Anonym
Der Heliand
Anonym

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Josephs Traumgesicht

                                                            Im Herzen Josephs
War nun trüber Mut,   der die Magd zuvor,
Die verlobte Jungfrau   von erlauchtem Geschlecht,
Sich zur Braut gewonnen.   Er gewahrte sie gesegnet
Und träumte sich nicht,   daß die Getreue doch
Ihre Weibheit bewahrt.   Noch wußt er des Waltenden
Frohe Botschaft nicht   und wollte die Braut
In sein Haus nicht holen:   im Herzen erwog er,
Wie er sie verließe,   daß ihr kein Leid geschähe
Noch Drangsal davon.   Er gedacht es nicht
Der Menge zu melden,   weil die Menschen nicht
Ihr das Leben ließen.   Denn der Leute Brauch war
Nach altem Gesetz   des ebräischen Volks,
Wem mit der Heimgeholten   das Unrecht ins Haus kam,
Dem büßte die Frau   das befleckte Bette
Mit Blut und Leben.   Sie litten die Beste nicht,
Daß sie bei den Leuten   länger leben durfte,
Inmitten der Menge.   Da mußte der weise,
Der gute Mann wohl   in seinem Mute, Joseph,
Der Dinge gedenken,   wie er doch die Magd
Mit Listen verließe.

                                    Nicht lange, so geschah es,
Daß im Schlaf ihm erschien   des Erschaffers Engel,
Des Himmelskönigs Bote,   daß er sie heilig hielte
In minnendem Mute:   »Sei Marien nicht abhold,
Deiner Anverlobten,   denn ehrbar ist sie.
Verschmäh sie nicht so sehr;   du sollst sie pflegen
Und würdig warten.   Bewahrt euch eure Treue
Hinfort wie zuvor   und eure Freundschaft,
Verlaß sie nicht, noch sei dir leid,   daß ihr reiner Leib
Mit dem Kinde geht,   es kommt durch Gottes Gebot,
Des Heiligen Geistes   von der Himmelsau:
Es ist Jesus Christ,   Gottes eigen Kind,
Des Waltenden Sohn:   drum sollst du sie wohl
Halten und heilig.   Laß dein Herz nicht zweifeln,
Dein Gemüt nicht irren.«

                                            Da ward des Mannes Sinn
Gewendet nach den Worten,   daß er wieder gewann
Minne zu der Magd   und Gottes Macht erkannte,
Des Waltenden Willen.   Da ward der Wunsch ihm groß,
Sie hochheilig   zu halten immerdar,
Vor dem Gesind sie versorgend.   Und sie trug säuberlich,
Um des Herren Huld,   den heiligen Geist,
Den göttlichen Sohn,   bis Gottes Schickung
Sie mächtig mahnte,   daß sie an der Menschen Licht
Der Gebornen besten   nun bringen sollte.


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