, der kleine asketische Traktate schrieb und sich darin gefiel, die Reichtümer, die um ihn waren, zu verachten. Solche Doppelwesen, für uns rätselhaft, sind die natürlichen Produkte dieses Bodens. Aber das deutlichste Zeugnis Spaniens, dieses Landes, wo die böse Tuberose, die Giftmischerin, die »Amiga de noche« genannt wird, das finden wir in den Kirchen.
Der Priester predigt da eine asketische Ethik, ich weiß nicht welche Vollkommenheit, die den Gläubigen dieser Welt entrückt und ihn der Jungfrau zu Füßen legt. Aber dabei seht diese grauenvollen Phantasien an den Wänden an, diese bluttriefenden Bilder, diese Wunden, von denen unser entsetzter Blick sich nicht mehr losreißen kann. Wollte sich der Spanier, der diese Bilder bestellte, sie in dieser Kirche sammelte, mit der Lehre des Altares in Widerspruch setzen? Nein, sicher nicht, denn der Gewährsmann Pacheco schreibt: »Die Kunst des Malers muß sich dem Dienste der Kirche weihen, und sehr oft hat diese große Kunst eine viel stärkere Wirkung bei der Bekehrung der Seelen hervorgerufen als die Worte des Priesters.« Für dieses Volk besteht gar kein Widerspruch zwischen dem verzückten Mystizismus und der Grausamkeit. Die Gläubigen erfahren die eine und die andere Empfindung. Nachdem er sich der Reglementierung des Priesters unterworfen, sich zu den himmlischen Vorbildern erhoben hat, wird der Mensch sofort wieder Mensch: er muß Blut sehen, beißen, zerfleischen!
Im Dunkel der spanischen Kirche ist mir die wahre Bedeutung der menschlichen Physiognomie klar geworden: Furcht und Neugierde vor den Mysterien, vermengt mit dem Triebe des Fleischfressers, zu zerstören und sich zu vergnügen, und das wird ebenso deutlich in den wissenschaftlichen Zivilisationen als in den religiösen. Um die Art der Dichter Spaniens zu charakterisieren, sagen wir: »Ironie, Karikatur«; für die Asketen »Scheinheiligkeit und Widerspruch«; für das königliche Haus »Wolfsnaturen«. Und wir sehen nicht ein, daß es einfach nur kraftvolle Naturen sind, die imstande waren, alle Sensibilitäten ihres Wesens zum Äußersten zu steigern.
Auf der Halbinsel, an der Spitze unseres Kontinents zusammengedrängt, wimmeln die Generationen, gären und mischen sich mit jenen, die nach und nach in anderen Ländern ausgerottet wurden.
Im äußersten Südwesten des Königreiches Portugal, in der steinigen Wüste, deren Ende das Kap Saint Vincent ist, waren wir ohne leitenden Pfad, zwischen Dorngestrüpp, Sandbeerbäumen und Stevas herumgaloppiert. Das ist Europas äußerste Spitze, angesichts der großen Breite Amerikas. Wir träumten auf der Terrasse des Semaphoren von Kap Sagrès. Alle Arten des Empfindens haben wir quer durch Europa drainiert, und nun sahen wir uns in dieser großartigen Einsamkeit von ihnen umgaukelt.
Keine Möglichkeit, dieses Heer zu vermehren, es noch weiter zu schaffen. Nichts vor uns als der unbegrenzte Ozean. Im weiten Umkreis hörten wir Rufe. Es waren im Abendnebel die Signale der Schiffe, die das Kap umschifften und nach unten fuhren. Aber das » dort unten« hat keine unbekannten Länder mehr, nichts als die Wiederholungen unseres Europa.
Man hat behauptet, der allein kennte die wahre Süßigkeit des Lebens, der einige Wochen auf einer einsamen Insel verbracht hätte. Das bleibt uns versagt. Es gibt keine Einsamkeit mehr; es gibt kein Leben mehr, das wir selber uns bilden könnten. Alle Lebensläufe sind im voraus bestimmt, klassifiziert und etikettiert. Um allzu banalisierten Gefühlen noch einigen Geschmack abzugewinnen, haben wir nur ein Mittel: sie zu mischen, wie Spanien, uns ein intensives und kontrastiertes Leben zu schaffen.
Herbe Lust des Doppellebens! Tiefe Wollust, Gegensätze zu vereinen! Wie glücklich muß die Sirene ob ihrer süßen Stimme sein! Aber es gibt nichts, was stärker verbraucht: es ist die schlimmste Débauche. Welche fühlen ihre Seele bei jeder tieferen Erregung im Sterben.
Die Zelte, die die Nomaden jeden Abend in einem neuen Lande aufschlagen, haben nicht die Festigkeit der alten, ererbten Häuser; aber welche Freude für diese Unsteten, sich mit den autochthonen Rassen zu mischen, mit ihnen den Lobgesang des Morgens zu sprechen, während zu dessen Verschönerung insgeheim die Erinnerung jene Weisen mittönen läßt, die sie am vorigen Tage von den Fremden erlernte.