Anonym
Der Heliand
Anonym

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Mordversuch

                    So lehrt' er mit Weisheit.   Die Leute liefen zu
Aus ganz Galiläa,   das Gotteskind zu sehn,
Verwundert, von wannen   solch Wort ihm käme,
So weislich gesprochenes,   daß er den Willen Gottes
So wahrhaftig   zu sagen wußte,
So kräftig zu künden.   »Er ist doch ein Kind des Landes,
Ein Mann aus unsrer Mitte;   seine Mutter wohnt bei uns,
Ein Weib aus dem Volke,   wie wir das alle wissen.
So kennen wir seine Abkunft,   seine Kundschaft und Sippe;
Sie erwuchsen hier wie wir.   Wie käm ihm solch Wissen,
Wie vermöcht er mehr   als andre Männer?«
So verachteten ihn alle,   sprachen übel von ihm,
Verhöhnten den Heiligen,   wollten nicht hören
Auf seine Gebote.   Da mocht er der Bilder viel
Ihres Unglaubens wegen   ihren Ohren nicht gönnen
Noch hehre Zeichen zeigen:   er kannt ihren Zweifelsinn,
Ihren widrigen Willen.   Keine andern waren
Unter den Juden so grimm   wie die Galiläer,
So harten Herzens,   obwohl der Heilige Christ
Da geboren war, Gottes Sohn,   doch wollten sie seine Botschaft
Nicht freundlich empfangen,   vielmehr begann das Volk,
Das rohe, zu beraten,   wie sie den reichen Christ
Recht martern möchten.   Sie ließen die Mannen
Sich sammeln und scharen:   Sünde wollten sie
Dem Gottessohne   gern andichten
Aus widrigem Willen.   Seiner Worte achteten sie nicht,
Der weislich gesprochenen,   sondern besprachen sich,
Wie sie den Starken   von einer Steinklippe würfen,
Über einen Burgwall:   sie wollten Gottes Geborenen
Des Lebens ledigen.   Doch er mit seinen Leuten
Fuhr fröhlich einher;   ohne Furcht war sein Herz:
Ihm mochten, wußt er,   die Menschenkinder,
Seiner Göttlichkeit wegen,   die Judenleute,
Eh seine Zeit kam,   nicht Schaden zufügen,
Leidige Verletzung.   Mit seinen Leuten all
Stieg er auf den Steinholm,   der Stätte zu,
Wo sie ihn vom Walle   zu werfen gedachten,
In den Grund zu begraben,   daß er den Geist aufgäbe,
Das Leben ließe.   Doch ward den Leuten ihr Anschlag
Auf dem Berge oben,   der bittre Gedanke,
Den Juden vereitelt:   nicht einer war so grimmen Muts,
So widrigen Willens,   daß sie des Waltenden Sohn,
Den Christ noch erkennten.   So kund war er keinem,
Daß sie ihn unterschieden.   So konnt er unter ihnen stehn,
Mitten in der Menge   der Menschen gehen
Und das Volk durchfahren. –   Den Frieden schuf er sich
Selbst wider die Schar   und schritt dann mitten
Durch das Volk der Feinde   und fuhr dahin,
Wo er wollte, in eine Wüste,   des Waltenden Sohn,
Der Könige kräftigster:   er hatte der Kür Gewalt,
Wo er im Lande   am liebsten wollte sein,
Weilen in dieser Welt.

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