Anonym
Der Heliand
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Die Kanaanitin

                                                                    Da gedachte der waltende Christ
Von dem See zu scheiden,   der Sohn des Herrn,
Gottes Eingeborner.   Da kamen Ausländische
Ihm entgegengegangen,   die von seinen guten Werken
Erfahren in der Ferne   und vieles, das er sprach
Von weisen Worten.   Sein Wunsch wohl war es,
Auch fremde Völker   dahin zu fördern,
Daß sie Gott dem Geber   gerne dienten,
Den Gehorsam hielten   dem Himmelskönig,
Alle Menschen zumal.   Über der Mark der Juden
Sucht' er Sidon auf   und die Gesellen mit ihm,
Die guten Jünger.   Da ging ihm entgegen
Ein ausländisch Weib   von edelm Geschlecht,
Gebürtig aus Kanaan.   Sie bat den Gewaltigen,
Den Heiligen um Hilfe:   ihr war Harm erstanden,
Um die Tochter Sorge,   die eine Sucht befinge
Durch tückischer Geister Trug.   »Der Tod ist ihr nah,
Ihr Bewußtsein bannten die Bösen.   Nun bitt ich dich, Waltender,
Der du Davids Sohn bist,   daß du von der Sucht sie befreist
Und bald die Arme   erbarmungsvoll
Vor dem Wüterich bewahrst.«   Noch weigerte der waltende Christ
Ihr alle Antwort,   doch unablässig
Folgte sie ihm fürder,   bis sie ihm zu Füßen fiel
Und ihn jammernd begrüßte.   Die Jünger Christs
Baten ihren Herrn,   daß sein Herz doch milde
Würde dem Weibe.

                                    Da hielt sein Wort bereit
Der Sohn des Herrn   und sprach zu den Gesellen:
»Erst soll ich Israels   Abkömmlinge
Fördern, unser Volk,   daß sie frommen Sinn
Zu dem Herrn haben.   Ihnen ist Hilfe not:
Verloren sind die Leute,   da sie verließen
Des Waltenden Wort.   Sie wanken und zweifeln
Unerleuchteten Herzens,   wollen dem Herrn nicht gehorchen.
Israels Abkommen   sind ungläubig geworden
Ihrem holden Herrn.   Doch Hilfe von da kommt dann
Auch den Außenvölkern.«   Unablässig bat
Das Weib doch weiter,   daß der waltende Christ
Ihr mild werden möchte   in seinem Gemüte
Und sie ferner der Tochter   sich erfreuen dürfte,
Sie heil erhalten sehn.

                                        Der Herr entgegnete,
Der mächtige Mittler:   »Keinem Manne geziemt,
Und wahrlich wär es auch   übel bewandt,
Wenn er das Brot   den eignen Gebornen
Versagen sollte,   sie verschmachten ließe
In heißgrimmem Hunger,   und würf es den Hunden vor.«
»Das ist wahr,« sprach sie, »  Waltender, was du mit weisen Worten
Sinnig sagst.   Doch geschieht's, daß im Saal
Sich auch die Hündlein   unter des Herren Tisch
Von den Brosamen sättigen,   die unter die Bank
Beim Festmahl fielen.«   Das Friedenskind Gottes
Sah des Weibes Gesinnung   und sagte zu ihr:
»Wohl dir, o Weib,   du bist guten Willens,
Und groß ist dein Glaube   an Gottes Macht,
Den Herrn der Heerscharen.   Drum soll es gehalten sein
Um deines Kindes Gebrechen,   wie du batest von mir.«
Und geheilt ward sie gleich,   wie es der Heilige sprach
Mit wahrhaften Worten.   Das Weib ward froh,
Daß sie der Tochter ferner   sich erfreuen durfte.
Geholfen hatt ihr   der heilende Christ,
Hatte sie, die verfallen   schon an des Feindes Macht,
Vor dem Wüterich bewahrt.


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