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Das Kostüm für Meyers

In der Straßenbahn, abends gegen sieben Uhr, ist während der Fahrt ein schmächtiges kleines Fräulein eingeschlafen und nickt so regelmäßig auf und ab, als wäre sie aufgezogen. Sie hat ein großes Paket neben sich zu liegen und ist gewiß eine Ladenmamsell, die im Monat 42 Mark Gage bezieht und die sich das Leben einst auch anders vorgestellt hat. Daß sie trotzdem noch immer Sinn für Schönheit und Märchenhaftigkeit hat, das ist aus ihrem Hute zu erkennen, auf dem eine wunderbare blaue Schleife angebracht ist, so groß und so schön wie der Vogel Phönix. Über der Schleife sitzt eine glitzernde Agraffe, und ganz oben gibt es noch ein Wäldchen von Kirschen, Weinbeeren und Primeln.

Diese ganze Landschaft aber wogt auf und ab wie eine wahnsinnig gewordene Südseeinsel, denn die Dame nickt aber auch gar zu sehr. Sie lehnt sich erst einmal ganz weit nach hinten über, verneigt sich dann majestätisch wie auf der Hofcour, so tief, daß man fürchtet, sie könne herunterfallen; aber wenn sie ganz unten angelangt ist, fährt sie mit einem jähen Ruck in die Höhe und fängt wieder von vorne an.

Dieser nickenden Mamsell gegenüber sitzen zwölf Fahrgäste wie die Ölgötzen und starren sie an. Jeder von uns sagt sich: das arme Mädchen fährt gewiß weit über das Ziel hinaus und wird nachher zu Fuß zurücklaufen müssen. Es wäre demnach so etwas wie Christenpflicht, sie aufzuwecken und zu belehren, denn Christen sind wir zwölf Ölgötzen alle, vom ersten bis zum letzten. Aber keiner hat den Mut, denn das würde ja so aussehen, als ob ..., na, und schließlich ist es auch gar nicht meine Sache. Keiner hat den Mut zum Mitleid, welches keine weichherzige Tugend ist, sondern eine panzerstrahlende Tugend und mehr Courage erfordert als alle Schlachtenlenkerei.

So lassen wir denn die wogende Dame ruhig drei Kilometer über ihr Ziel hinausfahren, bis sie schließlich aufwacht, merkt, wo sie ist, und nun herausstürzt, mit dem Vogel Phönix, der Märchenagraffe und dem Palmengärtchen hoch über all dem Unglück. Die zwölf Ölgötzen aber ziehen die Abendzeitungen hervor und blicken alle außerordentlich trotzig und energisch drein. Denn nun brauchen sie sich nicht mehr zu schämen und merken es wieder einmal vorläufig eine Weile nicht mehr, was für Jammerkerle sie sind.

Nur ich allein empfand ein heftiges Erbarmen mit dem bedauernswerten Geschöpf und sah ein, daß hier etwas geschehen mußte. Ich stand auf und eilte ihr nach, um zu sehen, wie das ablaufen würde, und um die Geschichte auf Kavalierart wieder in Ordnung zu bringen. Wirklich marschierte das Paketfräulein zu Fuß zurück; sie hatte also keinen Groschen mehr zur Fahrt, oder wenn sie einen hatte, so brauchte sie ihn zu Wichtigerem. Ich holte sie ein, sprach zu ihr und bot ihr eine Droschke an. Da fing sie unversehens an zu weinen und sagte ganz treuherzig wie zu einem alten Bekannten. »Ach Gott, es ist ja doch zu spät; ich sollte das Kostüm bei Meyers um sieben Uhr abliefern, und nun ist es schon eine Viertelstunde darüber.«

Immerhin stieg sie in die Droschke, die ich herbeiwinkte, und wir fuhren einträchtig zusammen in die »Gebirgshallen«, wo allabendlich von sieben Uhr ab die echten Wiener Originalschrammeln ein Konzert vollführen. Denn ich fühlte plötzlich eine gar mächtige christliche Nächstenliebe in mir lodern und hatte nichts Geringeres vor, als diesem armen, geplagten Kinde einmal einen frohen Abend gnädigst zu bescheren. Hätte sie das dumme Paket mit dem Kostüm für Meyers nicht bei sich gehabt, so hätte sich diese meine Nächstenliebe bis zu einem feineren Weinlokale gesteigert. So aber zügelte ich mein Erbarmen auf die »Gebirgshallen«, wo Ladenjünglinge und sonst solche einfacheren Gemüter umgehen und wo ein Paket mit dem Kostüm für Meyers weiter kein Aufsehen erregt.

In den »Gebirgshallen« nahmen wir uns einen gemütlichen Ecktisch und rückten kameradschaftlich aneinander. Und zu meiner größten Freude konnte ich beobachten, daß mein armer Schützling schon beim vierten Glas Lagerbier und beim zweiten Käsebrötchen aufzutauen begann und nun sich nicht mehr zierte, mir alle ihre kleinen Heimlichkeiten mitzuteilen. Sie erzählte mir, daß sie in einer Kostümschneiderei angestellt sei, daß sie schon einmal ein Kind gehabt habe und daß ihre Rayonvorsteherin, diese Person, ein unanständiges Verhältnis mit dem Chef habe; was aber gewiß noch einmal schlecht enden werde. Ich lächelte mild und sagte väterlich in meinem Innern: sprich dich nur aus, du armes unverstandenes Menschenherz, das wird dir wohl tun, und du wirst mir noch dafür danken. Sie aber bestellte einen Ingwer für sich und einen für mich, bekam immer glänzendere Augen und fragte, ob man denn hier keinen Sekt bekommen könnte. Und wollte sich halbtot lachen, als einer der Schrammein in einem Cellosolo Chopins »Du bist die Ruh« spielte und dabei immer einen so schiefen Mund zog.

Daraufhin beschloß ich, meinem guten Werk die Krone aufzusetzen und sie in die Cupidosäle zu führen, also in eines jener nächtlichen Ballokale, in denen man sich gegen ein Eintrittsgeld von 50 Pfennig in den Strudel des Lebens stürzen kann. Wir gingen zu Fuß hin, und sie war nun schon ganz zutraulich geworden; sie erlaubte mir sogar, das Paket mit dem Kostüm für Meyers zu tragen, hing sich in meinen Arm und lachte den vorüberkommenden Herren vergnügt ins Gesicht. In den Cupidosälen aber herrschte an diesem Abend große Aufregung, weil ein Neger anwesend war und sich am Tanz beteiligte. Er hieß Mr. John, war ein großer schöner Mann und trug einen grauen Zylinder, den er auch während des Tanzes nicht ablegte. Wir setzten uns an einen Tisch und tranken eine Flasche Schaumwein, und meine arme kleine Freundin wurde nicht müde, in den Wirbel des Tanzes zu sehen. Ganz besonders fesselte der schwarze Mr. John ihr Interesse, und sie machte mich in der lebhaftesten Weise und mit erhitzten Wangen darauf aufmerksam, wie männlich und geschmeidig er sei, was er für weiße Wäsche trage und wie er überhaupt einmal etwas ganz anderes sei als alle die übrigen. Schließlich tanzten wir beide eine Polka, was ich eigentlich als den Gipfel der ihr zu gewährenden Wohltaten und meines guten Werkes betrachten wollte. Aber ehe ich es mich versah, lag sie in den Armen des schwarzen Mr. John, mit dem sie nun endlos in einem wilden und wüsten Walzer durch den Saal flog. Sie hatte dabei die Augen geschlossen und tanzte wie im Schlaf und Traum. Aber der blaue Vogel Phönix auf ihrem Hute schwankte und schlug mit den Flügeln, als wäre jetzt erst sein Märchenreich angebrochen, mit nächtlichen Geigentönen, mit Kerzenschimmer und kohlschwarzen Mohrenkönigen. Und als wir dann aufbrachen, stand ich in der Garderobe, hatte das große, dicke Paket mit dem Kostüm für Meyers unter dem Arm und wartete sehr lange auf meine Schutzbefohlene. Bis mir schließlich die Garderobenfrau freundlich sagte: »Die Dame, auf die Sie warten, ist schon vor einer Viertelstunde mit Mr. John in eine Droschke gestiegen und davongefahren.« Da nahm ich das Paket mit dem Kostüm für Meyers und trug es einsam und nachdenklich nach Hause, wo ich dieses fremde Eigentum auf die Kommode legte und dort zunächst einige Tage liegen ließ. Denn es war nicht möglich gewesen, es auf die Straße oder in den Kanal zu werfen, weil dann sämtliche Passanten darinnen eine Kindsleiche vermutet und sich auf mich Lustmörder gestürzt hätten. Auch ging es nicht an, in der Zeitung zu annoncieren, daß sich Meyers bei mir ein Kostüm abholen sollten, denn es gibt in dieser großen Stadt mehrere Meyers, die dann vermutlich alle untereinander in großen Zwist und Hader geraten wären. So wickelte ich denn schließlich das Paket auf und fand darin ein Maskenkostüm, nämlich einen Pagen mit hellblauen Trikots, rosa Pumphöschen und einem karmesinfarbenen Wams. Ich zog es an, besah mich im Spiegel und fand, daß es mich ganz gut kleidete. Aber eine rechte Freude hatte ich nicht daran, da mir der Einblick in die weibliche Wankelmütigkeit und Unzuverlässigkeit das Leben doch ein wenig verbittert hatte. Auf jeden Fall werde ich nun in Zukunft etwas vorsichtiger mit kleinen, schmächtigen Damen umgehen, die auf dem Kopf den Vogel Phönix tragen und gar noch ein Palmengärtchen obendrein.


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