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III

Als Cayrú das Wort Mariechen noch immer nicht aussprechen konnte (mittlerweile war er schon vierzehn Jahre alt geworden und das Mädchen zwölf), dafür aber oft »linda querida« und »mi muñeca« zu ihr sagte, schnitzte er aus einem Baumstamm, den der Wind mit den Wurzeln und dem wirren Netz der Schlingpflanzen aus der Erde herausgehoben hatte, ein Kanu. Einen langen Sommer hindurch schnitzte er daran und schnitzte viel von seinen krausen Gedanken über das Wesen des Mädchens in die Form, die sich aus dem fruchtroten, nach Zimt duftenden Holz allmählich herausschälte. Er hatte den singenden, dem Lockruf der gelben Rohrtaube ähnelnden Ton im Ohr, der von dem Mädchen ausging. Aus dem Gehör senkte er sich tiefer, schaltete sich in den Strom der Gefühle und nahm eine wesenhafte Gestalt an, die das Bewußtsein zwar fühlte, aber noch nicht dinghaft ausdeuten konnte. Es erregte ihn so, wie man von der Ahnung erregt wird, daß der Mond aufgegangen ist und sich in dem flachen Gewässer der Lagune jenseits des Waldes spiegelt, als stiege das Fruchtfleisch einer geöffneten riesenhaften Orange aus dem Wurzelgrund empor, obwohl der Himmel noch feuertrunken von dem längst verrauschten Schauspiel des Sonnenunterganges ist.

Ohne daß es eine bewußte Absicht seines Willens war, sprach Cayrú die verhüllte Gestalt an und beantwortete Fragen, von denen er glaubte, sie seien ihm unmittelbar zugefallen. Und aus Frage und Antwort verdichtete sich das somnambule Spiel der Gedanken zu einem Gesicht, das den Raum der alltäglichen und von einem jeglichen Wesen wahrnehmbaren Vorgänge durchbrach und mit einem Male Geschehnisse erkannte, die sonst nur im Traum wesenhaft sind und von einem lebendigen Atem bewegt werden. Oft überkamen ihn die Erscheinungen so urplötzlich, wie wenn eine Nuß, die in dieser Sekunde noch mit einer ungeborstenen Schale am Baum hängt, ohne daß ein Wind geht und den Wipfel anrührt, in der nächsten Sekunde schon abfällt, sich spaltet und die Kerne ausschüttet, unverhofft süße Früchte.

An solchen Wendepunkten des Nachsinnens klirrte das Schnitzmesser in das Kraut hinunter, der Oberkörper reckte sich auf, und das Gesicht zeigte jenen verwirrten Ausdruck, den man bei Menschen beobachten kann, die aus einer dunklen, mit Enge und Dumpfheit angefüllten Kammer plötzlich in das helle Licht der Sonne treten und eine ganze Weile lang die Augen mit der Hand beschatten müssen, ehe sie bereit sind, das Bewegte und Unbewegte in der Helle einer weiten sommerlichen Landschaft wahrzunehmen.

Vielleicht war es nur ein Zufall, daß sich das Gesicht des Knaben in solchen Momenten immer der Insel auf dem Fluß zuwandte. Oft mußte er den dunklen Punkt in dem gleißenden Geflirr des Wassers erst mühsam suchen, sich höher recken, ein paar Ranken der Lianen beiseite schieben und im Nachdenken sich auch noch fragen: Ist es wirklich dieses Stück Erde, das gegen den Strom zu schwimmen scheint, schieferblau der Grund und befiedert mit weißen und zitronengelben Farben … oder ist es ein großer, noch nie gesehener Vogel, der flach über das Wasser hinstreicht? Am Ende ist es gar ein Fisch, jener sagenhafte, dessen oberer, aus der Flut herausreichender Teil dem Körper einer Frau gleicht.

Aus den Legenden, die er von der Mutter erfahren hatte und von denen einige in seltsamen Geschehnissen auf der Insel sich abspielten, war Cayrú das Vorhandensein dieser schmalen Landzunge überhaupt erst zum Bewußtsein gekommen. Vordem hatte er nur die Unermeßlichkeit der Wasserfläche wahrgenommen, die Farben des Abendhimmels, die sich darin ausschütteten, und den Einbaum, der nahe am Ufer vorüberglitt, den Mann, der die Paddel bewegte, und die glitzernde Spur, die die in das Wasser getauchten Blätter hinterließen.

Er sah endlich, daß der Strom in einer eilenden Bewegung war, daß der dunkle Streifen nicht mit ihm hinunterrann zu den Wirbeln und Stürzen hinter der jähen Biegung, ihm aber nicht entgegenfuhr, sondern feststand und sich öffnete mit den Formen von Baum und Gesträuch.

Seine Augen waren weit aufgerissen, als horche ein Tier nach einem Geräusch, von dem es noch nicht genau weiß, welche Bedeutung man ihm zumessen muß. Auf dem brunnentiefen Schwarz der Iris flimmerte das Lichtspiel der Sonne. Ein großer, gelb und violettbraun gefärbter Vogel strich mit weit ausgespannten Schwingen flach über die grüne Wirrnis von Schilf und Binsen dahin, nahm eine scharfe Kurve nach der Mitte des Stromes zu, stieß einen schrillen Pfiff aus, und so, als hätte der Schrei sich vielfältig an einer plötzlich hochgestellten Wand gebrochen, antworteten von der Insel her mit dem gleichen Geschrei Hunderte von Artgenossen.

Jeden Tag, wenn Cayrú an dem Einbaum arbeitete, kam solch ein Moment, daß er die Augen aufheben mußte, um sich zu vergewissern, ob die Insel noch vorhanden oder mit der Zeit doch schon zu dem großen Wasser eingegangen war, wie manchmal die Bäume auf der Barranca, die über Nacht sich von der Erde gelöst hatten, zuerst die tragende Kraft der Wellen prüften und dann still hinunterglitten zu den tanzenden Trichtern aus einem schneeweißen Schaum, die einen riesigen Stein oder eine Sandbank umkreisten.

Das Kanu war so groß, daß es ein junger Bursche auf den Schultern nicht forttragen konnte; ein ausgewachsener Mann aber vermochte es. Und dieser Mann war der Vater von Mariechen. Er trug das indianische Boot, als Cayrú es dem Mädchen zum Geschenk gemacht hatte, mit den gleichen einfachen und stillen Worten, als hätte er ihr einen grüngoldenen Käfer aus dem Busch mitgebracht oder eine seltsam geformte Schnecke, über die Barranca zu einer der seichten Ausbuchtungen des Wassers, um es auszuprobieren. Er prüfte Tragkraft und Wendigkeit, Dichte und Gleichgewichtslage und bewunderte es im stillen als eine wahrhaft meisterliche Arbeit.

Cayrú sagte indes zu Mariechen, als müsse er sich entschuldigen: »Warte noch zwei oder drei Sommer, dann bin ich genauso stark wie der Patrón und dann …«

»Und dann?« fragte Mariechen.

»Ja … dann werde ich uns eine Hütte bauen aus Rohr und Schilf.«

»Wir haben aber doch schon ein Haus, du Dummer!«

»Nicht hier ein Haus … drüben auf der Insel wird es sein, daß ich es baue.«

»Für mich ganz allein willst du es bauen? Ja, ein wunderschönes Spielhaus … das möchte ich haben.«

»Die Hütte und die Insel werden dir gehören und mir.«

»Ach … du glaubst, auf der Insel werden wir Mann und Frau sein? Du, ich nehme keinen indianischen Teufel zum Mann, wenn ich einmal so groß bin wie meine Mutter. Die Indios stammen alle von den häßlichen schwarzen Schweinen im Sumpf ab. Oder meinst du, du allein stammst nicht von einem schwarzen Schwein ab? Mein Onkel Heinrich sagt ja, ihr alle seid Kinder vom Warzenschwein. Und er wird es wissen!«

»Wir stammen nicht von den Jabalis ab, Querida! Von den Aras kommen die indianischen Leute her. Das hat mir meine Mutter erzählt«, antwortete Cayrú treuherzig; er empfand es nicht als Beschimpfung, daß man seine Herkunft von den häßlichsten Tieren des Waldes ableitete. Er erinnerte sich der Legende, die ihm die Mutter erzählt hatte. Und so, wie einst die Geschichte zu ihm eingegangen war und haftengeblieben … mit den gleichen Worten, Bildern und Betonungen bestimmter Situationen erzählte er sie auch dem Mädchen.

»Ja … du … das war wirklich eine schöne Geschichte!« sagte Mariechen nach einer Weile des Schweigens, obwohl sie die Tiefe der Beziehungen von Mensch und Tier, Pflanze, Wind und Regen zu dem geheimnisvollen Urgrund des ewig Fließenden unter der Erde noch nicht so zu deuten verstand, wie sie in der Legende aufgezeigt wurden in einer sinnfälligen Einfachheit, in einer Einfachheit, die vielleicht nur noch den primitiven Menschen einging als eine Art Evangelium von der ununterbrochenen Verwandlung aller Dinge, den von der Zivilisation aber schon mitgenommenen Menschen nur als eine Fabel erschien, schön und wundersam und auch nicht anders zu betrachten als ein Märchen für verspielte Kinder.

Aber dann kam etwas von den Lippen Mariechens, was sie eigentlich nicht hatte sagen wollen, das im Grunde aber so ernsthaft und voller Aufrichtigkeit gemeint war, wie es klang: »Wenn es stimmt, Cayrú, daß ihr von den Aras abstammt und nicht von den häßlichen Schweinen, dann hat Onkel Heinrich gelogen. Immer spricht er so häßlich von euch, ich weiß nicht, warum. Und weißt du … er mag nicht, daß wir zusammen spielen. Mir aber gefällt es. Und Onkel Heinrich hat mir gar nichts zu befehlen. Er ist doch bloß ein Onkel, nicht wahr? Und du hast ihn auch nicht gern, das weiß ich.«

Onkel Heinrich war der Bruder des Kolonisten Friedrich Coßmann und mit seiner Arbeit und einem kleinen Kapital an der Farm beteiligt. Er konnte den indianischen Knaben allerdings nicht leiden. Er sprach nie ein Wort mehr zu ihm, als notwendig war, ihm eine Arbeit aufzutragen. Es wäre ihm auch nie eingefallen, den Jungen zu fragen, was jenseits der Hantierung, die ihm gerade unter den Händen war, in seinen Gedanken und Gefühlen sich bewegte. Wenn er ihm eine Arbeit auftrug, geschah es nie anders, als spräche er zu einem an die Art und Gewohnheit der Menschen schon gewöhnten Tier. Er bedachte sich nicht einmal, daß der Knabe Cayrú nicht die geringste Verpflichtung hatte, auf dem Hof und im Haus sich nützlich zu machen, und daß er für seine Arbeit auch keinen Lohn empfing. Weshalb aber er auf diese stumpfe und häßliche Art mit dem Jungen verkehrte, das lag gewiß nicht daran, daß Cayrú von den äußeren Dingen der Zivilisation noch wenig in sich aufgenommen und begriffen hätte. Was Heinrich Coßmann im allgemeinen vom Leben der Indios wußte, das hatte er aus dem Umgang mit den Criollos und den hier schon seit vielen Jahren als Kolonisten ansässigen Landsleuten erfahren. Er hatte es gleich am ersten Tage seines Hierseins in dieser Landschaft vor sich gehabt, wie die weißen Leute von den Eingeborenen abrückten, sie als eine Sippschaft betrachteten, die um viele Stufen niedriger stand als der europäische Mensch, eine bald ausgestorbene Zwischenstufe sozusagen, nicht mehr wildes Tier, aber noch lange nicht Mensch.

Ganz gewiß geschah dieses Abrücken von den Indios nicht allein ihrer primitiven Sitten und Gebräuche wegen; auch der Schmutz und die Läuse konnten nicht die entscheidende Ursache sein; denn die Criollos züchteten nicht minder das Ungeziefer, und von ihnen hätte man glauben müssen, was sie sich vielleicht auch einredeten, daß sie das Ungeziefer nur beherbergten, um sich das Gift aus dem Blut herausholen zu lassen, ja, daß es mit seinem bloßen Dasein schon, im Haupthaar und in den Zotteln unter den Armen, in der Kleidung und an den unaussprechlichen Stellen des Körpers, die vielen anderen und weniger gemütlichen Blutsäufer: die Sandflöhe, Bichos und Moskitos, abwehrt.

Auf die echt indianischen Läuse aber wurde jeder Gringo zuerst aufmerksam gemacht, als wäre dagegen die Viper im Wald und der Skorpion im Steingeröll der Felder eine nebensächliche und leicht bekämpfbare Plage. Und von den Läusen kam man auch gleich auf die Faulheit, Verschlagenheit, Trunksucht und Streitlust der Indios zu sprechen. Das waren alles Laster und Eigenschaften, die der Eingeborene von Hause aus nicht mitgebracht hatte, die er vielmehr erst aus dem Umgang mit den »kultivierten Leuten« bezog.

Nein, nicht die Läuse, nicht der Schmutz, auch die Primitivität des Wohnens und der Kleidung nicht oder womöglich gar das absolute Analphabetentum und die heidnischen Gebräuche waren die wirkliche Ursache, daß man die indianischen Leute als minderwertige Kreaturen ansah und sie als den Ausbund aller menschlichen Verkommenheit hinstellte. Es waren bei dieser schiefen Auslegung immer noch Reste von dem alten, von den Konquistadoren brutal geübten Ausrottungsverfahren mächtig in jenen Leuten, die sich als die eigentliche Rasse des Kontinents betrachteten und ein Ur-Recht darauf zu besitzen glaubten, mit dem Urwald auch seine Bewohner zu dezimieren.

Der große panische Schrecken, der die Indios gelähmt hatte in den Zeiten Pizarros, sie still und willenlos gemacht, als die eisengeschienten Räuber die Hände ausstreckten, sie fliehen hieß oder geduldig eine Schuld auf sich zu nehmen, die sie niemals verursacht hatten … dieses große Entsetzen ist stehengeblieben in ihrem Blut bis zum heutigen Tag. Aus dem Gespenst machten die Eroberer eine Waffe. Und mit dieser Waffe in der Hand machten sie sich die erschrockenen Menschen dienstbar, sobald sie ihrer bedurften und habhaft wurden.

Was sich mit dem indianischen Blut schließlich mischte, das verstand die Waffe noch rücksichtsloser und barbarischer zu brauchen. Ein Criollo und ein Indio … das sind zwei Gegensätze, die sofort explodieren, wenn sie einander begegnen.

Die Criollos sind die eigentlichen Herren des Landes. Von ihnen eigneten sich die später eingewanderten Europäer schnell die Sitten und Gebräuche an vom Matetrinken und dem Umgang mit dem Streitmesser bis zu den gräßlichen Flüchen und der sinnlosen Verachtung des indianischen Menschen.

Solche Gespräche wie dies über die Herkunft der Indios führten die beiden Kinder noch oft, wenn sie unter dem Oleanderbusch oder der riesigen Säulenkaktee hockten und Cayrú an den Paddeln für das Kanu schnitzte, die dünnen, biegsamen Blätter aus zähem Holz mit einem krausen Figurenwerk in blauen und roten Farben versah und die Griffe mit einem seidenweichen Bast umflocht.

Der Wind stand still in den Blättern und Halmen, die Zweige der Weiden vermischten sich in ihrem unteren Behang mit den Ranken der wilden Ananas. Glashell klirrten die Flügel der großen grünen Libellen, die sich in der Luft nicht zu bewegen schienen, die wie eine Art von Blumen ohne Stiel und Wurzelgrund aus ihr herauswuchsen oder in das Flimmern hineingewebt waren. Der Ibis strich ganz flach mit einem schrillen Pfeifen über den Spiegel des Stromes, als berührten sich zwei Wellenkämme, ein schnell dahinjagender und ein bedächtig vorwärts schaukelnder.

Manchmal stieß auch vom Schlammgrund ein riesiger Pirarucú hoch, die große, blutrote Rückenflosse schnitt das Wasser wie ein gekentertes und von der Strömung mitgerissenes Boot, eine lange, weiße Schaumspur folgte ihm und zerrann erst, wenn das schwere Gewicht eines Flußdelphins sich darüber hinwälzte, die auf hohen Stelzen trippelnden Trompetervögel von den Sandbänken jagte und den träge sich sonnenden Yacaree das gräßliche Gebiß blecken ließ.

Die Espinillen auf der Barranca standen wie ein bleigraugestrichenes Gitterwerk vor dem wolkenlosen Horizont, und das Bambusrohr machte aus den vielen Stimmen, die Halm, Blatt und Büschel bewohnten, einen einzigen, orgeldumpfen Ton.

Von den Stichen der blauen Aasfliegen blutete dem Knaben der Nacken, und in dem Blut, das in der trockenen Hitze schnell verkrustete, versuchten Schwärme von Barigüis sich einzunisten und Eier abzulegen.

Manchmal nahm Mariechen ein großes Blatt und scheuchte die in Bündeln wie eine Hand groß auf der Haut des Knaben klebenden Schmarotzer fort. Nach wenigen Minuten aber saßen sie schon wieder da und mästeten sich. Und Cayrú war schon so daran gewöhnt, daß sich auf der Haut nicht einmal mehr die Reflexe des Schmerzgefühls bewegten. Er lächelte, wenn das Mädchen sich um ihn bemühte; er lächelte, wenn sie wütend um sich schlug, um einen Käfer, der an ihrem Kittel hochkroch, abzuwehren.

Er lauschte mit seitwärts geneigtem Kopf, ohne die Augen von der mühsamen Arbeit aufzuheben, ihrem Geplauder, von dem er selten mehr verstand als die ihm geläufigen Worte aus dem Geschehen des Alltags.

Wenn ihr das bloße Zuschauen, wie er die Muster in das Holz ritzte und mit dem färbenden Saft der Rohrschnecke ausfüllte, schließlich über wurde und der Mund müde von den vielen Worten, die sie machen mußte, um ihm etwas zu erklären, das er nicht schnell genug begriff, sprang sie auf und riß ihm das Schnitzmesser aus der Hand, um ein womöglich noch schöneres Bild oder Ornament auf den dunklen Grund des Holzes zu zeichnen. Sie verdarb aber nur das von Cayrú schon Vollendete, und nun mußte er wieder stundenlang kratzen und schaben, um die Spuren ihrer Ungeschicklichkeit auszulöschen. Darüber ärgerte er sich und wartete jetzt ungeduldig auf den Pfiff vom Hof, der sie zur Mahlzeit oder Beschäftigung im Garten rief.

An einem Sonntagmorgen, als der Himmel sich in das blaue, versonnene Auge der Bucht warf und auf dem blanken Spiegel den kreisenden Flug eines Kondors zeichnete, der wie ein rotes Segel durch den unendlichen Raum schwebte, machte sich Cayrú auf den Weg zum Rancho und meldete, daß die Paddel endlich fertig seien und daß man sie jetzt ausprobieren könne.

Mariechen bat ihren Vater jetzt so lange, bis er das Kanu zum Wasser trug, eine seichte Stelle suchte und das leichte, schön geformte Fahrzeug schwimmen ließ.

Zuerst mußte Cayrú allein in das Boot steigen und ein Stück auf den Fluß hinausfahren. Er ruderte geradeaus, ohne auch nur einen Meter von der Strömung abgetrieben zu werden, bis zur Insel, riß von einer morschen Weide einen dicken Busch Orchideen ab und fuhr wieder zurück.

Mariechen hatte diese Art von Blumen noch nie gesehen, sie leuchteten atlasblau, und die tiefen Kelche brannten feuerrot. Die Form der Blüten glich einem aufgerissenen Vogelschnabel, einem Kopf, der einen Schopf trug.

Mariechen wünschte sich noch mehr von diesen Blumen. Auch wollte sie wissen, ob es noch andere Formen und Farben davon gäbe. Und schließlich begehrte sie, mit ihren eigenen Händen die Orchideen von den Bäumen abzureißen, von dem morschen, von den Würmern schon zermehlten Holz. Es bedrängte sie, zu wissen, wie solch eine Insel in der Wirklichkeit aussieht, dieses seltsame Stück Land, von dem man sich schöne Geschichten erzählte.

Der Vater überlegte eine ganze Weile, tastete mit prüfenden Augen den Himmel nach einer Wolke ab, maß Richtung und Stärke des Windes, und erst nachdem es ihm so schien, als brauche man nichts zu fürchten, durfte Mariechen sich in das Boot zu Cayrú setzen und zu der geheimnisvollen Insel hinüberrudern lassen, auf dem Land aber nicht weiter gehen als höchstens zehn Schritte, und sollte dann sofort wieder umkehren.

Friedrich Coßmann blieb auf der Barranca stehen, beobachtete die Abfahrt und wollte warten, bis das Boot wieder zurückkam. Der Fluß lag spiegelglatt, träge wälzten sich die Wasser dahin. Das Rohrgeflügel war nicht unruhig, die Bäume standen starr und leblos wie aus Metall geformt, und der Kondor schien ein feuriger Nagel zu sein, der den noch sichtbaren Punkt der Himmelskuppel mit dem Unsichtbaren verband.

Bis zur Insel waren es gut tausend Meter von dieser Uferseite aus und von der Insel bis zum jenseitigen Ufer fast fünfzehnhundert. So breit war hier der Strom, der viele hundert Meilen Urwald schon hinter sich hatte, an der Quelle einen uralten, indianischen Namen trug und noch zweimal seinen Namen ändern mußte, ehe er als Rio de la Plata sich endlich mit dem Meer mischen konnte, an seiner Mündung selber wie ein Meer anzusehen.

Im Ungefähren dachte der Vater Mariechens jetzt auch wieder an die Erlebnisse mit den Pirañas. Im Boot aber … was konnten diese blutgierigen Fische den Kindern antun?! Er hatte bei der Abfahrt den Kindern noch schnell zugerufen, um des Himmels willen nicht die bloße Hand durch das Wasser streifen zu lassen. Und er beobachtete, ob sie die Warnung auch beachteten.

Es geschah den Kindern nichts. Sie hielten sich knapp zehn Minuten und nur im Ufergebüsch der Insel auf. Sie kamen mit einer riesigen Fracht von Orchideen zurück. Es waren Formen und Farben darunter, die die Familie des Kolonisten nicht aus dem Kopfschütteln herauskommen ließen, obwohl die Leute in den Jahren ihres Hierseins doch schon viele Seltsamkeiten der Landschaft, insbesondere ihrer Menschen, Tiere und Pflanzen, ihrer Wetterlaunen und der Großartigkeit der Sonnenuntergänge und Sternennächte, erfahren hatten.

Cayrú baute auf der Barranca einen wind- und regengeschützten Anlegeplatz für das Boot aus, damit Mariechens Vater den Einbaum nicht immer hinauszutragen brauchte. Und an einem jeden Sonntagvormittag fuhren die beiden Kinder zur Insel und brachten Blumen, Schmetterlinge, Muscheln und kleines Getier mit. Immer aber saß Friedrich Coßmann derweilen auf der Barranca und wartete ab, bis das Kanu auf der Insel anlegte und wieder zurückfuhr. Manchmal flog ein heftiger Windstoß über das Wasser hin und brachte den glatten Spiegel in Unordnung. Das Kanu schaukelte ein wenig, nie aber lief es Gefahr, umzukippen. Geschmeidig zerschnitt es mit seiner scharfen Spitze den Wellengang, und die Kinder bekamen nicht einmal einen Schaumspritzer ab.

Nach einigen Wochen ließ Friedrich Coßmann die beiden Kinder allein fahren, das heißt, er saß nicht mehr auf der Barranca, um die Fahrt zu beobachten. Er hatte sich davon überzeugt, daß Cayrú auf dem Wasser so sicher war wie ein erwachsener Mensch, der die vielen Tücken des Stromes genau kennt. Er spürte jedes Hindernis früh genug auf und wich ihm geschickt aus. Er legte, wenn es sein mußte, die ganze Kraft des scheinbar nur schwachen, in Wirklichkeit aber sehnigen und ausdauernden Körpers in die Vorwärtsbewegung des Bootes. Er hatte Augen hinten und vorn und beobachtete jede Regung seiner Spielgefährtin.

Mariechen hockte im hinteren Teil des Bootes auf einem Guanakofell. Ihre langfingrigen weißen Hände spielten mit dem stachligen braunen Haar der Decke, die sie sich über die hochgezogenen Knie gelegt hatte. Die flimmernden Reflexe auf dem Wasser stachen ihr in die Augen, sie schloß oft die Lider, die so durchscheinend und von einem feinen Netz blauer Adern bedeckt waren, als ginge der Blick durch die Haut hindurch, in den glasgrünen Himmel hinauf, an dessen unterer Wölbung ein paar Falken sich in übermütigen Liebesspielen jagten.

Manchmal rundete sich der Mund des rudernden Knaben zu singenden Tönen. Er fand jedoch nicht die Melodie zu dem Lied, das er meinte. Es war eine alte indianische Sonnenballade. Die Mutter mit ihrer tiefen, aber schon brüchigen Stimme hatte sie ihm ein paarmal vorgesungen, nicht lange nach jenen Tagen, als man das Skelett des Krebsfischers im Rohr fand.

Als Cayrú die Versuche, die Ballade zu singen, schließlich aufgab und mit dem Paddel nach einem fliegenden Fisch schlug, der flach über das Boot hinschnellte, hob Mariechen die Lider und fragte: »Weshalb singst du das Lied nicht zu Ende, Cayrú? Ich glaube, es rudert sich leichter, wenn man Musik dazu macht. Auch kann man gut dabei träumen. Ich hatte in meinem Traum mir gerade eine Stelle im Busch gewünscht, wo man jene Orchideen findet, die große rote Augen haben und einen Schwanz wie eine Eidechse. Sing, Cayrú, damit ich noch ein Stück weiterträumen kann!«

Cayrú wartete so lange, bis Mariechen die Augen wieder geschlossen hatte. Dann probierte er es noch einmal mit der Ballade. Er stolperte mit seiner singenden Stimme durch eine wirre Wildnis. Es klang nicht schön, das verspürte er und schwieg wieder. Und im Schweigen, von Mariechens Wort nicht mehr unterbrochen, hatte Cayrú das Gefühl, als wäre dieses Mädchen im Boot gar kein richtiger Mensch. Auf ihrer Stirn stand eine scharfe, senkrechte Falte und reichte bis zur Nasenwurzel hinunter, während in der Rille ein goldblankes Insekt auf und ab spazierte.

Cayrú sagte seit einiger Zeit schon nicht mehr Mariechen zu dem Mädchen. Er nannte sie jetzt nicht anders als »Muñeca«, und das gefiel ihr. Sie fand es dumm und albern, dieses ewige Mariechen, womit sie zu Hause und von der Nachbarschaft gerufen wurde. Es war weniger die Bedeutung des Wortes Muñeca, was ihr so gefiel, als vielmehr der sonderbare Klang der drei Vokale; das Weiche aufgehoben durch die harte Resonanz der Konsonanten. Vielleicht würde ihr der indianische Name für Puppe noch mehr zugesagt haben. Still für sich sprach der Knabe ihn auch aus. Und als er einmal halblaut seinen Lippen entfuhr, da wußte das Mädchen allerdings nicht, was dieses Wort Nyuyu zu bedeuten hatte, aber der sonderbare Klang erregte ihr Gefühl. Sie ließ sich das Wort erklären und dachte darüber nach. Aber sie sagte nicht, daß es ihr gefiel. Nur, wenn er es wieder aussprach, lächelte sie.

Oft, wenn sie den Knaben aus den nur halbgeöffneten Lidern ansah, umflimmert von den Lichtern, die aus dem Wasser heraufstrahlten und seine bronzene Haut metallisch machten, vermeinte sie in ihren halbwachen Sinnen, er gliche einem seltsamen Tier, das scheu aus einem dunklen Strauch herausgekrochen ist und über die Felder sieht, wo Menschen mit sonderbaren Geräten sich in die Erde hineinwühlen, wo das urtümlich Ungeordnete sich in eine geordnete Starrheit zwingen läßt, wo seltsame Dinge mit den Pflanzen geschehen und alles hart und einfach ist, wie auf einem baumlosen Geröllstück des Altiplano.

Sie hatte mit den Jahren sich so an den Knaben gewöhnt, wie man sich ein junges Tier großzieht und als ein gewordenes Geschöpf der eigenen Kräfte und Gefühle betrachtet. Sie verstand es nicht, weshalb die Eltern nicht wollten, daß Cayrú mit ihnen am Tisch saß und aß. Sie erinnerte sich, daß sie einmal – damals mochte sie sechs Jahre alt gewesen sein – eine rehbraune Angorakatze besessen hatte. Die durfte sogar mit ihr im Bett schlafen, am Fußende.

Es gab Tage, an denen das Mädchen ein beklemmendes Gefühl empfand, wenn Cayrú ein wenig lieblos sein Abendbrot empfing und nach Hause ging. Sie hätte ihn rufen mögen: Bleibe! Und weshalb sie es nicht getan hatte … darüber zerbrach sie sich im stillen den Kopf und rief ihm doch nicht zu: Bleibe! Aber die leere, kalte Stille, die nachher wieder in ihrem Gefühl wach war, empfand sie so, als habe der Raum den Atem verloren, den sie als eine wohltuende Wärme empfunden hatte und der nun hinausging und abstarb und die Kälte seines Todes zurückwehte.


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