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Eine Begegnung mit Dante

Florenz, ein Junitag, vor dem Kriege. Die Dantegesellschaft hat für zwei Uhr nachmittags eine Vorlesung angesetzt. Ein Professor soll in dem oberen Saale von Or San Michele einen Gesang des Purgatorio vorlesen und erläutern.

Or San Michele ist eine gotische Kirche, die merkwürdigerweise zwei Stockwerke hat; unten ist der gottesdienstliche Raum, oben ein Saal, der einst den Innungen diente. Dieser Saal ist sonst meist geschlossen und kann von den Fremden nicht besichtigt werden. So entschied ich mich, zu dem Vortrag zu gehen, erstens Dantes wegen, zweitens, um diesen Saal zu sehen.

Dabei hatte ich das Vorgefühl, daß es ungefähr so werden würde, wie wenn bei uns ein Privatdozent einen Vortrag über Goethes Pandora hält. Dreißig Zuhörer; Schläfrigkeit; bevor es zu Ende ist, drückt man sich.

Als ich bei Or San Michele ankam, sah ich eine große Reihe von Automobilen, die am Eingang vorfuhren. Und aus allen Straßen eilte es in Scharen herbei; die steinerne Treppe der Jahrhunderte hinauf, gestürmt, gestürzt, um einen guten Platz zu erobern.

Oben füllte die dröhnende Menge den Saal bis auf den letzten Platz. Vorn die schlanken Damen und die florentinischen Kavaliere; weiter zurück hinter einer Schranke die gewaltige Masse des Volkes, Soldaten, Arbeiter, Straßenjungen. Und jeder, der Kavalier sowohl wie der Straßenjunge, hatte ein kleines Taschenexemplar der Göttlichen Komödie bei sich, um nachlesen zu können.

Der Professor stieg auf die Kanzel, und es wurde stille. Und die Worte des seit sechs Jahrhunderten Toten schollen durch den Saal, in dem er selbst einmal gewesen ist, um die hohen grauen Pfeiler; und aus verwitterten Winkeln kehrte der Widerhall ritterlicher Terzinen zurück. Zwei Stunden hörte man diese Stimme; dazwischen immerfort das leise Rascheln der kleinen Bücher, in denen nachgeschlagen wurde.

Als ich die Treppe wieder hinunterging, habe ich mich gefragt: Wo ist der deutsche Dichter, der auf sein Volk gewirkt hat wie dieser Schriftsteller (der unter Kaiser Albrecht I. gelebt hat) auf das seine? Und ich frage es mich immer noch.


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