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Auf der Fahrt nach Delphi

Wenn man früher nach Delphi wollte, fuhr man mit dem Dampfer vom Piräus nach Korinth, durch den berühmten Kanal hindurch, und dann über den blauen Korinthischen Meerbusen bis Itea, dem Hafen der Wallfahrtsstadt; es soll eine der schönsten Reisen in Griechenland gewesen sein.

Diese Wasserfahrt ist jetzt nicht mehr möglich, weil der Kanal von Korinth wieder einmal eingestürzt ist. (Der berühmte Kanal von Korinth, ein Wunderwerk der modernen Technik, ist fast immer eingestürzt, und zwar mit Recht, weil nämlich Wunderwerke der modernen Technik in Griechenland nichts zu suchen haben.)

So muß der heutige Pilger mit der Eisenbahn und dem Automobil hintenherum eine große Reise durch halb Griechenland machen. Das ist für den Pilger beschwerlich und sehr teuer, aber es ist lehrreich; denn so kommt er durch seltene Landschaften, die abseits des üblichen Weges liegen. Durch Böotien zum Beispiel.

Böotien ist die Heimat der bekannten Böotier, also jenes griechischen Volksstammes, der sich von allen anderen am längsten gehalten hat und noch bis auf unsere Tage vorhanden ist. Achäer und Ionier gibt es kaum noch, von den Attikern ganz zu schweigen, die bis auf den letzten Mann ausgestorben sind ... Böotier finden sich überall in großer Menge, und sie haben es häufig sehr weit gebracht. Es sei nur daran erinnert, daß vor dem Kriege die preußischen Kultusminister fast ausschließlich dem Stamm der Böotier entnommen wurden.

Und wunderbar genug, gerade dieses Land heimelt den mitteleuropäischen Reisenden ganz merkwürdig an. Wenn man Athen verlassen hat, kommt man zuerst durch Attika, das wild und klassisch ist mit einsamen Felsen und mit Lorbeerbäumen; dann aber fährt der Zug in Böotien ein, und mit einem Schlage glaubt man, zu Hause zu sein.

Es ist eine ungriechische Gegend. Der Lorbeerbaum ist verschwunden, auch Myrte, Zypresse und Olive; dafür sieht man schöne Birnbäume; ordentliche Häuschen und Misthaufen davor, und weite, regelmäßige Felder, auf denen Leute in Hemdsärmeln stehen.

Böotien ist stets ein sehr rationell bewirtschaftetes Land gewesen und hat deshalb niemals einen künstlerischen Genius hervorgebracht.

(Spätere Anmerkung. Doch; einen: Pindar; aber, irre ich nicht, haben den die Böotier aus ihrem Lande herausgeworfen.)

 

Es dauert übrigens nicht lange, da fängt das Geniale und Wilde wieder an.

Eine Eisenbahnstation heißt Sphinx.

Dann kommen, dicht an der Bahn, Berge, wie man deren noch nie angetroffen hat. Sie sehen aus wie Steinhaufen; wie Steinhaufen an der Chaussee, wenn die Straße ausgebessert wird; ein Stückchen auf dem anderen. Landleute, die im Freien übernachten müssen, haben ihr Zelt mitten in diesen Steinhaufen gesetzt.

»Warum«, frage ich höhnisch lächelnd den Offizier, der mir gegenübersitzt, »warum setzen die Leute ihr Zelt denn da oben hin, wo sie nachher wieder herunterklettern müssen?«

»Wegen der Wölfe«, antwortet der Offizier.

Und am Horizont rechts glänzt ein langer Strich, als läge dort das nackte Schwert eines Gottes am Boden: das ist der königliche Strand von Aulis, von wo sie nach Troja aufgebrochen sind.

Helden, Spuk, Wölfe und Dämonen, das ist echtes hellenisches Land.

 

Haltestelle Theben ... Aus Theben habe ich mir nie etwas gemacht. Warum, weiß ich selber nicht. Vielleicht, weil die Thebaner immer gegen Athen waren. Und wer gegen Athen ist, an dem kann nicht viel los sein.

Oder wegen der entsetzlichen Tragödie des Labdakidischen Hauses, die sich hier abgespielt hat, Ödipus, Antigone. Diese Tragödie stinkt nach Verwesung und Karbol. Pest, Vatermord, Brudermord, Blutschande ... das ist Ödipus. Und draußen vor der Mauer liegt die faulende Leiche des Helden, von Schmeißfliegen umsummt. Eine schwarze verschleierte Frau schleicht herbei, um den Bruder zu beerdigen, gegen das Polizeiverbot. Festgenommen, am Kragen gefaßt, gestoßen, vor den König geschleppt, verurteilt. Und sie hebt die schwache Mädchenhand und spricht – viele Jahrhunderte vor Christus –: »Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen.«

Jetzt hat der Expreßzug in Theben dreißig Minuten Aufenthalt. Zeit genug, ein bißchen die Straße entlang gegen die Stadt zu spazieren und sich umzusehen.

Sie haben sehr hübsche Gärten in Theben und sind recht fleißig. Keine Ziergärten natürlich; Nutzgärten. Salat, Kohl, und die Zwiebeln scheinen besonders gut zu geraten.

Zehn thebanische Epheben aber folgen mir auf Schritt und Tritt und bieten mir Schokolade zum Kauf an.


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