Anonym
Der Heliand
Anonym

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Des Lazarus Erweckung

                              Nun hör ich, daß zu Christ   gekommen waren
Boten aus Bethania,   die dem Gebornen Gottes
Sagten, sie seien   von zwei Frauen gesendet,
Maria und Martha,   den minniglichen beiden,
Den wonnesamen,   ihm wohlbekannten.
Sie waren Schwestern,   die er selber längst
Im Gemüte minnte   ihres milden Sinnes
Und guten Willens wegen.   Der Wahrheit nach ließen sie
Ihm von Bethanien entbieten,   wie zu Bett ihr Bruder
Lazarus läge,   an dessen Leben sie verzweifelten.
Sie baten, daß ihm Christ   der allwaltende käme,
Der heilige, zu Hilfe.   Wie er nun hörte
Von dem Siechen sagen,   da sagt' er sogleich:
»Lazarus liegt   auf dem Lager nicht
Unheilbar zum Tode:   nur des Herren Preis
Soll da gefördert werden;   ihn gefährdet es nicht.«
Da säumte dann noch   der Sohn des Herrn
Zwei Nächte und Tage,   bis die Zeit genaht war,
Da er wieder zu Jerusalem   die Judenleute
Versuchen wollte,   wie er Gewalt besaß.
Zu den Gesellen sagt' er,   der Sohn des Herrn,
Daß er jenseits des Jordans   die Juden wieder
Besuchen wolle.   Da versetzten sogleich
Die guten Jünger:   »Wie begehrst du so dahin,
Mein Fürst, zu fahren?   Ist doch nicht fern die Zeit,
Wo sie deiner Worte   wegen dich wollten
Mit Steinigung strafen:   und unter das störrische
Volk willst du fahren?   Da sind der Feinde viel,
Der übermütigen.«   Aber einer der zwölfe,
Thomas, versetzte,   der treffliche Mann:
»Tadeln wir sein Tun nicht«,   sprach der teure Degen,
»Oder wehren seinem Willen,   sondern weilen bei ihm,
Dulden mit dem Dienstherrn:   das ist des Degens Ruhm,
Daß er seinem Fürsten   fest zur Seite stehe
Und standhaft mit ihm sterbe.   Stehn wir all ihm bei,
Folgen seiner Fahrt,   lassen Freiheit und Leben
Uns wenig wert sein,   wenn wir im Volk mit ihm
Erliegen, dem lieben Herrn:   dann bleibt uns noch lange
Bei den Guten guter Nachruhm.«   So wurden die Jünger Christs,
Die edelgeborenen,   einmütigen Sinnes
Dem Herrn zu Willen.

                                        Da sprach der Heilige Christ
Zu seinen Gesellen,   entschlafen sei
Auf dem Lager Lazarus.   »Dies Licht verließ er,
Entschlief selig.   Ohne Säumen laßt uns nun
Ihn wieder erwecken,   daß er diese Welt schaue,
Dies Licht, und lebe.   So wird euch der Glaube dann
Noch ferner gefestigt.«   Da fuhr über die Flut
Der gute Gottessohn,   bis er mit den Jüngern
Nach Bethanien kam,   der Geborne Gottes,
Mit seinem Gesinde,   wo die Schwestern beide,
Maria und Martha,   bekümmerten Gemüts
In Schmerzen saßen.   Versammelt waren da
Von Jerusalem   der Judenleute viel:
Die Weiber wollten sie   mit ihren Worten trösten,
Daß sie so nicht jammerten   über des Jünglings Tod,
Des Lazarus Verlust.   Wie nun der Landeswart
Dem Gehöft entgegenging,   da ward des Gottessohns
Kommen dort kundgetan,   der Kräftige wäre
Draußen bei der Burg.   Die beiden Frauen
Waren es wohl zufrieden,   daß der waltende Christ,
Das Friedenskind Gottes,   zu ihnen gefahren kam.
Es war ihnen wahrlich   der Wünsche größter,
Die Kunft des Herren,   und Christi Wort
Wieder zu hören.   Weinend ging da
Die trauernde Martha,   mit dem Mächtigen
Worte zu wechseln.   Zu dem Waltenden sprach sie
Aus harmvollem Herzen:   »Wärst du, o Herr,
Der Nothelfer bester,   uns näher gewesen,
Guter Herr und Heiland,   ich hätte den Harm nun nicht,
Die bittere Brustbeschwer:   mein Bruder wär nicht geschieden,
Lazarus, aus diesem Licht,   er möcht uns noch leben
Des Geistes voll;   obgleich ich zu dir, o Herr,
Lichthell glaube,   der Lehrer bester,
Was du auch verlangen willst   von dem erlauchten Herrn,
Daß es gleich dir gibt   Gott der Allmächtige,
Deinen Wunsch gewährend.«   Da gab der waltende Christ
Ihr zur Antwort:   »Laß dir im Innern nicht
Die Seele verdüstern.   Sagen will ich dir
Mit wahren Worten,   und wenden mag es nichts:
Dein Bruder soll   auf Gottes Gebot
Durch des Herren Kraft   sich erheben vom Tode
In seinem Leichnam.«   Sie sprach: »Den Glauben hab ich gänzlich,
Daß es also werden wird,   wenn diese Welt endet
Und jener mächtige Tag   über die Menschen fährt,
Daß er dann auch von der Erde   wird auferstehen
Am Tage des Gerichts,   wenn vom Tod erweckt
Durch die Macht Gottes   die Menschengeschlechter
Sich von der Rast errichten.«   Da sprach der reiche Christ,
Der allmächtige, zu ihr   mit offenen Worten,
Er selber wäre   der Sohn des Herrn,
Das Licht und das Leben,   und der Leute Kindern
Die Auferstehung.   »Nie sterben wird
Und sein Leben verlieren,   der da glaubt an mich,
Ob auch die Erdensöhne   ihn mit Erde bedecken,
Ihr tief ihn vertrauen,   doch scheint er nur tot:
Das Fleisch ist ihr befohlen,   doch frei der Geist
Und die Seele gesund.«   Da versetzte sogleich
Das Weib die Worte:   »Du bist des Waltenden Sohn,
Der allmächtige Christ:   das mag man erkennen
Wahrlich an deinen Worten,   du hast Gewalt durch Gottes
Heiligen Ratschluß   über Himmel und Erde.«

Da kam der Edelfraun   die andre gegangen,
Maria, die trauernde,   der in Menge folgten
Die Judenleute.   Zu Gottes Gebornem
Sagte sie schmerzensvoll,   wie ihr voll Sorgen war,
Voll Harm das Herz,   wie herb ihr Jammer
Um Lazarus' Verlust,   des lieben Mannes.
Mit Schluchzen weinte sie,   bis dem Sohne Gottes
Das Herz gerührt ward:   heiße Tränen
Entwallten dem weinenden.   Zu den Weibern sprach er dann:
»Nun leitet mich hin,   wo Lazarus liegt,
Der Erde befohlen.«   Ein Fels lag über ihm,
Ein schwerer Stein gedeckt.   Der Sohn des Herrn gebot,
Die Last zu lüften,   daß er die Leiche sähe,
Den Toten schaute.   Da trieb ihr Herz
Marthen, vor der Menge   zu dem Mächtigen zu sprechen:
»Guter Herr,« begann sie,   »wenn man vom Grabe höbe
Den starken Stein,   so stiege Gestank auf,
Unsüßer Geruch,   denn sagen mag ich dir
Mit wahren Worten   all sonder Wahn,
Der Tag' und Nächte vier   schon ward er befohlen
Der Erd im Grabe.«   Doch Antwort gab
Dem Weibe der Waltende:   »Wahrlich, ich sage dir,
Wenn du glauben wolltest,   so würdest du bald
Erkennen können   die Kraft des Herrn,
Gottes große Macht.«   Da gingen etliche
Und huben den Stein ab.   Da sah der Heilige Christ
Hinauf mit den Augen   und sagte dem Ewigen
Dank, der diese Welt schuf,   »daß du mein Wort erhörst,
O Herr des Sieges,   denn sicher weiß ich,
Du tust es immer.   Ich aber tue dies
Vor diesem großen   Judenvolke,
Daß sie in Wahrheit wissen,   daß du in die Welt mich sandtest,
Die Leute zu lehren!«   Dann rief er Lazarus an
Mit starker Stimme   und hieß ihn auferstanden
Aus dem Grabe gehn.   Da kam der Geist zurück
In des Liegenden Leichnam:   er rührte die Glieder
Und wand sich empor unterm Gewand,   denn bewunden war er noch,
In Leichentücher gehüllt.   Da ließ ihm helfen
Der waltende Christ:   Leute kamen,
Ihm das Gewand zu entwinden.   Wonnig erstand
Lazarus zu diesem Licht.   Ihm war Leben verliehen,
Des anerschaffenen   Alters zu genießen
Fürder in Frieden.   Da freuten sich beide,
Martha und Maria.   Das mag kein Mann dem andern
Beschreiben und sagen,   wie die zwei geschwisterten
Frauen frohlockten.   Viele nahm es wunder
Der Judenleute,   da sie ihn vom Grabe sahen
Gesund erstehen,   den Siechtum hingerafft,
Den sie tot vertraut   der Erde tief,
Den Lebenslosen,   daß er nun leben dürfte
Heil in der Heimat.   So mag der Himmelskönig,
Die gewaltige Gottesmacht,   einem jeden der Menschen
Die Seele befreien,   ihm wider der Feinde Drang,
Der Heilige, helfen,   dem er seine Huld verleiht.

Da ward manchem Manne   das Gemüt zu Christ
Hingewandt, das Herz,   als sie sein heilig Werk
Da selber sahen,   denn so war nie geschehen
Ein Wunder in der Welt.


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