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II. Ein Tag in Saint-Quentin bei Maurice-Quentin de la Tour

Den systematischen Psychologen.

Ich habe den Tag in diesen drei kleinen, verlassenen und frostigen Sälen des Museums von Saint-Quentin verbracht, wo die meisten Pastelle von Maurice-Quentin de la Tour vereinigt sind. Kein Ort könnte uns näher an das bringen, was diese Theaterdamen, diese Publizisten, diese zärtlichen Frauen, alle diese originellen Causeure in Wirklichkeit waren, deren Legende unserem Herzen entzückende, aber doch etwas zu verschwommene Bilder gibt. La Tour hatte die Leidenschaft, die Natur ohne Verschönerung und Übertreibung wiederzugeben, und die Gelegenheit, viele der berühmtesten und berüchtigtsten Figuren des XVIII. Jahrhunderts zu porträtieren.

Seine Stifte hielten nicht nur die Konturen, die angeborenen Züge fest, sondern auch die Physiognomie, diesen Staub aus Kummer und Glück, den das Leben in die Falten eines Gesichtes legt. Hier ist eine der Kapellen, wo die Amateure der Seelen die ausgiebigsten Betrachtungen anstellen können. Sie werden da nicht nur berühmte und packende Bilder finden; die Hauptbedeutung dieses Museums liegt vielmehr darin, daß es der vollkommenste Ausdruck dieser lebhaften Leidenschaft ist, von der ein paar Köpfe besessen sind, andere Leute zu belauschen, zu durchschauen und zu ergründen. Das Werk La Tours halte ich für das vollendetste Zeugnis, das wir von der psychologischen Neugierde besitzen.

 

La Tour eignete bis zu einem unglaublichen Grade die Fähigkeit, die besondere Art zu erraten und auszudrücken, auf die jeder Mensch das Glück sucht. Ein Vinci deutet uns von seiner Joconda bis zum heiligen Johannes seinen unverwirklichbaren Traum an. In den siebenundachtzig Porträts, die ich vor Augen habe, will La Tour nichts sonst, als uns die interessantesten Seelen zeigen, denen er begegnet war, und da hinein das Licht bringen.

Man achte: es ist nicht die große Kunst, die mich im Museum von Saint-Quentin fesselt; ich bewundere, daß ein Mensch sein Leben allein auf diese Neugier beschränkte, einige Varietäten der menschlichen Seele zu verstehen.

Die Stifte eines Sainte-Beuve gehen in der Analyse nicht so weit. Der Autor verwickelt eine erdrückende Fülle von Anekdoten derartig mit seinen persönlichen Neigungen, daß die Porträts der Lundis als Belege für die dahingegangene Menschheit weniger wert sind als diese Pastelle von La Tour, in denen nichts ist, was nicht bezeichnend wäre.

Von allen Wänden blicken mich diese siebenundachtzig Gesichter an, deren Geheimstes der Maler auf die Oberfläche zu bringen verstand. Der Schnitt ihres Mundes, die Schwere ihrer Augenlider, diese ganze, nicht mit Worten zu bezeichnende Atmosphäre eines Gesichtes, die unser Instinkt packt, um einen Menschen zu lieben oder zu hassen, treten für mich auf diesen Pastellen mit einer wunderbaren psychologischen Sicherheit in Erscheinung. Diese Toten, die uns heutigentags durch unzählige historische Zänkereien ganz nebelhaft wurden, zeigt mir La Tour unverhüllt, gefangen hinter Glas und Rahmen für alle Zeiten. Er erklärt sie mir. Ganz mechanisch machte ich auf dem Rande meines Kataloges ein paar Notizen, die er mir diktierte ...

Hier Rousseau, und ich schrieb: »Zänkischer Plagegeist, ängstlich, Gemisch von Eifersucht und Geringschätzung, aber ganz besondere Geringschätzung, eine Geringschätzung, die das Unrecht auf andere schiebt und alles beschmutzt. Und doch, wer liebte ihn nicht, diesen Jean Jaques mit seinem jungen, von Sinnlichkeit und Gram verzehrten Lakaiengesicht?«

Hier d'Alembert: »Ziemlich hölzern ... Ich kann mir nun erklären, daß er die Angriffe, selbst die posthumen, von Mademoiselle de Lespinasse so mutig ertrug, und verstehe ebenfalls, warum sie, die so zartfühlend war, es wagte, ihn so wenig gut zu behandeln: seinem Temperamente nach muß er weniger als andere gelitten haben, weil er von Natur aus opferfähig veranlagt war.«

Und Madame Favart: »Ihre Dummheit ist die der Spezialisierung: dumm, unverbesserlich dumm, vermag sie nur eine engbegrenzte Persönlichkeit auszudrücken, die sie übrigens bis zum Äußersten entwickelt.«

Und Louis XV.: »Schon ganz ein Mann unserer Zeit, wie wir ihm im Klub oder in der Welt begegnen ... Welch eine Kluft zwischen diesem Kavalier von so verfeinerter Elegance und seinen Vorfahren, von denen sich unsere Phantasie keine Vorstellung machen kann!«

Und die Camargo: » Mademoiselle Camargo! Entschieden das hübscheste Gesicht in der ganzen Galerie; sie war jung und temperamentvoll; sie verrät eine gewisse Feinheit auf einem Hintergrunde wollüstiger Schwere ... Ganz so stelle ich mir das hübsche, siebenzehnjährige Mädchen vor, als es der Graf Clermont-Tonnerre entführte, bezahlte und zu seiner Geliebten machte!«

So durchwanderte ich diese Säle, in denen La Tour zwanzig interessante Gesichter vor dem Grabe gerettet hat. Und allmählich überfiel mich eine von all diesen Fremden ausgehende Traurigkeit, deren schwerer Druck mir alsbald unangenehm fühlbar wurde. Ich mochte mich nicht weiter umsehen.

War es ein schmerzliches Bedauern all der Schönheiten, daß sie uns als Genuß ihrer selbst nichts hinterlassen konnten, wie den Staub eines Pastellbildes? Oder auch der melancholische Gegensatz, daß diese letzten Überreste der Boudoirs heute staatlich registriert sind?

Nein, was mich traurig stimmte, war La Tours Philosophie selbst, diese seine Lebensauffassung, an der mich sein Genie teilhaben ließ.

Ich fühlte es deutlich im Museum von Saint-Quentin: stetige Neugierde, das ist immer erneutes Sterben im Geiste. Die Emotion, die mir eine oder die andere unter Glas gebannte Seele bereitete, wurde beim nächsten Rahmen weggewischt; in meinem Inneren war Tod und Geburt bei jedem Schritte.

So ergeht es allen, die durchs Leben als reine Analytiker gehen. Vor ihrer Sympathie, die nichts stetig zu fesseln vermag, steigen alle Seelen auf, um alsbald wieder zu fallen, nachdem sie diesen einen Tag lang Herrscher waren. Sie ergreifen alles und machen sich nichts zu eigen; schließen Freundschaften, die nur einen Abend lang währen; und fühlen bei jeder neuen Ablenkung ihrer Neugierde die vage Traurigkeit eines Reisenden, der ein schönes Land verläßt. Der Tod unserer Lieben macht unserer Seele für neue Lieben Platz.

Von Taine, dem ersten Analytiker dieser Zeit, berichtet man ein hohes Wort, dessen Klarheit genau dieses wahrhafte Blutbad beleuchtet, das im Bereich des Intellektuellen das Leben dieser unermüdlichen Seelen-Eroberer ist. Begegnet dieser Meister einem Menschen, der durch seine natürliche Begabung, durch erworbene Erfahrung oder seine Eigenarten interessant ist, so nimmt er ihn beiseite, bedrängt ihn mit Fragen, reizt ihn von allen Seiten, bis er feststellt, wo ihm die Grenzen gesteckt sind; sich wegwendend, denkt er dann: »Ich habe ihn ausgepreßt.«

 

Selbst ohne Leidenschaft, aber sie alle verstehen! das ist die Formel der Analytiker.

Vielumfassende und unfreudige Geister, rufen sie in der Phantasie jene Wasserflächen herauf, in denen sich die üppigen Galeeren der fliehenden Kleopatra widerspiegelten. Aber die flüchtigen Bilder aller Leiden und aller Freuden besitzen, hat das jemals, um unserem Dasein Inhalt zu geben, eine einzige, aufregende Leidenschaft aufgewogen?

Sicherlich würde man mit einiger Übung der gebräuchlichen Gesten und Formeln eine große Mannigfaltigkeit der Charaktere entdecken, die einem Unterhaltung gewähren könnte. Die Künstlerkreise, die politische Welt, die Salons, die Straße, die Börse und der Gerichtshof sind ebenso viele Theater, wo derjenige, der die Freiheiten des Jahres 1789 zu nützen weiß, sich ohne Anstrengung einen guten Platz im Parkett verschaffen kann. Aber wenn ich vor meinem amüsierten Opernglas naive Dichter, Denker, kaltherzige Intriganten und anspruchsvolle Dummköpfe vorbeidefilieren lasse, so wird alsbald mein so zerstreutes Gemüt beim Anblicke dieses Panoramas traurig werden, wie in den Sälen von La Tour. Gesichter! immer Gesichter! Ah! wer mich von all den Gesichtern befreite! ...

Hier verachtet der Analytiker meine schnell eingetretene Sättigung ein bißchen, und er macht sich über mich lustig:

– Wenn Ihnen die vielen vom Leben gezeichneten Gesichter nicht genügen, so fügen Sie noch den jungen Bara hinzu, der dadurch, daß er seinen Hintern zeigte, historische Berühmtheit erlangte.

– Ja! Der Hintere des kleinen Bara! Ich würde viel daraus machen, wenn ich an dem Heroismus teilhaben könnte, dessen Geste er zeigt!

Sich so begeistern können wie irgendein Begeisterter, das wäre das tiefe Glück. Vergeblich aber werden wir bemüht sein, uns nur auf die Rolle des Beobachters zu beschränken. Das Leben ist nur ein Schauspiel, sagt der Analytiker, und sieht es von den hohen Fenstern seines Turmes aus vorbeiziehen. Ah! Jedes schöne Fieber hinterläßt, wenn es entschwindet, eine jener Regungen des Bedauerns in ihm, die wenn sie sich häufen, den Damm durchbrechen werden. »Ihr unüberwindlichen Mächte des Verlangens und des Traumes!« rief Taine aus, »umsonst drängt man euch zurück, ihr versiegt niemals!« Ebenso wie Taine und alle anderen ließ sich La Tour von seinem Traum ganz fortreißen. Er, der alles bis ins Kleinste beobachtete, beschäftigte sich damit, die Welt in ein System zu bringen.

Zuerst philosophierte La Tour über seine Kunst, dann über die Organisation der Gesellschaftsschichten, und kam, in seinem Verlangen, das Weltall zu umfassen, dahin, den Lauf der Gestirne zu bestimmen. Es war seine Manie, die Harmonie aufzudecken, welche die Dinge lenkt. Dies ist das letzte Wort der Beobachter; sie wollen die Masse der Besonderheiten, von denen sie sich eine genaue Vorstellung machten, in ihrem Sinne ordnen. Solche zügellose Manien können bei Geistern, die sich lange dagegen sträubten, bis zur Narrheit gehen. Der Pantheismus La Tours bietet schon manches Bizarre. Man zeigt uns diesen Beobachter des Kleinsten auf seinen Spaziergängen, wie er Bäume umarmt und zu ihnen sagt: »Gar bald, mein lieber Freund, wirst du dazu dienen, den Armen einzuheizen.« Um die beständige Umbildung der Materie zu unterstützen, und weil er von der Einheit der Substanz überzeugt war, trieb ihn sein metaphysischer Wahn bisweilen dazu, seine eigenen Exkremente zu verschlingen.

Das sind beschwerliche wunderliche Methoden. La Tour war nicht befähigt, die Weltseele, die er ahnte, zu fassen. Dieser bewunderungswerte Physiognomiker verlieh dem Weltall ein unzulängliches Gesicht. Ich wundere mich nicht darüber, nachdem ich sein von Peronnet gemaltes Porträt im Museum von Saint-Quentin gesehen habe. Auf den Rand meines Kataloges schrieb ich: »La Tour tut unverschämt, aber er beherrscht nicht; er ist ein Bedienter, der die Gäste beobachtet, er ist nicht Saint-Simon.« Das ist etwas zu schroff ausgedrückt. Aber man wird verstehen, daß es sich hier nur um die intellektuelle Hierarchie handelt. Ich will damit sagen, daß La Tours Kraft nicht ausreichte, der Dinge Herr zu werden, die er zu beobachten die Leidenschaft hatte.

In Saint-Quentin sieht man auch sein Selbstporträt, und ich schrieb dazu diese Bemerkung: »Bei dem Kopfe dieses gewandten Picarden fällt zuerst die wunderbare Begabung auf, die ein Mann dieser Art für alle manuellen Künste haben mußte. Er sieht die Dinge von außen und erfaßt deren ganze Anordnung ganz vorzüglich. Sicher beschäftigen ihn auch Gedanken und Neigungen der Seele, denn er sieht, wie sehr sie die Physiognomien modifizieren, aber für die Seele selber hat er keine Liebe. Die Leidenschaften, die er belauert, regen ihn nicht auf.«

La Tour war Pantheist, um eine allgemeine Harmonie in der sichtbaren Verschiedenheit der Dinge konstatiert zu haben, aber er besaß niemals die innere Offenbarung, den religiösen Instinkt. Dieser Beschreiber hatte keine Intuition. Leuten dieser Artung entgeht es, daß das einzige wirklich vollkommene Inventarstück des Weltalls ein brünstiges Liebesgebet ist.

Beobachten, Notizen machen, diese systematisch zusammenstellen, alles dieses kalte Erfassen des Äußeren, führt uns nicht so weit als es fünf Minuten der Liebe tun. Wir dringen nicht in das Geheimste der Seelen, wenn wir nicht die Trunkenheit ihrer Leidenschaften selbst teilen. Das ist die Methode, in der die großen Analytiker mit den reinen Instinktnaturen wieder zusammentreffen. Michelet, nur ungenügend über das Indien der Veden, die Iranier, Ägypter und Juden unterrichtet, umgibt diese mit einer solchen Strahlenkrone von Liebe, daß er sie – in seiner Bible de l'Humanité – viel besser beleuchtet, als es die gelehrten Abhandlungen der erfahrensten Spezialkenner vermögen. Ebenso habe ich weit mehr Vertrauen in die zarte Fürsorge, mit der eine Geliebte die Agonie ihres Freundes zu mildern versucht und das Übel mit den Augen der Liebe prüft, als in die ganze Wissenschaft der Hygieniker. Und wenn es sich darum handelt, die Richtung des Weltalls zu verstehen und das Leben, das alle Wesen mit sich fortreißt, so werden die einzig Weitblickenden die Leidenschaftlichen sein. Als eines Tages eine junge Hure in einem schlechten Hause in Andalusien auf einem wackeligen Tische tanzte, zitterten ihre Brüste weniger als die Herzen der betrunkenen Matrosen, die sie für einige Pesetas besitzen sollten. Aber ich sah es: diese ganz gewöhnlichen Männer befanden sich in diesem Momente mit der Frau und dem universellen Leben in weit innigerer Gemeinschaft, als es jemals die Männer mit den Systemen waren, und sie empfingen von der, die sie mit flammenden Augen verschlangen, ein Bild unvergleichlich stärkeren Lebens, als das irgendeines der Meisterwerke der Beobachtung, die La Tour in den kalten Sälen von Saint-Quentin aufgehängt hat.


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