Anonym
Der Heliand
Anonym

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Einzug in Jerusalem

              Da nahte nun   der Nothelfer Christ,
Der gute, Jerusalem.   Entgegen ging ihm
Viel williges Volk   und wohlgesinntes.
Die empfingen ihn festlich   und bestreuten vor ihm
Den Weg mit Gewändern   und würzigen Kräutern,
Blumen und Blüten   und der Bäume Zweigen,
Mit Palmen das Feld,   wohin seine Fahrt ging,
Als jetzt der Gottessohn   einzugehn gedachte
Zu der weltkunden Burg.   Ihn umwogte die Menge
Der Leute mit Lusten,   und Lobgesang erhob
Die freudige Menge,   den Fürsten verherrlichend,
Daß er selber gekommen war,   der Sohn Davids,
Sein Volk zu erfreuen.   Da sah der waltende Fürst
Dort zu Jerusalem,   der Guten bester,
Den Burgwall blinken   und der Juden Gebäude,
Die hohen Hornsäle,   und das Haus Gottes,
Der Weihtümer wonnigstes.   Da wallt' ihm bewegt
Das Herz in der Brust,   das heilige Gotteskind mochte
Dem Weinen nicht wehren;   viel Worte sprach er
Schmerzlich betrübt   und mit schwerem Herzen:
»Weh ward dir, Jerusalem,   daß du in Wahrheit nicht weißt
Die Wehgeschicke,   die dir noch werden sollen!
Wie du noch umstellt wirst   mit Heeresstärke,
Dich umlagern werden   arglistige Männer,
Feindliche Völker;   dann findest du nirgends Frieden,
Schutz noch Hilfe.   Sie schwingen wider dich viel
Schwerter und Schneiden,   schwere Kriegsworte
Verfemen dein Volk,   Feuers Flammen
Verwüsten deine Wohnungen,   die hohen Wälle
Fällen sie zu Boden.   Kein Fels bleibt dann,
Kein Stein auf dem andern:   die Stätte wird wüst
Um Jerusalem   den Judenleuten,
Weil sie nicht erkennen,   daß ihnen gekommen sei
Die Zeit ihrer Zeiten,   denn sie zweifeln noch,
Wissen nicht, daß sie heimsucht   des Waltenden Kraft.«

Mit der Menge ging dann   der Männer Fürst
In die prächtige Burg.   Als der Geborne Gottes
In Jerusalem   mit der gaffenden Menge
Und den Begleitern einzog,   da ward der Sänge größter
In hellen Stimmen erhoben:   mit heiligen Worten
Lobte den Landeswart   der Leute Menge,
Der Gebornen besten.   Die Burg kam in Aufruhr,
Das Volk war in Furchten   und fragt' alsbald,
Wer es wär, der da käme   mit kräftiger Schar,
Mit der mächtigen Menge.   Da gab ein Mann zur Antwort,
Daß da Jesus Christ   von Galiläaland,
Von Nazarethburg,   der Nothelfer käme,
Der weise Wahrsager,   zu wenden die Not.
Das schuf den Juden,   die ihm gram waren längst,
Abhold im Herzen,   Harm im Gemüte,
Daß ihm die Leute so lauten   Lobgesang erhoben,
Den Herrn zu verherrlichen.   Da huben Toren an,
Die ihre Worte wandten   zu dem waltenden Christ,
Er sollte dem Geleite   doch Schweigen auferlegen,
Die Leute hindern,   daß sie ihm Lobs so viel
Im Gesange spendeten,   »ihr Geschrei beschwert
Die Burgleute.«   Der Geborne Gottes sprach:
»Hindert ihr hier   die Heldenkinder,
Daß sie des Waltenden Kraft   mit Worten verherrlichen.
So werden die Steine   ihre Stimmen erheben,
Die festen Felsen   vor dem Volke hier,
Eh es unterbliebe,   daß ihm Lob gesungen sei
Weit über die Welt.«


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