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XXXIII

Es war die Nacht des Neumondes, die von einer dumpfen, das Blut bedrückenden Angst angefüllt war.

Sie ging von einer Erregung aus, deren Ursache keine Erscheinung war, die man mit dem Gesicht oder dem Gehör wahrnehmen konnte. Sie äußerte sich bei Tier und Pflanzenwesen, sie stieg aus der Erde empor und erschütterte das Wasser. Sie war in allem mächtig, was ruhte und schwebte.

Aus dem Gesträuch und den schmarotzenden Flechten in den Wurzellöchern verstorbener Bäume stieg ein Nebel hoch, der von dunkelgrüner Farbe war wie das Glas alter Medizinflaschen. Und die Luft im Raum dieses sich immer dichter und dichter ballenden Nebels roch nach der Medizin für Fieberkranke und Menschen mit blutenden Magengeschwüren, roch nach den dicken, eitergelben Ölen, womit man die Gelenke der Glieder gichtkranker Menschen einreibt, roch nach den schwarzen Pasten und Salben der indianischen Zauberpriester, roch nach Kampfer und Ameisensäure, nach Achselschweiß und grünverwesten Fischen.

Was in den Nächten des vollen oder halben Mondes in den obersten Gabelungen der Äste saß, den Kopf tief in den Federn verborgen, und mit ruhigen Atemzügen schlief, das hockte jetzt unten am Rand der Wassermulden, mit offenen Schnäbeln und heftig klopfenden Pulsen. Die Federn standen vom Körper weit ab wie Stacheln. Und manchmal entfuhr den trockenen Kehlen jenes Kreischen, das den jungen, noch nicht flüggen Geschöpfen eigen ist, wenn sie nach Nahrung verlangen. Spechte, Elstern, Dompfaffen, grüne und graue Papageien, der Fasan und der Lehmhans, der Kolibri und die Eule, alle hockten dort herum, wo sonst nie ihre Behausung war. Die Nester waren leer. Aber auch die Nesträuber saßen nicht auf der Lauer wie sonst in den hellen Nächten. Die grüne, unerklärliche Angst, die fliegende Hitze und der Druck in Gedärm und Magen hatten den Hunger beiseite geschoben wie etwas Lächerliches.

Die Kriechtiere unter den dicken und fettlappigen Blättern der Agaven und in den dickbehaarten und bestachelten Ranken der wilden Ananas hatten sich zu schweren Klumpen und Bündeln zusammengeschlossen, begatteten sich in wilden, krampfhaften Zuckungen, ergriffen und gepeinigt von der unbewußten Angst, die Art könne aussterben in dieser einen, ungewöhnlichen Nacht.

Von der Angst zerrissen, daß in dieser Nacht der ewige Hunger geboren würde und das Wachstum jeglicher Nahrung auslösche, sprangen die Nagetiere einander an, rissen sich die Seiten auf, soffen das Blut und fraßen, was sich nur fressen ließ.

Zu den Schlangen, die ihr Gift verspritzten überall dort, wo sie sich stießen, als griffe selbst der Stein sie an, gesellten sich die Echsen mit abgebrochenen Schwänzen und leeren Augenhöhlen. Die Angst hatte sie aus den Höhlen herausgetrieben, die Angst hatte die Eingänge verstopft, und in der Angst, daß ein morgiger Tag nicht mehr sein würde, hatten sie ihresgleichen mit der Kreatur verwechselt.

Aus der Rinde der Bäume kochte das Wasser heraus, die Angst der Säfte vor dem Verdorren in dieser Nacht, die keinen Mond hatte und Sterne ohne Feuer und Glanz. Wie Stücke Eis schwammen die kleinen Himmelszeichen herum.

Die großen schwefelgelben Pilze im Wurzelhaus des Ombú platzten vor Angst: es könnte die Erde bersten in dieser einen, ungewöhnlichen Nacht und alles, was nährt und beschirmt, mit hinunternehmen in die Tiefe. Es war ein Geschrei in dem Auseinanderreißen der Häute, schrecklicher anzuhören als das gurgelnde Kreischen eines Wasserschweins unter dem Steinmesser des indianischen Jägers. Alles, was Menschenangesicht hatte im Wald, wäre umgekommen in dieser Nacht, hätte man es gezwungen, in der Hütte zu bleiben. Unter den schmalen Laubdächern der Espinillen hatte man die Hängematten für die Kinder und alten Leute aufgespannt. Die Leiber lagen völlig nackt auf dem Bastgeflecht. Und dennoch kochten die Dämpfe der Angst aus ihrem Blut heraus und verscheuchten die Moskitos, die blinden Stechkäfer, den geflügelten Tausendfüßler, die rothaarige Spinne und den Vampir.

Oder war es auch hier eine Art Angst, welche, aufgebrochen in dieser Nacht, diese sonst nie ruhenden Blutsauger davon abhielt, Menschen und Getier zu peinigen?

Es war die große und allgemeine, jedes atmende Wesen durchfrierende Angst, die wir so nennen, von der wir aber im Grunde nicht wissen, was es eigentlich ist, das solch einen Zustand auslöst.

Unten auf dem Waldboden, wo das silbrig-helle Moos klebte, auf den kleinen Inseln unter den Mamones, jenen Bäumen, von denen Früchte herunterhängen, geformt wie die noch festen Brüste von Jungfrauen, lagerten die erwachsenen Leute. Die Unruhe ließ keinen auch nur einen Augenblick ruhig dahocken und die Augen schließen. Die Körper waren in Bewegung, in einem fortwährenden unruhigen Hin- und Herschwingen der Schultern. Wie ein Tanz war es anzusehen, ein Tanz ohne Musik, denn es war eine vollkommene Windstille. Es schwieg selbst die Grille; und der Ochsenfrosch, der sonst nie müde, schien gestorben. Kein Wort ging von Mensch zu Mensch. Das Röcheln hörte sich an, als quelle es aus dem Erdinnern empor. Je näher die Stunde rückte, die von den Leuten als der Höhepunkt der mondlosen Nacht angesehen wurde (nach welchen Gesetzen, das wird man wohl nie erfahren!), um so heftiger wurden die Bewegungen. Und so wie den Bäumen, den Blättern am Strauch und selbst den Steinen das Wasser heraustrat und im Verdampfen den grünen Nebel immer glasiger machte und härter, öffneten sich die Körper der tänzerisch bewegten Menschen in allen Poren. Die Haut verwandelte sich zu Wasser. Die Angst, im Wasser ihres eigenen Fleisches zu ertrinken, ließ die Bewegungen der Körper zu einem Taumel anschwellen, der alles mitriß, was Geschlecht an diesen Wesen war. Die Angst besprang sie wie ein Tier, das nur aus Klaue und Gebiß bestand. In nichts mehr unterschieden sich die sich im Gras herumwälzenden Leiber von den Würmern, die sich ineinander verknoteten, oder von den Nagern, die sich blutig bissen … um die Art zu erhalten in dieser entsetzlichen Stunde der Angst vor dem Absterben.

Nein, nicht vor dem Absterben. Die Ursache der Angst lag tiefer, lag Billionen Jahre vor unserer Geburt. Sie war der ungeheuere Schrecken seit jener entscheidenden Stunde, als aus Wasser und Finsternis plötzlich Licht wurde.

Die Priester lügen, wenn sie sagen: Mit dem Licht kam die Freude in die Welt. Es kam die Angst in die Welt! Die Angst vor der Nacht nach diesem Licht. Denn so, wie es plötzlich heraufwuchs aus der Finsternis, muß es auch wieder zurück zu ihr. Ob es dann noch einmal wiederkommt … wer vermag das zu erforschen?!

Von uns weiß es niemand. Und der es weiß, nach der Behauptung der Priester, der kann nie und nimmer unseres Wesens sein. Und so leben wir in einer ewigen Furcht vor ihm, in einer Angst, deren endliches und letztes Ende der Tod ist, die ewige Finsternis.

In jeder Neumondnacht wird diese uralte Angst aller Wesen wieder wirklich, die Angst vor der Einsamkeit der persönlichen Unendlichkeit, dort, wo die Wesenheit aller Wesen ihren Ursprung hat und ausgefahren ist, um wieder zurückzukehren, vielleicht von der einen Wiederkehr zu der andern, wie der Mond. Niemand weiß es genau.

 

In dieser Nacht, als Cayrú vor der Hütte saß und seine Gedanken sich krümmten, in dieser Nacht der Ängste und Anfechtungen, war seine Mutter immer noch unterwegs. In Pausen dachte er an sie. Und mit einem Male war auch die Furcht da, daß sie sich auf ihrem Weg verirren könne. War es wirklich nur dieses Bangen um die Mutter? War es vielmehr nicht jene allgemeine Angst, die in dieser Nacht Menschen und Tiere entsetzlich peinigte?

Natürlich: auch Cayrú krümmte sich in dieser Angst, deren Grundursache ihm unbekannt war. Er versuchte sich von der Verwirrung, in die ihn diese Angst versetzt hatte, loszureißen und klammerte sich an die Erscheinung des nackt aus dem Wasser heraufsteigenden Mädchens. In seinem Blut jagte ein Fieberschauer den anderen. Sein Mund war trocken wie die Borke eines abgestorbenen Baumes. In diesem Baum, in der laubarmen Krone, von der in langen Schnüren die Luftwurzeln der Orchideen herunterhingen, hockten die kleinen schwarzen Affen, die Mirikinas, und schrien inbrünstig nach dem Mond, der nicht kommen wollte. Sie rissen die vor dem Reifsein schon vertrockneten Nüsse von den Zweigen und warfen sie in das Wasser der Bai. Dort, wo das Gewucher der Wasserrosen nicht mehr hinreichte, glich die Flut einem blankgeschliffenen Achat von violetter Farbe, mit goldgelbem Gesprenkel gefleckt.

Erst als Cayrú die Zunge nicht mehr bewegen konnte, griff er neben sich und hob aus dem Erdloch die große dunkle Amphore empor. Als er sie an den Mund setzte, blickte ihn Zupáy an, der Gott mit den Hufen und dem Gehörn eines Ziegenbocks. Zupáy lächelte. Noch nie hatte Cayrú ihn lächeln gesehen. Fast schien es, als habe sich die helle Figur aus der Schwärze der Glasur des Gefäßes herausgehoben. Denn was jetzt Cayrú in das Gesicht hineinlachte, war von der Größe eines wirklichen Ziegenbocks. Das Lachen wurde immer wilder, so daß Cayrú die Ohren dröhnten, daß die kleinen Affen im Wipfel erschraken und kläglich zu weinen anfingen. Viele Minuten dauerte es, bis Cayrú den Bann von sich abschütteln konnte. Er drehte den Krug nach der anderen Seite herum. Dort wieder grinste ihn ein Puma an. Cayrú schloß die Augen und ließ das kühlende Naß in seinen Mund rinnen. Es war eine gute, alte Chicha, die lange in der Erde gelegen hatte und ausgegoren war, stark und reif für diese Nacht der Finsternis und der Schrecken. Sie brannte auf der Zunge und brannte bis in den Magen hinein. Sie ließ an dem Gaumen einen Geschmack zurück, der herb und kühl war, beruhigend und stärkend wie der Saft einer am Strauch ausgereiften Chirimoya.

Jetzt, in der fühlbaren Kühle der Beruhigung, gelöst von den Krämpfen im Blut und von dem Erschauern vor der Unwirklichkeit in dem Erscheinen des weißen Mädchens, überkam es Cayrú, der Mutter entgegenzugehen, bis zur Lagune wenigstens. Denn es gab nur diesen einen Weg, den sie heraufkommen konnte.

Er stellte die Amphore wieder in das Erdloch zurück. Und einen Moment lang schien es ihm so, als sei die Figur des Pumas nicht mehr vorhanden als schmückendes Ornament des Gefäßes. Es flog ihn an, zu glauben, daß der Schatten, der jetzt aus dem Erdloch heraufsprang und mit einem mächtigen Satz über die Agave fegte, ein Tier war … ein katzenschmales Tier … ein Puma.

Er brauchte lange Zeit, um die Gedanken, die er an die Erscheinung dieses sonderbar bewegten Schattens knüpfte, wieder loszuwerden. Er griff mit beiden Händen in die Luft, so, als wolle er sich an einem Ast festhalten, und ließ sich von den müden und schweren Gliedern wieder ins Kraut hinunterziehen. Eine abgrundtiefe Leere drückte auf sein Bewußtsein. Wohin er starrte, wogte grauer Nebel. Was zu seinen Ohren einging, war wie das unbändige Sausen im Rohr, in jenen anderen Nächten, wenn ein Sturm den Fluß bis auf den Grund aufwühlte. Mit diesem Sausen in den Ohren und dem trüben Nebel vor den Augen dämmerte jedes Bewußtsein dahin, bis die Fröste des heraufziehenden Morgens ihn packten und schüttelten.

Er hatte es versäumt, das Feuer auf dem Herd in der Hütte wachzuhalten. Er holte sich ein Fell aus der Ecke, wo die Kalebassen mit dem Mandiokamehl und den schwarzen Bohnen standen, und legte sich dicht neben der Tür auf die Erde. Er hörte nichts von dem plötzlichen Einsetzen des Sturmes, nichts von dem Geknarr der Bäume und dem dumpfen Gesause des Rohres am Flußufer, nichts von dem Paukenschlag der Wellen und dem Aufbruch der ersten Stimmen aus den Kehlen der großen Fledermäuse. Und er hörte auch den schrecklichen Schrei nicht, der aus jener Waldecke herüberschallte, wo Yamacinto und Huacua am Tage vorher begonnen hatten, das zweite Viertel des Urwaldes zu roden und urbar zu machen für einen Orangenhain der Familie Coßmann.

Es war kein Schrei wie der, den man in jeder Nacht hört und bei dem man sich schließlich nichts mehr denkt. Es war ein Schrei, vor dem die Eulen flüchteten und die Frösche in der Lagune minutenlang das Gerassel einstellten.

Es war ein Schrei, so ungewöhnlich, daß der Kolonist Heinrich Coßmann aus dem Bett sprang und nach der Coltpistole griff. Er taumelte zu dem offenen Fenster, an dessen Schutzgitter Nachtfalter klebten, und horchte hinaus.

Er taumelte wieder zurück, setzte sich auf die Eisenkante der camaturca und atmete schwer.

»Eine gottverfluchte Nacht …«, stöhnte er. »Nicht einmal am Kongo hat man sich so quälen müssen.«

Nach einer Weile erhob er sich wieder, knipste Licht, entnahm dem kleinen weißen Schränkchen ein Chininpräparat und schluckte es, ohne mit Wasser nachzuspülen.

Er warf sich das Laken um den nackten Leib und ging auf die Veranda hinaus. Im ersten Moment fuhr er heftig zurück, als er dort, an die Brüstung gelehnt, eine Gestalt sah. Bald aber erkannte er an der schlanken und zierlichen Gestalt, daß es Anne-Marie war, nur mit dem hauchdünnen Nachthemd bekleidet, das total naß war und stellenweise wie Haut am Körper klebte. Von dieser Haut ging ein scharfer, nach Ingwer und Vanille schmeckender, süßer und erregender Geruch aus.

Das Mädchen stand mit geschlossenen Augen da, wie eine Somnambule. Dabei ist die Neumondnacht die einzige, die solchen Kranken einen absolut ungestörten Schlaf gibt. Es stimmte auch nicht, daß Anne-Marie unter somnambulen Anfällen zu leiden hatte. Es waren die anderen Kräfte dieser Nacht, von denen sie geplagt wurde, nicht weniger als die Indios und alle Wesen in den weiten Räumen der weichlichen, zerlassenen und erregenden Nacht.

Ohne sich mit einem Wort bemerkbar zu machen, ohne sie erst zu berühren, wie man einen Schlafenden leise anrührt, damit er ohne Schrecken erwache, hob Heinrich Coßmann Anne-Marie auf seine Arme und blieb mit ihr hier eine ganze Weile, halb im Freien, leise gestreichelt von der nach und nach aufkommenden Kühle.

Mit einem Male flog ein heftiges Zittern den starken Mann an. Das Blut stieg und riß ihm beinahe die Schläfen entzwei. Stöhnend erhob er sich und trug das immer noch betäubte oder bewußtlose oder schlafende Mädchen zurück in die enge und schwüldumpfe Schlafkammer, legte sie auf das niedrige Bett und ließ die Tür offen.

An ein Sich-wieder-Hinlegen war nicht zu denken. So wie vorhin mit dem Mädchen, nackt unter der Hülle des Lakens, setzte er sich wieder in den Korbsessel und brannte eine Zigarre an, um sich zu beruhigen.

Mit dem Veraschen der Zigarre kam auch der Tag heran, wild und empört über den Zustand der dumpf dahinfließenden und dahinbrütenden Wesen. Mit ziehenden und stechenden Schmerzen im Hinterkopf starrte Heinrich Coßmann den Lapacho an, der sich einen feuerroten Mantel übergeworfen hatte, einen Mantel aus seidenweichen Blumenblättern und einem Geruch, der erfrischend schmeckte wie ein Gemisch aus Pfefferminz und Ananas.

Noch ein paar Minuten lang saß der Mann da, rieb sich die Schläfen und flüsterte: Eine wahnsinnige Nacht … und dort in der Kammer krümmt sich in der Erkenntnis ihres Geschlechts und seiner Bestimmung ein Wesen, das nicht mehr Kind, das schon Weib ist und Mutter werden will.


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