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XXXIX

Auch an jenem Abend, als Anne-Marie mit den Schilfwurzeln nach Hause kam, fand Frau Coßmann nicht die »passende« Gelegenheit, sich mit der Tochter über die Reise nach Buenos Aires auszusprechen. Alles mögliche und unmögliche war ihr dazwischengekommen. Auch Onkel Heinrich kam heute früher als sonst vom Feld zurück. Er hatte das neu angelegte Baumwollfeld besichtigt, war bei den Holzfällern gewesen und hatte Pedro zwei Stunden lang am Pflug abgelöst, weil der sich mit einer plötzlich aufgetretenen Nierenkolik im Busch herumkrümmte. Auch ihm, dem »Heiner« steckte etwas in den Knochen. Ehe er davon sprach, hatte Martha es schon bemerkt und ihm geraten, »Chac-Chac« zu trinken; das war ein Aufguß aus den frischen Blättern der bitteren Orange mit einem Zusatz von den Blüten einer Sumpfhyazinthe, ein indianisches Mittel, »gut für alles, wenn man sich nicht wohl fühlt«.

»Heiner« lehnte ab. Er sagte, daß es heute unerträglich auf dem Feld gewesen sei, so wie an einem gewitterschwülen Hochsommertag. »Gewitter sind sicher auch in der Luft, eine ganze Mandel sogar, rundum und oben und unten, bloß an die Öffentlichkeit trauen sie sich noch nicht. Sie scheinen Schreckliches mit uns vorzuhaben. Mir wäre es lieber, sie kotzten sich heute nacht gründlich aus und ließen uns dann für eine Weile in Ruhe.«

Auf der Veranda fand er es »bedeutend erträglicher«. Er hatte noch ein Bündel Zeitungen zu studieren, und bei dieser Arbeit hüllte er sich in eine dichte Rauchwolke.

Anne-Marie leistete ihm Gesellschaft, nicht beim Qualmen, sondern sie blätterte mit spitzen Fingern in den Revistas herum und bezeichnete die dort abgebildeten Damen von Bühne und Film oder aus der noch höheren Gesellschaft als ein Beet höchst langweiliger Tulpen. »Sieh mal, Onkel, wenn man eine davon in eine dünne Glasvase stellt, aber nicht vergißt, auch gleich eine Tablette Pyramidon dem Wasser beizumischen, dann könnte es sein, daß man sie einen Tag lang originell findet. Auf die Dauer aber und in Massen: Brrrr!«

»Diese Brrrrs werden dir nicht mehr über den Rücken laufen, Mädchen, wenn du einmal Mitglied dieser Massen bist. Dann wirst du es sogar fertigkriegen, glaube ich, dir die Fingernägel nicht himbeerrosa oder purpurrot zu lackieren, sondern sie dir ausreißen zu lassen und auf den Backen, auf jeder Seite fünf, als Zeichen indianischer Vollkommenheit zu tragen. Allerdings gehört noch die Tellerköpfigkeit dazu, zu der wird die Welt, in der man sich bekanntlich nicht langweilt, es wohl auch noch bringen.«

»So spaßig ist dir heute zumute?« fragte Anne-Marie. »Na, dann wird das Gewitter sich wohl auch noch Zeit lassen«, lachte sie und blätterte weiter. Muttchen berührte, als sie die Gläser mit Frischwasser auf den Tisch stellte, mit einer Strähne ihres Haares das Gesicht Anne-Maries und fragte: »Gedenkst du heute länger aufzubleiben? Oder fühlst du dich auch nicht gut?«

»Nein«, antwortete Anne-Marie mit einem Lächeln, hinter dem eine sonderbare Unruhe flatterte, »eine lange Nacht gedenke ich nicht abzuhalten. Ich habe noch an der letzten zu knabbern.«

Onkel Heinrich sah auf, Anne-Marie aber blieb unbewegt, als er den Versuch machte, mit den Augen etwas aus ihr herauszulocken.

Von allen, die dann am Tisch saßen, aß nur Martha mit gutem Appetit. Die Schwüle schien ihr Blut nicht zu belasten. Heinrich dachte, als er sie kauen sah: Sie hat miserable Zähne, sicher haben sie noch nie eine Bürste gesehen. Ich werde mit Anne-Marie sprechen, damit sie von dorther einen Wink bekommt; mich würde sie wahrscheinlich verwundert ansehen. Immerhin, ihrem Haar ist die neue Ordnung ausgezeichnet bekommen. Und verschiedenes andere macht sich auch. Es wird also wohl dabei bleiben, daß man sie dem alten Adam einverleibt …

Gleich nach dem Essen erhob sich Anne-Marie. Als sie Muttchen gute Nacht wünschte, veränderte sich ihr Gesicht auch nicht um den leisesten Schatten, eine Maske. Muttchen sagte nichts, auch zu Heinrich, als er den Kopf hob und auf die Tür wies, hinter der das Mädchen verschwunden war.

»Die Prinzessin geruht, diesmal geheimnisvolle Launen zu haben. Und darin kenne ich mich leider nicht aus.«

Martha verabschiedete sich auch bald. »Natürlich, du hast ja kaum noch Augen im Kopf, der Schlaf braucht Ellenbogen«, sagte Onkel Heinrich, als sie ihm die Hand gab.

Martha kleidete sich im Dunkeln aus. Sie machte auch nicht viel Worte dabei, und als sie sich legen wollte, fand sie sogar mehr Platz als sonst, Anne-Marie hing fast auf der Bettkante.

In der letzten Sekunde vor dem Einschlafen dachte Anne-Marie noch: Sonderbar sah heute das Wasser der Lagune aus. Wie das tote Auge eines Fisches. Wenn Menschen lange in der Erde gelegen haben, werden ihre Augen wahrscheinlich auch so aussehen. Auch dabei muß ich wieder an die Mutter Cayrús denken.

Aber wie Cayrú mich aufgeweckt hat, bloß mit seinen Augen … das war schön! Unvergeßlich schön …

»Und daran wird er wohl sterben müssen …«

Die Stimme, die sich draußen vor dem Fenster verflüsterte, traf nicht mehr das Ohr des Mädchens.

 

Onkel Heinrich, der den Packen Zeitungen so ziemlich bewältigt hatte, sagte zu seiner Schwägerin: »Wer sich heute im Bett wohl fühlt, muß ein gehörig dickes Fell haben. Ich werde mir nachher den Ohrenbackensessel holen und draußen, das heißt: auf der Veranda, bleiben, solange es geht.«

Als die Schwägerin ihn fragte, ob es heute noch zu einem Gewitter käme, antwortete er: »Ich glaube kaum, daß die Firma Gewitter & Co. uns diesen Gefallen tun wird. Die Preise sind noch nicht hoch genug. Kanada erstickt in Weizen und Texas in Baumwolle. Deshalb hat es bei den Affen unten im Süden drei Monate lang nicht zu regnen. Die berühmte ausgleichende Gerechtigkeit oder der Mensch denkt, und die Börse lenkt. Verstanden, Muttchen?«

»So spaßig zumute ist mir heute allerdings nicht, Heinrich. Ich muß das Gewitter leider ein wenig ernster nehmen. Ich glaube, daß Friedrich am Montag mit Anne-Marie nach Buenos Aires fahren wird. Eine lange Reise, nicht wahr? Und jetzt kann man sie wohl noch riskieren.«

»Wenn das Gewitter keinen ausgiebigen Regen bringt, was ich nach all den Erfahrungen hier nicht annehmen kann, dann werden wir sicher noch eine Reihe von ruhigen Tagen haben. Und da ist es richtig, daß er jetzt fährt. Aber davon abgesehen: Weshalb so eilig mit einem Male? Habt ihr denn schon Antwort vom Institut?«

»Mit dieser Post ist noch nichts gekommen. Wir wollen es aber auch ohnedies versuchen. Wer weiß, was alles sich im kommenden Herbst begeben wird, wenn das Projekt mit dem Hafen sich verwirklichen sollte. Besser, wir ordnen unser Haus schon jetzt. Ich habe doch nun Martha hier, und in der übernächsten Woche kommt auch die junge indianische Frau, um die alte in der Küche abzulösen.«

»Natürlich … seit Martha hier ist, hat die Situation sich geändert. Wenn sie dir die Tochter ein wenig ersetzt, ich meine: außerhalb der Arbeit, dann soll es mich freuen.«

»Man wird ja sehen, was alles noch wird«, antwortete Frau Coßmann.

»Wie meinst du das mit dem Werden?« fragte der Schwager Heinrich. »Meinst du das Einigwerden mit Anne-Marie … oder: wie sich Martha hier im Haus entwickelt?«

»Beides meine ich, Heinrich. Denn irgendwo oder auch irgendwie, ich hoffe, du nimmst mir diesen Ausdruck nicht krumm, ist das eine mit dem anderen eng verbunden.«

»Jetzt oder in Zukunft? Du drückst dich heute ziemlich dunkel aus«, sagte der Schwager.

»Was du alles von mir wissen willst, Heinrich! Langes Reden über die Sache macht sie gewiß nicht verständlicher. Jeder kann sich seine eigenen Gedanken darüber machen«, antwortete Frau Coßmann und begab sich wieder in die Küche zurück. Mindestens zwei Stunden noch hörte sie der Schwager herumhantieren. Dann suchte auch er das Bett auf und verzichtete gern auf den Ohrenbackensessel.

Der Himmel, ohne den geringsten Wind, brannte jenseits des Flusses hell auf. Die Ochsenfrösche schrien sich heiser. Die kleinen Nachtaffen weinten herzzerreißend; es hörte sich allerdings nur so an. Dennoch war dieses Weinen ein gutes Zeichen dafür, daß die Luft dick mit Elektrizität geladen war. Auch das enorme Geschwärm der Moskitos sprach dafür. In Scharen von Milliarden klebten sie am Drahtgitter. Wehe, hätte man jetzt die Tür zum Garten geöffnet! Frau Coßmann war schon nahe daran gewesen, denn sie wollte noch ein paar Züge Frischluft einziehen. Sie löschte das Licht, das dauernd zuckte und die Farbe wechselte, und benutzte den Küchenausgang, um durch den Schuppen in den Garten zu kommen.

Morgen, gleich nach dem Mittagessen, werde ich mich bestimmt mit Anne-Marie hinsetzen. Ich glaube nicht an eine große Szene. Dunkle Ursachen sind es ja auch nicht, die mich nötigen, die Reise zu beschleunigen. Nur rein praktische Erwägungen. Was mich nebenbei noch beengt, sind jene Ängste, die wahrscheinlich jede Mutter quälen, wenn sie die erste und einzige Tochter in die Fremde schickt. Ich war bedeutend erwachsener und schließlich auch verheiratet, sogar Mutter, als wir uns nach dieser grauenhaften Öde hier abstießen und meine nun schon gottselige Mutter mir ins Gesicht hineinweinte: »Sei stark, mein Kind, und gib dich um des Himmels willen nicht auf, nie und nirgends! Nicht im Elend und in der Armut und nicht in der Fülle. Gib dich nicht auf …!« Ja, die Gute! dachte Frau Coßmann.

Sie bewegte sich noch ein paar Schritte auf und ab. Eine große Fledermaus stieß dicht an ihrem Gesicht vorüber, so daß sie den Luftdruck wie einen Wind verspürte. Der Mond versank immer tiefer in einem roten Dunst. Nach wenigen Minuten war ein vollkommen roter Ball aus ihm geworden. Ein dünner Palmenschaft hielt ihn wie der Bindfaden einen Kinderluftballon.

Eine sonderbare Welt … dieses Land Paraguay, mehr die Landschaft noch als die Menschen. Oft möchte man glauben, es sei nicht die Wirklichkeit, man träume … und dann haben die Keulen das Wort und schreiben die Wirklichkeit mit Blut und Tränen.

Ihr Herz schlug heftig, es leistete eine schwere Arbeit, als hätte sich das Blut in seiner Zusammensetzung verändert unter dem Druck und der Spannung der Erd- und Luftelektrizität.

»Geh!« hatte sie schon ein paarmal geflüstert. Sie meinte kein fremdes Wesen … sie meinte sich und sprach dieses lästige Ich doch immer wieder an: Aber ich lebe ja noch und muß ein Gesicht tragen, zu dem keine Maske paßt. Sogar den Duft der Bananenblüte finde ich unerträglich. Ich erinnere mich, daß Anne-Marie so roch, als man sie von mir losschnitt und halbblutig noch in mein Gesicht hineinreichte: »Ach, ein so zartes Mädchen, Frau Coßmann … ein Elfenkind! Sehen Sie es doch einmal an …!«

Jawohl … draußen war eine weiße, deutsche Vollmondnacht. Mittsommernacht. Johannisnacht. Auf dem Teich, der wie eine Perle schimmerte, tanzten die Elfen. Das sah ich. Das Elfenkind roch ich. Es roch nach Galle, Blut und Glück.

Diese wehmütige Erinnerung nahm Frau Coßmann mit in den Schlaf hinein. Der Schaffner rief: »Elfenbroich! Die Dame wollte doch hier aussteigen.« Ja, in Elfenbroich bin ich zu Hause, endlich bin ich daheim. –

 

»Natürlich gibt es heute noch ein Gewitter, und ein heftiges dazu«, sagte Anne-Marie zu Onkel Heinrich beim Mittagessen. »Ich würde raten, du gehst heute nicht allzuweit. Es kann in einer Stunde schon, es kann auch in drei Stunden erst losbrechen. Und dann könnte es leicht passieren, daß du, ohne Baum oder Strauch in der Nähe, mittendrin stehst.«

»Du fängst schon an, mich mit den Hiesigen zu verwechseln, die nichts mehr scheuen als das Naßwerden. Vielleicht haben die Mütter sie zu lange in den Windeln liegengelassen.

No, meine liebe Nichte und besorgte Freundin, ich nehme mir die Gummihaut mit und das afrikanische Gemüt. Das wird genügen. Du darfst nicht vergessen, daß ich immerhin acht Leute draußen beschäftige. Haben sie mich nicht in voller Lebensgröße vor Augen, verlieren wir achtmal soundso viel Stunden Bargeld.«

»Du bist schon immer ein guter Rechner gewesen, Onkel, das habe ich nicht bloß gemerkt, als du mein Lehrer warst.«

»Und dieses Gemüt bin ich deiner Meinung nach in allem?«

»In total allem, lieber Onkel.«

»Na … dann wird Gott ja auch noch eine Weile mit uns sein«, lachte er und ging.

Muttchen hatte für Martha eine Arbeit im Garten, dort, wo es noch verhältnismäßig schattig war.

»Soll ich helfen?« fragte Anne-Marie und wollte sich schon mit Martha entfernen.

»Nein, Kind, bleibe bei mir! Ich habe mit dir zu reden.«

»Schlimmes? Dann hast du dir einen sehr schlechten Tag dafür ausgesucht.«

»Was zu sagen ist, darüber wollte ich schon in der vorigen Woche mit dir sprechen und schob es dann bis gestern auf. Und da kam mir wieder etwas dazwischen.«

»In der vorigen Woche, am Freitag, ich entsinne mich, fing es mit der Gewitterluft an«, sagte Anne-Marie und fühlte sich unbehaglich. »Das ist dann immer so bedrückend.«

»Es läßt sich aber nicht auf die lange Bank schieben, mein Kind. Es muß nun endlich heraus. Für dich mag es vielleicht etwas sehr Erfreuliches sein. Für mich bedeutet es einen Dorn, den ich mir ins Fleisch treibe, wobei ich mir auch noch sagen muß, es sei notwendig. Die Notwendigkeit läßt sich wahrscheinlich sogar beweisen. Und schließlich kommt es ja auch darauf an, wie du die Sache aufnimmst.«

»Ich werde versuchen, mich zusammenzunehmen. Und wenn es unbedingt bei dem Stachel bleiben soll, den du dir ins Fleisch treiben willst, weshalb soll ich ihn nicht herausziehen können? Das leuchtet dir doch ein, Muttchen … oder nicht?«

»Gott, reden wir doch nicht so lange um den Kern herum! Wir möchten nämlich, daß du bald nach dem Institut übersiedelst. Je älter man wird, um so schwerer fällt einem ja das Lernen, nicht wahr?«

Anne-Maries Gesicht verwandelte sich. Das Erschrockensein darin verschwand wie weggewischt. »Wann soll die Reise denn vonstatten gehn, Muttchen? Morgen früh schon?«

Schüchtern legte Muttchen die rechte Hand auf den ihr zugewinkelten Arm der Tochter und hatte Mühe, ruhig zu bleiben: »Wenn es sich so einrichten läßt … dann kommenden Montag. Vater ist nach dem Dorf gefahren, um dort mit dem Administrator der Estanzia Santa Clara zu sprechen. Kann er uns das Motorboot herschicken, dann würde man in der Nacht von Montag zu Dienstag noch das Schiff in Lomas erreichen. Und du hättest dann eine viel bequemere Reise, als wenn wir erst bis nach Asuncion fahren und dort das nächste Schiff nehmen müßten.«

»Darüber zerbrich dir nur ja nicht den Kopf! Man wird fahren und in Buenos Aires brav lernen. Ich werde häufig schreiben, damit du nicht auf den Gedanken kommst: Na ja … so sind heute die Töchter: aus den Augen, aus dem Sinn!«

»Du täuschst dich, Tochter, wenn du glaubst, du könntest mich damit beruhigen, wenn du dich gleichgültig stellst.«

»Ich verstelle mich nicht. Man wird also so langsam ans Packen gehen müssen. Meinst du nicht?«

»Zu tun gibt es sicher noch eine Menge. Vor allem muß man die Leib- und Bettwäsche gründlich nachsehen. Was du sonst noch an Kleidung und Schuhwerk brauchst, das besorgt dir Vater in Buenos Aires. Als Landpomeranze werden wir dich nicht herumlaufen lassen.«

»In der Stadt ist natürlich manches anders, was hier als gut und vortrefflich erscheint. Das wird ja auch Vati einleuchten, wenn er mit mir einkaufen gehen wird.«

»Das ist schon beinahe mehr als seltsam, wie entsetzlich unberührt du von der Sache bist und so sprichst, als seien solche Reisen dir schon geläufig«, seufzte Frau Coßmann.

»Ja … hast du denn geglaubt, ich werde ein großes Geschrei machen und von Rabeneltern und so weiter sprechen?« Ihr Gesicht glich einer Schminkmaske. Die Lippen hatten sich fest geschlossen und lagen wie ein feuerroter Strich unter den vibrierenden Nasenflügeln.

»Daß du vor Freude hier um den Tisch herumtanzen würdest, habe ich allerdings nicht angenommen, Tochter. Aber so, wie du dich jetzt gibst … das reißt doch gehörig an meinen Nerven herum.«

»Worüber bist du nicht erstaunt? Alles, was ich denke und was ich tu', selbst wie ich mich bewege und wie ich spreche, das gespenstert durch deine Gedanken und wird beklopft, ob es nicht wurmstichig oder gar von einer ansteckenden Krankheit befallen ist.«

Frau Coßmann konnte die naßverschleierten Augen kaum schließen. Wie von einem eisigen Luftzug getroffen, flatterten die Lider. Dabei sind es im Grunde doch nur meine eigenen Worte, dachte sie. Meine Worte, die jetzt zurückkommen, nachdem sie so viele Jahre unterwegs waren. Zurück von dem Mann, den sie treffen sollten … zurück von der Tochter dieses Mannes.

Soll ich nun über mich weinen? Damals konnte ich es nicht. Jetzt darf ich es nicht … ich darf mich nicht gehenlassen. Sie nahm schließlich aber doch das Tuch und wischte. Es wurde ihr kalt. Böse Worte sind das furchtbarste Gift … sie fressen die Gedanken an, wie Krebs die robusteren Organe anfrißt und zerstört.

Anne-Marie stand am Fenster und sah hinaus und sah nichts anderes als sich in einem grünglasigen Nebel. Krampfhaft hielt sie zurück, was, von der Scham ins Unterbewußtsein gestoßen, ausbrechen wollte und schreien: Was wollt ihr bloß von mir?!

Nach einer Weile drehte sie sich um, mit der Absicht, Muttchen ein gutes Wort zu sagen. Als sie jedoch sah, daß der Ausbruch vorüber war, ohne Verheerungen angerichtet zu haben, schien ihr das gute Wort nicht mehr notwendig. Sie fuhr dort fort, wo sie aufgehört hatte, wenn auch ein wenig milder in der Tonart.

»Du befindest dich in einem großen Irrtum, Muttchen! Ich habe mich auf diese Stunde nur besser vorbereitet. Kommen mußte sie ja, nicht wahr? Und ich erinnerte mich immer wieder daran, daß du, vor einem Jahr etwa, zu mir sagtest: ›Sollte dir einmal jenes Unglück zustoßen, das schon manches Mädchen, ohne daß man gleich von einer moralisch verworfenen Person zu sprechen braucht, heimsuchte und durch tausend Ängste getrieben hat … dann komm ohne Furcht zu mir, aber auch ohne Geschrei!‹ Ohne Geschrei … das war dein Wort. Und weiter sagtest du: ›Geschrei verschlimmert die Sache. Den Kopf kostet es bei mir nicht. Und wenn die anderen ihn dir abreißen wollen, dann werde ich es zu verhindern wissen …‹

Und jetzt … da ich nicht als zerknirschter Sünder vor deinen Augen zu stehen brauche … jetzt soll ich durch allerlei Künste versuchen, die Reise auf den Nimmermehrstag zu verschieben? Und wenn ich Pech mit den Künsten habe, reumütig auf die Knie fallen und stammeln: Ihr habt recht, tausendmal habt ihr recht, denn es geschieht ja alles nur zu meinem Besten, was ihr mit mir vorhabt …

Nein, Muttchen, das kannst du nicht gut von mir verlangen. Und daß man dir ein Theater vorspielen soll … war bislang auch nicht deine Art. Ich müßte mich sonst sehr täuschen.«

»Sich täuschen lassen und Enttäuschungen … na ja, lassen wir das lieber«, sagte Frau Coßmann. Ihr Kopf blieb tief geneigt.

»Wir haben noch genug Zeit, über dies und jenes zu sprechen, Muttchen. Es braucht ja nicht alles mit einem Male heraus«, sagte Anne-Marie. »Vater wird ja auch noch mancherlei zu bemerken haben. Ich freue mich übrigens, daß er mit mir fährt.«

»Daß ich es nicht bin, die mit dir fährt, freut dich wahrscheinlich noch mehr.«

»Von einer Freude in diesem Sinne kann nicht die Rede sein, Muttchen. Es ist ja schrecklich mit deiner Schwarzseherei.«

»Ich fühle es aber, daß du dich freust, von hier wegzukommen, vor allem von mir.«

Da wankte der Boden ein wenig unter Anne-Maries Füßen. Ihre Augen verglasten sich. Die Pupillen blänkerten vergrößert. Und zuletzt fielen die Tropfen. Wortlos ging sie hinaus.

Die Bäume im Garten lebten auf. Die erschöpft herunterhängenden Blätter fingen den Wind ein, der sich heranschlich wie ein Hund, den man oft gerufen hatte und der nicht folgsam gewesen war. Aber der Himmel war noch immer wolkenlos, und das graue Blau hatte die Nuance Grün und Violett hereingenommen. Die Sonne wurde immer blasser und stach.

Abwesend sah Anne-Marie zu, wie die Schlupfwespe und die langhaarige rote Spinne sich einen Kampf auf Leben und Tod lieferten. Sie hörte nicht einmal, wie das dicke, fette Insekt in das Kraut hinunterplumpste wie eine Nuß.

Frau Coßmann stand auf der Veranda mit dem Rücken gegen die Glaswand. Sie dachte: Wenn ich das Kind jetzt zurückriefe, um den Trotzstachel herauszureißen … dann gäbe es sicher eine gräßliche Szene. Das will ich ihr aber nicht antun. Sie ist stolz, und das mit Recht. Nicht alles hat sie von ihrem Vater, einiges und nicht das Schlechteste auch von mir.

So klar es mir ist, daß die Reise kein Sprung ins Dunkle ist, so gewiß ist mir auch, daß sie für Anne-Marie den einzigen Ausweg bedeutet, die Balance zu halten, die sie braucht, um ihre Jugend später nicht zu verfluchen.

Sie verwandelte sich, im Weiterdenken, in Anne-Marie. Als Anne-Marie schaltete sie die Muttergefühle aus, die selbstsüchtigen und auf Ruhe bedachten, bewegt von dem Trotz: sich von dem Aufblühen der Tochter nicht klein machen zu lassen.

Die Wehmut, die in ihrem Gesicht zuletzt sich ausbreitete, über ein gemmenhaft edelgeschnittenes Gesicht, wurde durch die langbewimperten, dunkelblauen Augen gemildert. Diese Augen besaß auch die Tochter und wußte damit umzugehen.

Mit diesen Augen im Gesicht kam Anne-Marie wieder herein und legte sich in die Arme der Mutter, so verstört, wie es an jenem Tag geschehen war, als Cayrú von Onkel Heinrich ausgepeitscht wurde.

»Ich bin keine Spielpuppe mehr, Muttchen. Ich bin deine Tochter. Ich habe viel von dir, das ist mir sehr klar geworden. Aber nun laß mich auch deine Freundin sein, Muttchen!«

»Ja … man hat dich zuviel allein gelassen. Das ist unsere Schuld, und die rächt sich jetzt.«

»Zum Guten, Muttchen! Zum Guten!«


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