Anonym
Der Heliand
Anonym

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Der lebendige Brunnen

                                                      Da stand das Volk der Juden,
Übles im Herzen   wie von Anfang hegend
Und widrigen Willen,   wüßten sie des Volkes Herz
Dem Friedenskind Gottes   nur feindlich zu stimmen.
Aber die Leute waren   im Glauben uneins:
Die Ärmern eher   zu ihm geneigt,
Gar viel begieriger,   des Gotteskindes
Geheiß zu vollbringen,   was ihr Herr nur gebot,
Und dem Rechten holder   als die reichen Leute:
Sie hielten ihn für den Herrn,   für den Himmelskönig
Und folgten ihm gerne.

                                          Da ging der Gottessohn
In das Weihtum wieder;   ihn umwogte des Volks
Eine mächtige Menge.   In der Mitte stand er
Und lehrte die Leute   mit lichten Worten,
Mit lauter Stimme.   Da lauschten alle,
Und viele staunten,   wie er dem Volk gebot:
»Wer da vom Durste   bedrängt ist, der komme
Zu mir und trinke   an der Tage jeglichem
Süßen Brunnen!   Ich sag euch wahrlich,
Wer lauter an mich glaubt   von der Leute Kindern
Unter diesem Volke,   dem heiß' ich fließen
Aus seinem Leibe   lebende Flut:
Rinnendes Wasser   aus rauschender Quelle
Wallt ihm, ein Lebensborn.   Dies Wort wird erfüllt,
Den Leuten geleistet,   die an mich glauben.«
Mit dem Wasser meinte   der waltende Christ,
Der hehre Himmelskönig,   den Heiligen Geist,
Daß des Volkes Söhne   den empfangen sollten,
Licht und Erleuchtung   und ewiges Leben,
Die hohe Himmelsau   und die Huld Gottes.
Da gerieten die Leute   um die Lehre Christs
In Streit: dort standen   stolze Männer,
Hochmütge Juden,   die sich vermaßen,
Den Herrn zu höhnen:   sie hörten wohl, sagten sie,
Daß aus ihm redeten   üble Wichte,
Unholde Geister,   da er so Übles lehre
Mit jedem Worte.   Dawider sprachen andre:
»Lästert den Lehrer nicht!   Lebensworte kommen
Mächtig aus seinem Munde,   und mancherlei Wunder
Wirkt er in dieser Welt.   War es des Teufels Werk,
Unselger Geister,   wie brächt es solchen Segen?
Drum ist es offenbar,   von dem allwaltenden Gott
Kommt es, von seiner Kraft.   Wohl erkennt ihr es auch
An seinen wahren Worten,   daß er Gewalt besitzt
Über alles auf Erden.«   Da hätten ihn die Abgünstigen
Gern auf der Stelle gefangen   oder gar gesteinigt,
Müßten sie der Menschen   Menge nicht scheuen,
Das Volk nicht fürchten.   Da sprach das Friedenskind Gottes:
»Ich zeig euch des Guten   von Gott doch so viel
In Worten und in Werken,   und ihr wollt mich strafen,
Ihr Starrsinnigen,   mich mit Steinen ertöten,
Vom Leben lösen.«   Die Leute entgegneten,
Die wütigen Widersacher:   »Nicht deiner Werke wegen
Tun wir's, daß wir den Tod   dir erteilen wollen,
Nur deiner Worte wegen,   der widersinnigen,
Daß du dich so mächtig rühmst   und solche Meinreden führst
Und sagst vor den Juden,   du seist Gott selber,
Der mächtige Herr,   da du ein Mensch bist wie wir,
Von unserer Abkunft.«

                                          Der allwaltende Christ
Wollte nun den Hohn   nicht mehr hören der Juden,
Der Wütigen Verwünschung.   Aus dem Weihtum ging er
Über des Jordans Strom,   und seine Jünger mit ihm,
Die seligen Gesellen,   die stets bei ihm
Willig weilten:   dort wußt er ein ander Volk.
Da tat nach Gewohnheit   der waltende Christ;
Er lehrte die Leute,   und glaubte wer wollte
An sein heilig   Wort, das immer half
Der Menschen männiglichem,   der es zu Gemüte nahm.


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