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Nach dem großen Sterben

Vom Tag der Völker

Als am Sonnabend der Pariser Expreßzug in Genf einlief, der eine Anzahl Delegierte für den Völkerbund brachte, da gab es eine kleine Verlegenheit. Der Bahnhof ist altertümlich und verbaut, und selbst Diplomaten müssen durch die enge Pforte der Zolluntersuchung. So gerieten die Herrschaften bei den besten Absichten in einige Verwirrung.

Die Franzosen waren aufgeregt, die Japaner blieben im Hintergrund stecken, und die Spanier riefen sich gegenseitig das Wort hombre zu, das diese ritterliche Nation bei Anlässen des Kummers und des Wohlbehagens gleichermaßen anzuwenden liebt.

Und keiner kam vorwärts.

Da sah man zwanzig Engländer baumlang, gelb und gelassen von dem Quai herauskommen. Wer ihnen begegnete, prallte entsetzt zurück und sprang beiseite. Sie stiegen in ihre Autos, die selbstverständlich die längsten von den wartenden Autos waren, irgend etwas dienerte um sie herum und klappte devot die Tür zu; und so fuhren sie als erste ab und ließen das Gewimmel der unentschlossenen Welt hinter sich.

So sind die Prokonsuln des Kaisers Trajan in Syrien angekommen, um mit den östlichen Tributärfürsten zu verhandeln.

 

Da ein Feuilletonist selbst auf dem Bahnhof denken muß, so denkt er jetzt folgendes: Dieses Volk hat in den letzten Jahrhunderten den größten Erfolg errungen, den je ein Volk errungen hat. Es ist noch stärker als die katholische Kirche des Mittelalters, die es doch schon in sich hatte; es hat nicht nur ganze Länder aufgefressen, sondern Erdteile und Halberdteile. Und hält jetzt alle Trümpfe der Welt in der durch die Maniküre gutgepflegten Hand.

Das hat es nicht durch die Waffen und Kanonen erreicht, denn darin besteht ja gerade die Größe und das Heldentum, daß man andere für sich kämpfen und sterben läßt. Auch nicht durch die in Leitartikeln beliebte Stetigkeit der Politik und der Tradition: nie hat ein Staatsmann so unstet und verrückt und traditionslos gewirtschaftet wie Lloyd George während des Krieges.

Es scheint vielmehr, daß sie den Welterfolg errungen haben durch den guten Schnitt ihrer Kleider, durch ihre Homespunstoffe und alles, was daran hängt. Durch ihre außerordentliche Orangenmarmelade und ihre morgendlichen Toastbrote; durch diese sonderbare Sauberkeit und die Zahnpflege; durch ihre Bücher und Zeitungen, die besser gedruckt sind als die Bücher und Zeitungen aller anderen Völker; durch den Sport und den soliden Kitsch, der das Vertrauen naiver Völkerschaften erweckt.

Man kann eine Stadt durch Bomben erobern. Einen Weltteil gewinnt und hält man durch die Art des Alltags. Und die englische Art gewinnt und wirbt; Herr Lissauer mag sich darüber ärgern, soviel er will, es läßt sich leider nichts daran ändern. Ein Pole, ein Finnländer, ein Spanier, der mit Engländern zusammenkommt, fängt sachte an, auszugehn wie ein Engländer.

Sie alle werden aufgesogen durch jene Orangenmarmelade.

 

Inzwischen werden an meiner Stammweinstube die Fahnen aller Völkerbundstaaten aufgesteckt. Es sind deren mannigfaltig viele, und man kann sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß die Völker vorläufig immer zahlreicher werden, je mehr wir uns der Verschmelzung nähern.

Das da ist der weiße Adler des jungen Polen, und daneben die langweilige fünffarbige Fahne ist China an Stelle des alten kaiserlichen Drachens. Und dieser Lappen könnte Aserbaidshan sein oder Armenien, was mir bei meinem Glase alten Weißweins übrigens ziemlich Wurst ist.

Die Wappen aller Staaten liegen in den Papierläden aus, und es ist nichts als Raubzeug: stilisierte Aasgeier, Löwen, Leoparden, Bären; dazwischen immer das Kreuz von Golgatha zur Erinnerung, daß die Weltgeschichte ein Gemenge ist von Fraß und Halleluja.

»Warum«, so seufze ich herzbewegend, »warum hat noch nie ein Staat in sein Fahnenwappen die Taube gesetzt, das Tier der Sanftmut und des Friedens?« Und während ich diese Frage stelle, steckt der Oberkellner vor meinem Restaurant die Fahne Siams auf mit dem weißen Elefanten.

Nun, das ist schon etwas. Ein Elefant wiegt zwar keine Taube auf, aber er ist umgänglicher als der britische Löwe. Dieser Elefant von Siam ist ein Lichtblick.

 

In dem Genfer Reformationssaale steht Herr Viviani auf der Tribüne und hält den Völkern eine Rede.

Die Völker hören ihm zu, wie sie können; jedes auf seine Art. Die Japaner abgezirkelt und fern, als seien sie nicht Menschen wie die anderen; die Neuseeländer mit den Händen in den Hosentaschen; die Franzosen mit blitzenden Kneifern.

Weiße Menschen, gelbe Menschen, braune, bronzefarbene Menschen. Warum kein einziger Schwarzer? Besteht die Menschheit denn nicht zu einem Drittel aus Schwarzen? Und hat dieses Drittel kein Recht, gehört zu werden, nur weil es das Schießpulver nicht erfunden hat? Welches doch eher als ein Beweis seiner höheren Gesittung anzusehen wäre.

Viviani spricht dafür, daß die Kommissionen bei verschlossenen Türen beraten sollen, und wie er diesen traurigen Gedanken vorträgt, das ist ein Kunstwerk. Es ist nicht nur ein Vortrag, es ist eine Trilogie, und wenn Herr Max Reinhardt hier mit uns auf der Journalistengalerie säße, er könnte bemerken, daß in einem solchen südlichen Menschen mehr dramatische Bewegung sein kann als in einem Zirkus voller Berliner Statisten.

Der Mann auf der Tribüne wird klein oder groß, wie das Pathos ihn trägt, und dieser Wechsel des Formats wirkt nicht lächerlich; er hebt etwas mit schöpferischen Händen heraus und hält es hoch; er schlägt schwere Vorhänge zurück; und wenn er mit warnendem Finger auf die Heerscharen der Zukunft weist, wird sein alltägliches Gesicht gewaltig wie das eines Erzengels.

Aber ach: all das, um zu beweisen, daß die Völker die Friedensbotschaft nicht erfahren dürfen. All diese Größe und der künstlerische Glanz aufgewandt an eine kleinliche und dunkle Sache.


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