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VII

Mindestens jeden zweiten Sonntag fuhr das Mädchen nach der Insel hinüber. Der Vater hatte ihm eine Vogelflinte aus der Stadt mitgebracht. Damit schoß es aus dem Rohrdickicht die Schilfpapageien und Zwergreiher heraus, die Möwen goldgelben Gefieders und die rosenfarbenen Löffelenten. Es machte Jagd auf die kleinen schwarzen, eine weiße Halskrause tragenden Affen, die in den Zimtbäumen herumkletterten und wie Säuglinge schrien. Und eines Tages erlegte Mariechen sogar den Flußfalken. Ein wundervolles, ausgewachsenes Exemplar, das flach über dem Wasser hingestrichen war, einen roten Piraña auf das Land schleppte und eine Weile mit dem bissigen Fisch sich herumbalgte. Bei dieser Gelegenheit traf ihn, gut gezielt, das tödliche Blei.

Mariechen suchte Beeren, die hart waren und durchsichtig lila wie Amethyste. Sie fing den großen Schillerkäfer, dessen Flügeldecken wie blau und grün emailliertes Gold schimmerten. Und immer hatte sie Glück gehabt mit dem Wetter, wurde verschont von den bösen Launen des Flusses.

Cayrú hockte im Kraut auf der Barranca und sah ihre Abfahrt und sah ihre Rückkehr. Er sah ihr vom Wind zerzaustes Haar und das von der scharfen Luft gerötete Gesicht. Er sah auch ihren Mund, aus dem aufreizend die weißen Zähne herausbleckten.

Die Erinnerung an jenen Sonntag aber, als sie beide im Kanu hockten, betäubt von der Schwüle und den Gerüchen, von der Blutwärme und den Ausdünstungen der dicht ineinandergerückten Körper, war nicht so nachhaltend und heftig, daß das Geschehnis ihn auch jetzt noch erregt hätte, derart, um aus dem Zufall womöglich eine gewaltsame Wiederkehr zu machen.

Was sich an jenem Tage, aufgebunden von einem ganz natürlichen Vorgang, in seinem Blut erregt hatte, das war längst wieder abgeklungen. Er begehrte nicht, er liebte und verehrte dieses Mädchen. Er liebte ihre Augen, ihr Haar und ihren Mund, aus dem die Zähne herausblitzten wie bei einem Puma.

Der Puma galt Cayrú als dasjenige Wesen, das nicht Tier ist, sondern ein Geist des Waldes; der Geist der Klugheit und der Tapferkeit. Von solch einem Geist besessen wähnte er das Mädchen; eine zur menschlichen Figur verwandelte Tochter des Silberlöwen, so wie es in den Legenden ausgesagt wird. Und viele solcher Legenden hatte ihm die Mutter erzählt.

Er liebte das Mädchen, aber er wußte nichts Bestimmtes von dieser Liebe, denn sie war ihm in Vorstellungen und Bildern nicht gegenwärtig. Sie war einfach, da. Und es schien ihm, als trüge er sie in seinem Blut, wie den Atem, wie das Pochen des Pulses und wie die Kühlung, die aus der Erde emporstieg, die Blätter und Halme berührte und auch von seinem Körper Besitz nahm. Ohne den geringsten Ausdruck einer leidenschaftlichen Bewegung beschäftigten sich seine Gedanken mit dem Mädchen. Er empfand das Dasein ihres Wesens wie ein seinem Leben neu hinzugewachsenes Stück.

Seit jener Bedrohung mit der Peitsche hatte Cayrú nie wieder den Versuch gemacht, den Hof des Kolonisten zu betreten. Ganz gewiß: er fürchtete sich nicht vor den Schlägen. Würden sie am hellichten Tag und unter freiem Himmel auf ihn zuspringen wollen … sie träfen daneben und der Schwung schnellte zurück und nähme den Urheber mit. Was ihn jetzt zurückhielt vom Hof, das konnte er sich nicht einmal erklären. Es stand aber vor ihm, in seinem Bewußtsein, und hatte Gewalt über seinen Willen.

Manchmal geriet er in ein stundenlanges Grübeln, die Ursache zu erforschen: weshalb man ihm die Beschimpfung angetan hatte. Er war stets willig zu jeder Arbeit und fleißig gewesen, obwohl für ihn doch keine Verpflichtung bestanden hatte, auf dem Hof wie ein Peon zu arbeiten. Er war nie um einen Lohn eingekommen. Er hatte nie seine Finger ausgestreckt, um etwas an sich zu nehmen, was ihm nicht gehörte. Er war dem Mädchen ein Spielkamerad gewesen, immer da, wenn sie etwas von ihm begehrte, und nie hatte man ihn mürrisch gesehen. Er war mit Mariechen zur Insel hinübergefahren, weil sie begierig darauf war zu erfahren, was auf der Insel wuchs und sich bewegte. Und als sie vom Regen überrascht wurden, hatte er das alles getan, was man tun muß, um sich vor der Nässe zu schützen und das Wetter zu überstehen.

Getan, was man tun muß …

Mit einem Male fiel ihm ein, daß er Mariechen gestreichelt hatte, so, wie ihr Vater manchmal hinfuhr über das goldrote Haar und einen Kuß von ihr verlangte.

Er, Cayrú, hatte ihr keinen Kuß abverlangt, so, wie auch seine Mutter nie einen Kuß von ihm verlangte oder ihm einen gegeben hätte.

Vielleicht war es doch dies, daß er den Kopf nicht schnell genug fortgebogen hatte, als er ihre Lippen auf seinem Mund verspürte. Wenn diese Berührung allein das große Unrecht gewesen war … weshalb ist es dann von ihr ausgegangen? Und weshalb hatte nicht sie ihn dafür geschlagen, sondern der fremde Mann, der nicht einmal ihr Vater war?

Er verwirrte sich in diesen Fragen und kam zu keiner Klarheit. Er hockte im Kraut hinter der großen, aus goldenen Rispen blühenden Agave und sah das Mädchen abfahren und wartete auf ihre Wiederkehr. Vielleicht wußte sie sogar, daß er Tag für Tag hier im Kraut lag. Und doch sah sie nicht mehr zu ihm hin und rief auch nicht, so wie sie immer gerufen hatte, wenn er ihr eine Zecke aus dem Fleisch der Zehen oder aus dem Nacken herausbohren mußte und dafür belobt wurde, nicht nur von der Muñeca, sondern auch von ihrer Mutter.

Weshalb eigentlich saß er hier all die Tage und wartete? Und worauf wartete er?

Er wußte es nicht. Es war ihm nur bewußt, daß es ihn hierher trieb und daß er warten mußte, bis sie den Weg entlang kam, zur Insel ruderte und nach einigen Stunden wieder heimfuhr.

Einmal, als Mariechen wieder zur Insel ruderte und der vorgelagerten Sandbank so nahe kam, daß die im Schlick blöde glotzenden Yacarees aus ihrer steinernen Ruhe erschrocken hochfuhren, zu Dutzenden sich in das tiefere Wasser wälzten und von dieser jähen Wellenbewegung das Kanu in ein gefährliches Schwanken geriet, schrillte ein durchdringender Schrei über das Wasser hin. Es hörte sich an wie das wütende Bellen einer Kreissäge durch zähes, eisenhartes Holz. Es schrie jedoch nicht der Mund eines heißgelaufenen Metalls … es schrie ein Mensch, und die ungeheuer ausgespannte Weite des Himmels über dem Strom füllte sich auf mit dem Schrei, vermochte nicht, ihn wieder zurückzuwerfen, spannte sich mit ihm und barst auseinander. Aus den vielfach zerklüfteten Spalten der gewesenen Stille drängte sich jetzt die nothaft heiße Fülle des Aufschreis hinaus, erregte das Geflügel, das aufflog und zu einer schwarzen Wolke sich ballte, aus der wiederum das Echo des Schreies herausfiel wie das Kreischen eines Donnerschlages, der unmittelbar dem Aufzucken des tödlichen Blitzes folgt.

Es war nicht das Mädchen im Boot, das so unmenschlich angsthaft geschrien hatte. Der Schrei war von Cayrú ausgegangen. Er stand an einer Biegung der Bai, die Finger in den dornigen Blattbehang eines Strauches verkrallt. Er verspürte nichts von dem reißenden Schmerz der vielfachen Verwundung. Er sah nur nach der Bewegung des Fahrzeuges. Es glitt jetzt schneller dahin als die plump rudernden Ungetüme. Es fuhr auf den schmalen, ein Stück in den Strom reichenden Sandstreifen der Insel auf. Das Mädchen raffte große Steine und Muscheln zusammen und warf sie übermütig nach den gepanzerten Biestern, die abdrehten und sich eine andere Schlafstelle aussuchten.

Es war Cayrú, der sich endlich aus dem Fieber der Ängste um das Mädchen von den Dornen lösen konnte und jetzt seine Hände ansah. Sie waren von Blut überströmt. Er spülte das Blut in dem lauen Wasser der Bucht von der Haut und rieb die Wunden mit dem Wurzelsaft der Wasserpalme ein.

Ein leises Wehen zitterte jetzt das Ufer entlang, streichelte die Büschel der Bambusrohre, blätterte in dem Gestrüpp der Mimosen, huschte in das schaukelnde Nest eines Kolibris und blieb darin wohnen, bis sich der Himmel grün, rot und gelb verfärbte und in diesem beinahe unwirklichen Licht das Mädchen von der Insel zurückruderte.

An diesem Abend erst erzählte Cayrú seiner Mutter, was neulich auf der Insel geschehen war. Er sprach das Erlebnis der Geschehnisse so vor sich hin, mit tief nach innen gesenkten Augen, als erinnere er sich einer alten Legende. Das Dunkle seiner Stimme wurde immer schwerer. Und schließlich war ein Klang in ihr, als trüge sie nichts anderes als die im Traum erlebte Geschichte eines Traumes.


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