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XV

Die Frauen hockten schon wieder gebückt zwischen den Stauden. Die Hacken klangen im Takt und setzten den harten Rhythmus fort, der die Körper der Menschen in einem schmerzhaften Aufundnieder bewegte. Der Schmerz begann in den Knöcheln der nackten Füße, umklammerte die Handgelenke, zerrte an den Sehnen und bohrte in den Muskeln der Schultern.

Es wäre nicht auszuhalten gewesen, wenn sie ihre Gedanken und ihre Gefühle an das Bohren, Zerren, Reißen und Beißen des Schmerzes gehängt hätten. Ihre Gedanken waren längst schon auseinandergefallen wie das Gestänge einer vom Wurm zerfressenen Hütte. Sie schleppten sich, gegenstandslos und abwesend von dem Lebendigen des Atems, mit den kurzen Strichen des Schattens über die Erde dahin. Der Schweiß blieb keine Sekunde auf der Haut stehen; sofort verdampfte ihn die Glut, die aus dem bleigrauen Himmel heruntersengte und in den schwarzrot verbrannten Gesichtern nach den Augen suchte, um sie noch tiefer hinunterzudrücken in die vom Staub und den flimmernden Reflexen entzündeten Höhlen.

Die mit den schweren Gerüchen des verwelkenden Unkrauts, der Blüte auf den Tabakfeldern und in den Zitrusplantagen gesättigte Luft lag wie eine Glaskuppel über dem Feld und ließ den Wind nicht herein. Mit schweren Stößen atmeten die Frauen, und jeder Zug in die Lungen hinein brannte, als hätten sie Säure geschluckt, ein Gas, dem das Herz mit einem heftigen Hämmern begegnete, das den Blutdruck hinauftrieb. Mechanisch bewegten sich die Arme und die vorwärtskrauchenden Füße.

Wozu auch noch von Gefühlen für die Umwelt sich bewegen lassen in diesem Abgrund der Schmerzen und der Plagen?!

Die Frauen waren von weit her gekommen. Sie wußten, was sie hier auf der Pflanzung hergeben mußten, um den schmalen Tagelohn zu empfangen. Und es gab in ihren Überlegungen schon längst nichts anderes mehr, als in den Sommerwochen Tag für Tag die Hacke zu schwingen, das Buschmesser und die Heugabel; für einen Lohn noch dazu, den die Bettler in der Stadt, selbst an einer schlechten Straßenecke, in einer Stunde verdienen.

Diesen Frauen bedeutete der Lohn jedoch nicht bloß die Möglichkeit, an dem einen Tag sich zu sättigen, für den der Lohn gezahlt wurde. Der Erlös aus den drei, vier Erntemonaten mußte hinreichen, den arbeitslosen Winter zu überstehen.

Die Frauen kamen von weit her, zwei, drei Stunden weit aus den kleinen Dörfern der Savanne, wo die Kakteen wie Lustschlösser aus einem grünen, von bunten Adern durchzogenen Porphyr die Landschaft beherrschen, während die Hütten der Feldarbeiter wie struppige, vom Wetter zerzauste, verlassene Ameisenhaufen sich unter den Büschen verstecken, wo im Geröll aus Glimmer, bröckligem Lehm und Wurzeln vermorschter Agaven sich die paar Streifen Feld hingepflanzt haben, Bohnen, Rüben und Hirse: kaum Frucht geworden und gleich auch schon gefressen von den Kindern, die aufgeblähte Bäuche und rachitisch dünne und verschobene Glieder haben.

Eine Landschaft, wo um ein paar Grasbüschel, die von graugrüner Färbung sind und hart und messerscharf wie lange Glassplitter, sich ein Dutzend Ziegen mühen, mit blutig gerissenen Mäulern und einer dünnen, wie Reiswasser blauen Milch im Euter.

Noch nicht einmal sechs Stunden waren die Arbeitsfrauen heraus aus dem stinkigen, schorfigen Elend dieser Dörfer. Zehn Stunden aber dauerte der Arbeitstag und die Qual mit der Hacke auf dem Baumwollfeld, wo die fette Erde den Schachtelhalm drei Meter hoch schießen läßt und aus Disteln und Brennesselstauden Laubbäume macht.

Zehn Stunden Fron! Und jetzt schon, nachdem knapp die Hälfte der Stunden verstrichen war, konnten diese Frauen sich nicht mehr erinnern, daß die Kinder sich den Tag über von Baumohren und Rüben ernähren müssen und erst dann, wenn es Nacht ist, sich um die Schüssel Maisbrei herumsetzen dürfen und mit verschmierten Mäulern und dem Holzlöffel in der Hand einschlafen.

Die Frauen dösen dahin in der von Schweiß und Schmerzen umdampften grünen Dämmerung des Unkrautes. Sie haben nicht mehr den geringsten Sinn für das einst Gewesene und das noch Kommende. Sie haben das Gefühl, als würden nicht sie die Hacke schwingen, sondern diese Hacke stehe breitbeinig im Feld und schwinge die Arme und die Beine der Menschen, die an die Hacke gekettet sind, mit scharfen, tief in das Fleisch sich hineinschneidenden Drähten.

Anne-Marie und ihre Mutter verließen das Feld zwei Stunden früher als die beiden Männer und die Arbeitsleute. Sie hatten auch nur eine knappe halbe Stunde Weg bis zu der Behausung, während die Arbeitsfrauen drei und vier Stunden brauchten, um in ihre Dörfer heimzukehren.

»Du bist heute sehr müde, Kind«, sagte die Mutter zu Anne-Marie und sah das Mädchen bekümmert an.

»Müde nicht, Mutter. Der Leib aber tut mir weh.«

»Du hättest nicht so gierig von dem kalten Mate trinken sollen. Nur ganz langsam Schluck für Schluck darf man ihn nehmen.«

»Nein … nicht so … Mutter! Anders tut mir der Leib weh. Es fing auch schon heute morgen damit an.«

»So … nicht … anders …«, wiederholte die Mutter und erschrak.

Und nach einer ganzen Zeit erst konnte sie wieder sagen: »Du wirst dich sofort hinlegen und auch morgen und übermorgen im Bett bleiben. Dumm, daß du es erst jetzt sagst.«

»Wenn ich im Bett bleiben soll, dann fehlt aber doch einer im Feld, Mutter?«

»Ich werde mit deinem Vater sprechen, soll er den indianischen Jungen rufen.«

»Den Cayrú meinst du …?«

»Weshalb nicht? Man soll einem Menschen, wenn er ein kleines Unrecht getan hat, dieses Unrecht nicht so lange nachtragen.«

»Ich weiß überhaupt nichts mehr von dem, was du als ein Unrecht ansiehst, Mutter!«

»Es war ein Unrecht, natürlich. Und ins Haus darf mir der Junge vorläufig nicht kommen.«

»Ich darf aber doch wieder mit ihm sprechen?«

»Ich denke, du bist jetzt groß und verständig genug, um zu wissen, wie man mit Leuten umgehen muß, die nicht unseresgleichen sind. Wenn diese Halbwilden sich so tierisch benehmen, vielleicht wissen sie es nicht anders. Aber wie ein unvernünftiges Tier muß man sie dann auch ziehen und behandeln.«

Anne-Marie sah die Mutter eine ganze Weile an, wobei sie die Augenbrauen so hoch in die Stirn hineinzog, daß die Haut bis zum Ansatz der Haare schmerzte, bevor sie den Mund auf tat und etwas antwortete, das weder ein Ja noch ein Nein ausdrückte.

Als sie das Haus betraten, setzte sich Anne-Marie schnell in den weichen Polsterstuhl, der am offenen Fenster stand, umweht von der Kühle, die ein breitblättriger Gummibaum draußen im Garten ausatmete. Daneben blühten eine Myrte und der Orangenbaum, den sie gepflanzt hatte, als sie hier in dieser fernen Fremde ihren vierten Geburtstag feierte. Der Baum blühte zum zweiten Male in diesem Jahr. Und wenn die Bienen fleißig sein werden, kann es geschehen, daß die Äste zu schwach sind, die Fülle der Früchte zu tragen.

Anne-Maries Mutter hatte inzwischen Kamillentee gekocht. Er schmeckte dem Mädchen aber nicht. Sie mußte ihn jedoch im Beisein der Mutter austrinken. Dann war ihr die Mutter beim Auskleiden und Waschen behilflich und erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß die Natur tatsächlich schon jene große Wandlung in dem Kind vollzog, wo das Kindhafte abstirbt und das Erwachsensein beginnt, wo die letzten Bindungen zwischen Mutter und Kind sich zerfasern und wie hier, in diesem Haus, eine gewesene und eine künftige Mutter einander in die Augen sehen und verstehen.

Das geschah hier in dem Augenblick, als draußen auf dem Baumwollfeld eine von den kreolischen Frauen lang hinstürzte und schrie. Es war nicht der Schmerz, den die Hacke verursacht hatte und der sich mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung von der würgenden Klammer befreite. Was dort in der Furche lag, zuerst ganz allein, und sich krümmte und den Leib mit Fäusten schlug … das schrie in Kindesnöten. Und mit einem Male warfen auch die anderen Frauen die Hacken fort und schlossen einen Ring um die Gebärende.

Sie rupften breite Lattichblätter aus und schoben sie der Kreißenden unter. Und als das Kind da war, zerriß eine von den Frauen mit den Zähnen die Nabelschnur, und eine andere ließ Wasser unter sich und befreite das Neugeborene von den kotigen und blutigen Überresten des Lagers im Mutterleib.

Die Brüder Coßmann standen ratlos beiseite. Der eine sah nach der Ziffernscheibe der Armbanduhr; es fehlte noch eine Viertelstunde bis zum Feierabendruf. Eine Viertelstunde dem Unkraut und diesen Frauen geschenkt?

Er sah seinen Bruder an und deutete auf die Uhrzeit. Der Bruder hob die Schultern: »Ein neuer Mensch … wer weiß, wohin der die Welt drehen wird …«

»Bueno …!« antwortete der andere, »gehen wir also.«

Und sie sahen sich auch nicht einmal mehr um nach den Arbeitsfrauen, denen sie eine Viertelstunde geschenkt und eine Viertelstunde Qual erlassen hatten.

Das neugeborene Kind lag verpackt in den wollig-lappigen Blättern der Yapuchstaude und krähte. Als es zum dritten Male den Mund aufriß, erhob sich die Mutter von der Erde, ohne daß jemand sie hätte zu stützen brauchen. Sie nahm das Kind, dessen Gesicht aus den silbergrünen Blättern wie eine riesige Tomate herausleuchtete, und legte es an die Brust.

Die Sonne verblutete in den Wäldern am Fluß. Sie ließen die Sonne hinter sich, die zehn Frauen in einer Reihe, wie eine versprengte Schar Termiten, und der Dunst der Felder wanderte mit ihnen und ballte sich über den Lagunen zu einer Wolke.

Singend zogen die Frauen den Dörfern der Savanne entgegen. Der Orion blühte auf, streichelte den Himmel mit einem milden Glanz und wies den Menschen den Weg durch Dorn und Geröll.


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