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XXI

Friedrich Coßmann, der tatsächlich mit seiner Tochter Anne-Marie, versteckt unter den Bäumen der Hütte Huacuas und auch unter dem persönlichen Schutz des Indios, heimlicher Zuschauer des Hochzeitstanzes gewesen war, hatte den Schauplatz in dem Augenblick verlassen, als im Kraut der Taumel der Paarung raste.

Auf dem Heimweg fragte er sich, wieviel wohl seine Tochter von diesem mythischen Spuk und Zauber begriffen habe und ob man es verantworten könne und mit welchen Gründen, daß man einem jungen, unerfahrenen Mädchen solche Einblicke in das Leben und die Sitten der Indios vermittelte und ihm Szenen vorsetzte, die leicht einen erwachsenen Menschen hätten umschmeißen können.

Er glaubte jedoch zu bemerken, daß Anne-Marie die ganze Geschichte als eine Art Narrenspiel erlebt und den tieferen Sinn des Hochzeitstanzes und die letzte Bedeutung der kultischen Handlung zum Glück nicht erfaßt hatte. Wenigstens sprach sie unterwegs ganz harmlos darüber. Das beruhigte ihn schließlich. Er bat Anne-Marie jedoch, Onkel Heinrich gegenüber (der für ein paar Tage nach Asuncion gefahren war, um Säcke für die Baumwolle aufzukaufen) nichts von dieser Nacht zu erwähnen, wenn er einmal danach fragen sollte.

Anne-Marie antwortete: »Wenn man Onkel Heinrich irgend etwas von den Indios erzählt, dann verzieht er gleich den Mund, als wären die Leute häßliche und giftige Tiere. Warum wohl hat er immer solch einen Haß auf diese Menschen? Haben sie ihm einmal etwas zuleide getan oder einen Schabernack gespielt? Ich finde sie sehr nett, sie verstehen wenigstens einen Spaß. Und wie sie da herumgetanzt sind … das war doch direkt zum Totlachen! Wäre ich allein gewesen … ganz bestimmt würde ich nicht so still sitzen geblieben sein. Ich hätte den Huacua gefragt, ob ich mittanzen dürfe. Das Gesicht hätten sie mir mit Gold anstreichen müssen und am ganzen Leib die Haut kohlrabenschwarz. Dann wäre ich die Königin gewesen. Es war keine Königin dabei. Gibt es bei den Indios keine Königsfrauen? Oder war die alte Großmutter unter dem Baum die indianische Königin?«

Es verschlug für eine ganze Weile Friedrich Coßmann den Atem. Und seine Stimme klang belegt, als er antwortete: »Glaubst du, Dumme, die Indios hätten dich mittanzen lassen, wenn du gewollt hättest? Nein, mein Kind. Zuerst einmal würden sie dich an den dicken Baum gebunden, dir dann den Leib aufgeschnitten und das Herz herausgerissen und zuletzt alles in kleine Stücke geschnitten, im Feuer geröstet und aufgefressen haben.«

»Das ist doch gar nicht wahr, daß die Indios Menschenfresser sind! Das gibt es nicht mehr. Selbst Onkel Heinrich behauptet das. Und der muß es doch wissen.«

»Doch … mein Kind. Es gibt einen indianischen Stamm, dem man nachsagt, daß er Menschenfleisch verzehrt. Dort, wo sie noch in der Wildnis leben, weit weg von den weißen Menschen, in den tiefen Wäldern am Amazonas. Frage mal Onkel Heinrich nach den Pacagura. Er war früher über ein Jahr dort als Kautschukaufkäufer und Orchideenjäger.«

»Wenn er so lange dort war … dann wundert es mich aber, daß sie ihn nicht aufgefressen haben!«

»Weshalb eigentlich denkst du immer so häßlich von deinem Onkel? Das mußt du dir endlich abgewöhnen.«

»Ich kann nicht leiden, daß Onkel Heinrich alle Leute, die bei uns auf dem Hof oder im Feld arbeiten, geringer ansieht als die Ochsen und Mulas.«

»Das wird wohl so sein müssen, mein Kind! Wir leben in einem unzivilisierten Land. Die Leute können nicht lesen, nicht schreiben, nicht rechnen. Sie wissen nichts von dem, was in der Welt vorgeht. Sie haben nicht den geringsten Sinn dafür, daß man sich anstrengen muß, um es im Leben zu etwas zu bringen. Am liebsten möchten sie den langen, lieben Tag in der Sonne liegen und sich ausruhen von ihrer Faulheit. Vielleicht mag das einmal so im Paradies gewesen sein; heute aber gibt es kein Paradies mehr. Heute muß sich jeder anstrengen, wenn er sich satt essen und ein Dach über dem Kopf haben will. Die Indios aber wollen viel essen und nichts dafür tun. Deshalb muß man sie antreiben. Und weil ihr Fell noch dicker ist als das der Ochsen, schadet es ihnen gar nichts, wenn sie ein paar grobe Worte an den Kopf geworfen bekommen.«

»Grobe Worte, die braucht man natürlich nicht zu hören, wenn man nicht will. Aber schlagen …«

»Wir haben noch niemand von unseren Arbeitsleuten geschlagen. Das wirst du nicht gesehen haben. Wie kommst du überhaupt darauf? Ich versteh' nicht!«

»Daß einer von unseren Hofleuten nur noch ein halbes Ohr hat und tiefe Löcher am Hals und auf der Backe, das sieht man doch.«

»Ach … du meinst den Pablo?«

»Ja … den meine ich.«

»Pablo ist kein Indio, mein Kind. Er würde es dir sehr übelnehmen, wenn du ihn fragst, weshalb er sich nicht mehr das Gesicht mit Farbe beschmiert und einen Knochenring im Ohr trägt. Pablo ist ein Criollo, ein Mischling, verstehst du? Vielleicht war seine Großmutter noch eine India. Sein Großvater aber wird schon ein Weißer gewesen sein.«

»Das meine ich nicht. Ich wollte bloß sagen, daß er mir einmal erzählt hat, woher das halbe Ohr und die Löcher im Gesicht stammen. Mit der Peitsche hat man ihn geschlagen. Immer von oben herunter ins Gesicht hinein. Und nicht bloß einmal, sondern oft. Alle die Jahre hindurch, die er auf der Estanzia war.«

»Gewiß gibt es hier rundherum noch Estanzien, wo die Leute, die auf dem Hof arbeiten, geschlagen werden, von den Administratoren oder von der Camp-Polizei. Bin ich aber daran schuld? Und könnte ich das verhindern? Und glaubst du … du würdest es verhindern können, selbst wenn du die Tochter von solch einem Estanciero wärst? Dir würden nicht einmal solche Gedanken kommen wie jetzt. Weiß der liebe Himmel, woher du diesen ganzen nachdenklichen Kram hast! Ich weiß bestimmt, wenn du erst ein paar Jahre älter sein wirst, dann wird dir hier vieles nicht mehr so sonderbar erscheinen. Außerdem darfst du nicht alles glauben, was die Hofleute so erzählen. Wenn du einen Indio siehst, der nur einen Arm hat, bestimmt wird er dir dann sagen, er hätte den Arm im Kampf mit einem Puma verloren oder ein Yacaree habe ihm ein Stück davon abgebissen, während er in Wirklichkeit betrunken war, vom Wagen gefallen ist und das Rad des Ochsenkarrens ihm den Arm zermalmt hat. Das ist vor acht Tagen erst einem Peon unseres Nachbarn Lahusen passiert. Und jetzt muß Lahusen für den Mann auch noch aufkommen.«

»Was Pablo mir erzählt hat … das ist die Wahrheit. Man hat ihn geschlagen.«

»Das bestreite ich ja auch gar nicht, Mädchen! Aber er hat das Ohr nicht bei uns verloren. Darauf kommt es doch an. Und es wird auch niemand von uns die Peitsche schwingen und ihm das andere Ohr abschlagen.«

»Wenn Onkel Heinrich einen Zorn im Bauch hat, dann ist es ihm egal, womit er schlägt und wen und wohin er trifft. Das wollte ich bloß sagen.«

»Er wird es dir gewiß nicht übelnehmen, wenn du ihm eine Wahrheit ins Gesicht sagst. Und nun wollen wir es auch genug sein lassen mit der Kritik an Onkel Heinrich. Morgen kommt die Post; vielleicht bringt sie uns die neuen Zeitschriften aus Deutschland mit. Da wird es wieder viel zu sehen und zu lesen geben. Freust du dich schon darauf?«

»Ich möchte ein Buch lesen, worin viel über die Indios geschrieben steht.«

»Ein Geschichtswerk, meinst du?«

»Ja … ein ganz dickes Buch, worin das alles aufgezeichnet ist, was die Indios tun und treiben, dort, wo sie noch unter sich sind und Menschen fressen, wie du sagst.«

»Solch ein Buch werden wir uns bei Gelegenheit auch einmal kommen lassen.«

»Ich muß immer noch an die Musik denken, die die Indios mit den mächtigen langen Flöten gemacht haben.«

»So riesig interessant war die Sache doch gar nicht, daß du jetzt noch daran denkst!«

»Doch … Vater … es hat mich sehr aufgeregt.«

»Dann müßte ich mich jetzt ärgern, daß ich dich mitgenommen habe. Und wenn du mich nicht so gequält hättest, würden wir auch zu Hause geblieben sein. Was, zum Beispiel, hat dich denn so aufgeregt?«

»Alles! Es war wie in einem Märchen. Und vielleicht sind viele Märchen doch eine Wahrheit und nicht bloß ein von Lügnern ausgedachter Kram, wie Onkel Heinrich sagt.«

»Wenn es wie in einem Märchen war, dann freu dich, daß du es gesehen und gehört hast. Aber lange darüber nachzudenken, das ist die Sache denn doch nicht wert. Einen schönen Schmetterling anzusehen, wenn er auf dem Distelstrauch sitzt und die Flügel ausbreitet, das kann oft eine große Freude sein. Ich habe manchmal ein ganzes Stück Arbeit versäumt, um mich zu freuen. Fliegt der bunte Falter aber fort, dann ist es aus mit der Freude. Und man denkt wieder an seine Arbeit und müht sich ab, das Versäumte nachzuholen. So mußt du es auch mit diesem indianischen Hokuspokus halten. Gesehen … und vorbei. Aus! Verstehst du?«

Anne-Marie gab keine Antwort mehr. Die Mula hatte einen Fehltritt getan, sich erschreckt und kam dann ins Schlingern. Und das ging eine ganze Weile so. Erst als das Mädchen dem Tier den Hals beruhigend klopfte, bekam es das Gleichgewicht wieder und trabte in einem gemächlichen Schaukeltrott vorwärts. Die Umrisse des Gehöftes waren noch nicht sichtbar, da meldeten sich schon die Hunde. An der Art des Gebells war zu merken, daß sie gewittert hatten, welche Wesen die beiden Leute waren, die sich dem Rancho näherten.

Von der Lagune herüber kam der klatschende Flügelschlag der Reiher, die auf dem vom Mond taghell beleuchteten Wasser einen nächtlichen Fischzug abhielten, begleitet von den großen, rot- und weißgefiederten Eulen, die aus dem dunkelblauen Schatten der Uferbüsche herausschössen und die wagenradgroßen Blätter der Wasserrose nach balzenden Fröschen absuchten. Die Eulen ließen Schreie los; die dem Kuckucksruf ziemlich ähnlich sind, und übertönten das Geschnarr der Kröten und Frösche.

»Wie schade, daß die Lagune nicht uns gehört!« bemerkte nach einer Weile Anne-Marie.

»Weshalb schade?«

»Wenn die Lagune uns gehörte, dann könnte ich jeden Abend, ehe die Sonne untergeht, baden.«

»Ich glaube nicht, daß man in der Lagune schwimmen kann. Das ganze Wasser ist mit Schlingpflanzen bedeckt. Dazu ist es auch noch morastig und voller Ungeziefer.«

»Aber die Indios baden doch in der Lagune?«

»Ja … mein Kind … die machen sich bloß die Zehenspitzen naß. Aber … vielleicht wird die Lagune einmal uns gehören. Und wenn es sich lohnt, wird man den Pfuhl auch klar machen. Dann wird es jedoch keine Reiher mehr geben, keine Flamingos, keine Rohrwachteln und was sich da sonst noch alles im Schilf herumtreibt.«

»Wenn dort nicht alles so wild bleiben soll, wie es jetzt ist, dann, glaube ich, wird mir die Lagune nicht mehr gefallen.«

»Sonderbar, daß bei dir alles wild und unordentlich sein muß. Woher hast du bloß diese verrückten Ideen? Von uns gewiß nicht. Du könntest gut ein indianischer Junge sein. Den kann man nämlich auch nicht daran gewöhnen, sich mit Seife zu waschen; der frißt die Seife auf und klopft sich nach dem auch noch den Bauch vor Wohlbehagen. Und was der mit der Seife anstellt, das möchtest du mit dem Unkraut und dem Geziefer tun, wenn es dir gefällt. Natürlich nicht fressen, uns aber alles über den Kopf wuchern lassen.«

»Gewiß … Vater! Vielleicht möchte ich das, wenn es schöne Blumen sind oder blanke Käfer und bunte Schmetterlinge.«

»Und dazu auch noch den nötigen Urwald und die wildesten Indios, wie?«

»Natürlich! Jede Nacht, wenn Vollmond ist, müssen die Indios tanzen und dazu die großen Trommeln bummern lassen.«

»Nun hör aber endlich auf mit dem Spuk, Mädchen! Wir sind jetzt aus dem Busch und der Wildnis heraus. Hinter dem Zaun fängt wieder die Zivilisation an, die Arbeit und die Sorgen um das bißchen Brot, das man braucht, um einen ehrlichen Lebenswandel zu führen.

Und nun hör mal gut zu: Wenn Muttchen noch auf sein sollte, dann fall ihr nicht gleich um den Hals mit der Spukgeschichte. Erzähl sie ihr morgen, wenn die Sonne scheint. Besser noch, du behältst den ganzen Kram für dich. Muttchen ekelt sich vor allem, was mit den Indios zusammenhängt. Verstehst du?«

»Ich habe noch nichts davon bemerkt, daß Muttchen sich vor den Indios ekelt. Sie wird sich aber auch nicht aufregen, wenn ich ihr nichts von den Trommeln und Flöten und von den bemalten Männern und Frauen erzähle. Heute werde ich ihr gewiß nichts davon erzählen. Ich bin jetzt müde«

Die beiden Peone standen schon am Gitter und nahmen die Mulas in Empfang. Die Laternen schaukelten in der Schwärze der Schatten, die die Gebäude warfen, wie große Leuchtkäfer, und die Ochsen rasselten an den Ketten und brummten. Ein Vampir umkreiste das Dach des Galpons. Pedro bückte sich nach einem Stein und schleuderte ihn nach dem lautlos schwirrenden Blutsauger. Seiner Augen Sehschärfe in diesem ungewissen Licht war erstaunlich. Er traf das Tier, und wie eine Kokosnuß plumpste es jenseits der Umzäunung in das Brennesselgebüsch.

Muttchen lag auf dem Diwan bei halb heruntergeschraubter Petroleumlampe und schlief. Ein handtellergroßer Nachtfalter, von smaragdgrüner Färbung, mit roten, phosphoreszierenden Augen und atlasblauen Unterflügeln, flatterte im Zimmer herum.

Ohne noch einen Bissen zu sich zu nehmen, suchte Anne-Marie die Schlafkammer auf, zog sich aus, stellte sich vor den vom Mond lichtblau aufgehellten Spiegel und versuchte, die tanzenden Bewegungen nachzumachen, mit denen die indianischen Mädchen den jungen Burschen sich genähert hatten, als auf dem Tanzplatz unter dem Ombú der Kelch der Kakteenblüte aufbrach und sich wieder schloß.

Unter den jungen Tänzern hatte sie Cayrú erkannt und auch das Mädchen betrachtet, das ihm als Partnerin zugeteilt war. Sie hatte sich das braune Kindergesicht genau gemerkt und stellte es sich jetzt wieder vor. Sie fühlte die samtdunklen Augen mit dem feuchtschimmernden Blick auf sich gerichtet. Und sie versuchte zu erraten, was in dem Gefühl dieses ernsten, melancholischen Geschöpfes vor sich gegangen sein mochte in jenem Augenblick, als sich die hocherhobenen inneren Handflächen der Tänzer berührten und die Leiber leise nachzogen.

Es kam ihr wieder jene Szene ins Bewußtsein zurück, als man auf der Insel, vom Regen überrascht, im Boot lag und die heißen, dampfenden Leiber fast aneinanderklebten. Mit diesem Gefühl der hautnackten Berührung legte sie sich. Und starrte durch das Fenster in die Mondnacht hinaus. Der Garten war bewegt von dem Geräusch der wie toll wispernden Grillen und der Tautropfen, die in das Kraut hinunterpolterten. Der gestirnte Himmel flimmerte wie ein Netz aus weißglühenden Drähten.

Anne-Marie dachte an die Orchideen, die Cayrú damals, als er das erstemal hinübergefahren war, von der Insel zurückbrachte – scharlachdunkle und feuergelbe Zungen aus einer Art von Vogelschnäbeln herausgewachsen. Und sie erinnerte sich, daß Cayrú einmal in bezug auf diese Blumen gesagt hatte: »In der Nacht färbt der Himmel sich rot vom Dampf der Blumenzungen, und dann hören die Mariquinas auf mit dem Weinen.«

Die kleinen schwarzen Nachtaffen im Timbó an der Waldseite des Hauses schwiegen schon eine ganze Weile. Und im Traum war Cayrú bei Anne-Marie und streichelte ihr das Haar … Muñeca … liebe!


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