Anonym
Der Heliand
Anonym

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Mariä Verkündigung

                Unlange währt' es noch,   bis alles geleistet war,
Was so manches Mal   der allmächtige Gott
Versprochen hatte   dem Geschlecht der Menschen,
Daß er sein himmlisch Kind   hieher in die Welt,
Den eigenen Sohn,   zu senden gedächte,
Alle Geschlechter der Leute   hier zu erlösen,
Die Welt vom Wehe.   Da geschah, daß sein Weisbote
Nach Galiläa,   Gabriel, kam,
Des Allwaltenden Engel,   wo er die Edle wußte,
Die minnigliche Magd,   Maria geheißen,
Eine züchtige Jungfrau.   Ihr hatt ein Jüngling sich,
Joseph, vermählt,   ein Mann aus gutem Haus,
Der Tochter Davids.   Ein teures Weib war
Die edle Verlobte.   Als der Engel Gottes
Sie nun in Nazareth   mit Namen selber
Gegenwärtig grüßte   nach Gottes Geheiß:
»Heil dir, Maria,« hub er an,   »du bist dem Herren lieb,
Dem Waltenden wert,   weil du Weisheit hast,
Gnadenreiche Jungfrau.   Du wirst von Gott
Vor allen Weibern geweiht:   wende dich nicht ab verzagt,
Für dein Leben bange,   dir bringt mein Kommen nicht Gefahr
Noch heimlichen Trug:   du sollst unsers Herrn
Mutter sein bei den Menschen,   des Mächtigen Sohn gebären,
Des hohen Himmelskönigs.   Heiland soll er heißen
Der Erde Söhnen.   Kein Ende kommt
Des weiten Reiches,   des er walten soll,
Der mächtige Fürst.«   Die Magd erwiderte
Dem Engel Gottes,   aller Jungfraun schönste,
Die holdseligste Frau:   »Wie mag das geschehen,
Daß ich ein Kind gebäre,   da kein Mann mir kund ward
Noch all mein Leben?«   Da hielt die Antwort bereit
Des Allwaltenden Engel,   ihr zu erwidern:
»In dich soll der heilige Geist   von des Himmels Au
Durch Gotteskraft kommen,   daß ein Kind dir geboren
Wird zu dieser Welt.   Des Waltenden Kraft
Soll dich vom höchsten   Himmelskönig
Scheinend überschatten.   Nie ward schönre Geburt,
Glorreichere auf Erden:   sie kommt durch Gottes Macht
In diese weite Welt.«   Da ward des Weibes Sinn
Durch Gabriels Botschaft   gänzlich geworben
In Gottes Willen.   »Dann bin ich willig«, sprach sie,
»Zu solchem Dienstgeschäft,   des er mich würdigen will.
Sieh, ich bin Gottes Magd,   gänzlich vertrau ich dir:
Nach deinen Worten werde mir,   wie es der Wille ist
Meines Herren.   Mein Herz weiß von Zweifel nichts,
Nicht Wort noch Weise.«

                                              So empfing das Weib
Die Gottesbotschaft   gern und willig,
Mit lichtem Sinn   und mit lauterer Treue,
In gutem Glauben.   Da ward der Heilige Geist,
Das Kind, in ihrem Schoß,   sie erkannt es in der Brust
Und versann sich sein   und sagte, wem sie wollte,
Daß sie gesegnet habe   des Allerschaffers Macht,
Die heilige, vom Himmel.


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