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XXXIV

Yamacinto hatte sich einige hundert Schritte abseits von der Arbeitsstelle begeben. Er war auf der Suche nach bitteren Orangen gegen den Durst, und dann mußte er auch noch eine Sache in Ordnung bringen, die ihm Leibschneiden bereitet hatte. Er hockte mit dem Rücken gegen drei steil aufschießende Königskerzen, und vor sich hatte er einen dicken Busch Farnkraut. Über dem Busch schwirrte es von grünen Fliegen. Wie eine Wolke lag das schwirrende Zeug in der Luft und hob und senkte sich. Dieses Manöver kam Yamacinto sehr verdächtig vor. Als er sein Bedürfnis verrichtet hatte, ging er um den Busch herum. In einem wüsten Durcheinander lagen dort Blätter, Fetzen von einem Kleidungsstück und kleine Zweige verstreut. An einigen Stellen war auch die Erde aufgewühlt. Und als Yamacinto nun ein Stück näherging, mitten auf die grün flimmernde Wolke zu, und sie mit Rutenschlägen zerteilte, sah er einen Klumpen Mensch im Kraut liegen. Er stieß mit der Fußspitze den Klumpen an. Als er keine Wirkung feststellte, stieß er noch einmal und etwas heftiger. Nichts rührte sich. Er schüttelte den Kopf und rief jetzt: »Heda! Ho! Man schläft nicht bis in den hellen Mittag hinein! Steh auf!«

Auch diese Aufforderung fand nicht den geringsten Widerhall. Yamacinto bewegte den Kopf mit der halben Schulter nach der einen Seite und bewegte ihn nach der anderen Seite, bis es ihm endlich einfiel, die dünnen Äste des Gebüschs zur Seite zu biegen.

Jetzt hatte er die Bescherung vor sich. Was da zu einem armseligen Bündel Fleisch und Lumpen zusammengekrümmt an der Erde lag, das schlief wahrscheinlich schon den letzten Schlaf. Denn was da sonst noch in dicken braunen Fladen herumlag, war Blut. Und deshalb war es nicht leicht, diese Milliarden von schwirrenden Fliegen zu verscheuchen. Und noch weniger einfach war es, sie sich vom eigenen Leibe fernzuhalten.

Daß es ein indianischer Mensch war, der hier sicher kein gutes Ende gefunden hatte, stellte Yamacinto schließlich auch noch fest. Das Gesicht lag halb in die Erde hineingedrückt und war von verkrustetem Blut umgeben.

Yamacinto veränderte zunächst die Lage des Kokabündels, es saß jetzt in der rechten Backentasche, dann blies er schnaubend Luft durch die Nasenlöcher und »genehmigte, daß sich die Erde zu ihm bückte« (indianisch ausgedrückt). Mit vieler Mühe gelang es ihm, das Gesicht des Toten nach oben zu drehen. Und in diesem Augenblick durchfuhr ihn auch solch ein heftiger Schrecken, daß er sich um die eigene Achse drehte, nicht einmal, sondern viele Male.

Es dauerte lange, bis er sich so weit beruhigt hatte, den Zeigefinger krumm zu machen, ihn in den Mund zu stecken und den Pfiff der grauen Eule loszulassen.

Dieser Pfiff war ein Notsignal, das jedem Indio geläufig ist und nie mißbraucht wird. Es dauerte auch nicht lange, da knallte der Gegenpfiff Huacuas heran. Drei Pfiffe ließ jeder in dieser Weise los, Pfiff und Gegenpfiff in Abständen von einer Minute. Der Gegenpfiff war so nahe gewesen, daß man ihn mit der Hand hätte greifen können, denn eine hocherhobene Axt blitzte ihm vorauf.

Yamacinto riß seinen rechten Arm hoch, spreizte drei Finger der Hand und rief: »Hierher! Hierher!«

Dieses Rufzeichen bedeutete für Huacua, daß keine Gefahr für ihn bestehe. Er ließ die Axt jetzt auf die Schulter fallen und stand nach wenigen Sekunden schon neben Yamacinto. Der ließ die Hand mit den gespreizten Fingern sinken und zeigte nach unten. Huacua sah die zusammengekrümmte Gestalt, bückte sich zu dem Gesicht hinunter, schnellte im Nu wieder hoch und schob seine entsetzten Augen dicht neben die Yamacintos heran. Beide Stirnen berührten sich. Und aus dem Mund Yamacintos quoll die bittere Frage: »Mayahua?«

»Wie du siehst«, antwortete Huacua. Und darauf folgte die Litanei –:

»Maya-hua … Maya-hua …«

»Ja … unsere liebe Schwester Maya-hua …«

»Wir werden die Schatten des Bösen verjagen …«

»Sie war die Tochter unserer Großen Mutter.«

»Sie war uns eine liebe Schwester.«

»Sie war die Augenweide aller unserer Leute.«

»Sie war der Gesang des Vogels im Nebel.«

»Sie war das rote Abendlicht auf dem Wasser.«

»Sie war der Wind, der unser Weinen trocknete.«

»Sie hat uns Cayrú, den Sohn, geboren.«

»Sie wird sein in den Kindern unseres Sohnes Cayrú.«

»Aus dem Reich des Orion wird sie auf uns niedersehn.«

»Ay … ay … ay … Schwester Mayahua!«

Nachdem sie diesen Gesang, mehr gesprochen als gesungen, beendet hatten, Stirn an Stirn und Hand in Hand und Fuß auf Fuß, um die Umgebung von dem Atem des »schwarzen Schwagers« zu reinigen, rissen sie das Kraut aus der Erde im Umkreis der Toten und schrieben mit der Axt einen Zirkel. Darauf sammelten sie trockne Baumohren (Pilze) und häuften sie auf der Linie des Kreises zu kleinen Hügeln in einem Abstand von einem halben Meter. Diese kleinen Hügel zündeten sie an. Sie brannten zuerst mit einer schwachen grünen Flamme, und dann wurde ein leuchtend blauer Rauch daraus. Aus diesem Rauch gemacht, spannte sich eine Art Vorhang um die Tote, bestimmt dazu, die bösen Geister fernzuhalten, die sich auf den Weg machten, die Seele der Toten in ihren Besitz zu bringen. Von dem Rauch ging ein Geruch wie von faulen Eiern und Affendreck aus. Er hielt wenigstens, das konnte man immerhin wahrnehmen, die heranschwirrenden Fliegen zurück.

»Wer wird nun in das Dorf gehen?« fragte Yamacinto.

»Es wird richtig sein, wenn du gehst«, antwortete Huacua. »Auch bist du dazu bestimmt zu gehen, denn du bist älter als der Bruder Huacua … und Mayahua ist unsere liebe Schwester.«

»Also werde ich gehen«, sagte Yamacinto. Er bückte sich zur Erde mit dem Gesicht nach der Toten hin. Diese Bewegung vollzog er dreimal, sprang auf und ließ Huacua allein.

Huacua sammelte neue Baumohren und häufte sie auf die langsam dahinschwelenden Hügel. Es war ihm nicht gestattet, sich zu setzen, solange die Tote hier allein lag und ohne daß man sie auf eine Matte gelegt hatte. Er durfte auch seine Klage um die Tote nicht mit ganzer Stimme laut werden lassen, solange er allein war, sondern nur flüstern. Und den Tod würde er verdienen, ließe er jetzt noch einmal den Notpfiff los, um noch andere von den Leuten herbeizurufen. Er war bestimmt dazu, die Stelle des Hauses bei der Verstorbenen einzunehmen.

Wenn er jetzt hinübersah nach der Toten, deren Gesicht nach oben lag, sah er in zwei runde graue Steine hinein, die in der Mitte entzweigebrochen waren und die Finsternis durchließen.

Nach einer Stunde des leisen Gesprächs mit der Toten (es war seine Pflicht, sie zu unterhalten, damit sie sich nicht so entsetzlich langweile, hier, immer noch auf der Erde) kam (von wem wohl herbeigerufen?) Cayrú daher.

Huacua ließ ihn bis zum Kreis herankommen. Er sagte kein Wort. Er zeigte auch nicht auf das Gesicht der Daliegenden. Aber Cayrú ahnte oder fühlte es im Ungefähren, wer da lag. Und als er sich auf die Erde werfen wollte, hielt Huacua ihn zurück. An dem braunen Poncho mit den hellgelben Streifen erkannte der Sohn schließlich genau, daß es seine Mutter war.

Huacua riß Cayrú ein paar Haare aus, legte sie auf die flache Hand und blies sie mit einem kräftigen Atemwind in den Kreis hinein. Sie flogen nicht weit, fielen aber doch auf ein Stück Körper der Toten und blieben dort liegen. Cayrú senkte den Kopf, seine Schultern zitterten heftig, der Inhalt seines Gesichts war furchtbar verändert. Ohne daß Huacua ihn daran hindern konnte, stieß der Sohn der Toten einen entsetzlichen Angstschrei aus. Mitten in diesem Schrei hob er die Füße und sauste davon. Das Zerreißen des Schreies war furchtbarer als der Schrei selbst. Huacua sah, daß Cayrú nicht nach der Hütte zurücklief, sondern Richtung nahm nach dem Hof der Weißen, wahrscheinlich, um sie herbeizurufen.

Er drehte den Kopf wieder der Toten zu und flüsterte: »Dein Sohn, liebe Schwester, achtet unsere Gesetze nicht. Wenn die bösen Geister dich jetzt plagen … es ist nicht meine Schuld.«

 

Es war noch nicht eine halbe Stunde vergangen … und beide Coßmanns waren zur Stelle, gefolgt von Cayrú. Wie sehr Huacua sich jetzt auch mühte, die Weißen von der Toten zurückzuhalten … es gelang ihm nicht. Er hockte sich neben einen Baumstamm und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.

Heinrich Coßmann bückte sich über den Leichnam und sah die Verwüstung, die eine Bestie angerichtet hatte. Poncho und Hemd waren in Fetzen gerissen, und gräßliche Wunden, tief in das Fleisch von Arm, Brust und Bein hinein, klafften auf der graukupfernen Haut. Die Halsschlagader war geöffnet, wahrscheinlich von einem Tatzenhieb. Ein Bündel geronnenen Blutes klebte am Hals bis hinunter zur Schulter. Das Hirn lag offen, pechschwarz schon von den Ameisen, die sich hineingefressen hatten. Der rechte Arm, den die Frau zur Abwehr erhoben haben mochte, war an zwei Stellen gebrochen, die Röhrenknochen total zerquetscht.

»Natürlich ein Puma«, sagte Heinrich Coßmann. »Und lange liegt die Frau noch nicht hier. Der Überfall muß in der Morgenfrühe geschehen sein. Der Teufel mag wissen, wo das Biest mit einem Male hergekommen ist, so plötzlich, daß man nichts davon gehört hat. Oder diese verrückten Kerle haben es uns verschwiegen.«

»Wir werden die Spur der Raubkatze suchen müssen und weiterverfolgen, damit die Bestie nicht womöglich in den Hof einbricht und unseren Ställen einen Besuch abstattet«, sagte Friedrich Coßmann. »Aber wo bringen wir jetzt die Tote hin? Soll man sie hier an Ort und Stelle begraben?«

»Kommt nicht in Frage, Fritz. Du siehst ja, was hier bereits vor sich gegangen ist. Die Indios haben den Leichnam für sich reklamiert, und wir dürfen sie nicht stören darin, das würde böses Blut geben und uns in Verruf bringen. Und was den Puma betrifft, der sich hier ausgetobt hat, ich denke, den werden wir bald aufgestöbert haben und erledigen.«

Als Friedrich Coßmann Cayrú so verlassen dastehen sah, wie einen Baumstamm, dem der Blitz die Krone weggefegt hat, dauerte ihn der arme Kerl. Er fragte den Bruder Heinrich: »Und was soll mit dem Burschen geschehen? Wir können ihn doch nicht so allein in der Hütte hausen lassen. Wie wäre es, wenn wir ihn nun endlich auf den Hof nähmen? Soll er sich ein Lager im Galpon machen oder sich zu Pedro und Pablo legen. Das wird den beiden doch nichts weiter ausmachen, denke ich.«

»Wenn die beiden Leute damit einverstanden sind, soll er meinetwegen dort unterkriechen. Ich glaube aber nicht, daß sie es ihm gestatten werden. Criollos in der ersten Generation sind keine Indios, sondern weißer noch als Weiße, das müßtest du nun endlich wissen.«

»Ich werde immerhin den Versuch machen, und wenn ich bei den beiden Leuten auf Widerstand stoße … bueno, dann wird man weiter nach einer Möglichkeit suchen.«

Heinrich Coßmann suchte jetzt den Waldboden nach der Spur der Raubkatze ab. Er hatte Übung im Auffinden von solchen Fährten. Er fand sie auch nach wenigen Minuten, auf dem Weg, der zur Lagune führte.

»Mit bloßen Händen ist es mir denn doch zu gefährlich, die Katze aufzuspüren. Man wird nach Hause gehn und die Knallbüchse holen. Bleibst du so lange hier?« fragte Heinrich Coßmann seinen Bruder.

»Meinetwegen, ich werde hierbleiben. Immerhin hat man für alle Fälle eine Axt, um sich notfalls zu verteidigen.«

»Die unmöglichste Waffe in diesem Fall!« sagte Heinrich Coßmann. »Aber wenn es dich beruhigt, halte sie zur Hand. Ich bin bald zurück.« Mit langen Schritten eilte er davon.

Friedrich Coßmann glaubte, daß er dem traurig vor sich hinstarrenden Sohn der Toten etwas Tröstendes sagen müsse. Er ging zu ihm hin, strich ihm über das Haar und sagte: »Es war gewiß kein einfacher Tod. Aber vielleicht hat der große Schrecken ihr das Bewußtsein genommen, und von den Bissen und Hieben des Raubtiers hat sie dann nicht viel verspürt. Sieh mal, ich habe auch keine Mutter mehr! Immer müssen die Mütter vor uns wegsterben. Du bist nun schon beinahe erwachsen. Man wird dich zu uns auf den Hof nehmen. Du wirst Arbeit und dein Essen haben. Und wenn es soweit ist, wird man auch eine Frau für dich finden. Was meinst du dazu?«

Cayrú hatte fast jedes Wort verstanden und auch seine Bedeutung. Es ging aber nicht das winzigste Zeichen von seinem Gesicht aus, daß er sich durch die guten Worte des weißen Mannes getröstet fühlte. Er stand wie in einem großen Dunkel. Seine krankgeäderten Augen rührten sich nicht von der Stelle.

Friedrich Coßmann sagte sich schließlich, daß es wohl besser sei, den armen jungen Menschen zunächst sich selbst zu überlassen. Er fuhr ihm noch einmal mit der flachen Hand über das Haar und ging zu dem Baum, wo Huacua hockte. Der sprang auf, als machten die bösen Geister einen Angriff auf ihn, er hob auch in Abwehr beide Hände und murmelte etwas, was Friedrich Coßmann nicht verstand. Er fragte und bekam keine Antwort als das Gebrumm.

Huacua lief, als der weiße Mann nicht weichen wollte, den Weg zur Lagune hinunter, der zugleich auch der Weg zum Dorf war, von dem her die von Yamacinto aufgerufenen indianischen Leute kommen mußten, um die Tote zu ehren.

Friedrich Coßmann sah jetzt, daß Cayrú sich zu den Bäumen niederbückte und die trockenen Pilze ablöste, die er dann nach den glimmenden und schwelenden kleinen Hügeln trug, die den Kreis um die Tote bildeten.

Friedrich Coßmann ließ Cayrú gewähren und ging mit nachdenklicher Stirn seinem Bruder entgegen.

 

Drei Stunden vor Sonnenuntergang kamen die indianischen Männer und Frauen, geführt von Yamacinto, aus den Nachbardörfern herüber, um die Schwester Mayahua zu begraben, so wie es ihr, als einer ungetauften India, zustand. Es war auch der Kazike Micapunco unter den Leidtragenden, denn die Tote war eine Tochter seines Stammes, der schon lange keine eigene Siedlung mehr besaß und in den Wäldern und Dörfern des Gebietes zwischen dem Rio Paraguay und dem Rio Paraná in einzelnen Familien lebte.

Geführt von dem Kaziken, schlossen die fünf Männer, die außer Yamacinto, Huacua und Cayrú am Platz waren, und die sieben Frauen einen Ring um den Leichnam, der immer noch so dalag, wie Yamacinto ihn verlassen hatte.

Die trauernden Männer und Frauen hatten sich bei den Händen gefaßt und bewegten sich in einem langsamen Tanzschritt siebenmal im Kreise, rund um die noch immer schwelenden Hügel aus trockenen Baumohren. Mit ihren Mündern machten sie, als musikalische Begleitung zum Tanz, ein Geräusch, das dem dumpfen Hall der Baumtrommel glich, und dabei senkten sie und hoben sie, rhythmisch bewegt, die Stirnen und schoben die Bäuche vor.

Nach Beendigung der Tanzbewegungen lösten sich die Frauen von den Männern und breiteten eine rohgeflochtene Bastmatte auf dem Erdboden aus. Auf diese Matte legten sie die Tote, schnürten ein Bündel, schoben eine Stange hindurch und beluden die Schultern der Llamicha, Tamputoca, Chanuchuca und Muchimoa damit. So zogen sie zur Bai, alle, auch die Männer, um dort die Waschung der Toten vorzunehmen. Für diese Zeremonie waren die vier Frauen bestimmt, die das Bündel getragen hatten.

Dort, wo der schmale Steg zum Wasser hinunterführte, schnürten die vier Frauen das Bündel wieder auf, befreiten den Leichnam von den Fetzen der Kleidung und legten ihn in das flache Wasser. Und während die vier die Reinigung vornahmen, begaben sich die drei anderen Frauen in die Hütte und suchten in dem Vorrat an Matten, Fellen und Kleidungsstücken nach dem Totenhemd und dem Totenponcho, Dingen, die jede indianische Frau nach der Geburt des ersten Kindes sich zu besorgen und gut aufzubewahren hat. Man fand, was man suchte, und begab sich zum Wasser zurück.

Die Männer saßen in einem Halbkreis vor der Hütte und wisperten in einer Art Kanon die Worte:

»Ay … ay … Mayahua … Ay … ay …«

Auch daran nahm der Sohn der Toten teil in einer Form wie alle die anderen Leidtragenden. Niemand erwies ihm eine besondere Aufmerksamkeit, und er schien auch keines Trostes bedürftig zu sein.

Nach der Waschung hüllten die Frauen den Leichnam in die Totengewänder, legten die Matte darum und verschnürten sie. Darauf schoben sie wieder die Stange hindurch und trugen das Bündel dorthin, wo die Tote begraben werden sollte. Den Platz hatte der Kazike ausgesucht. Er lag sieben Schritte von der Hütte entfernt.

Während Yamacinto, Huacua und Pava sich daran machten, das Grabloch auszuheben, was der vielen Wurzeln wegen sehr schwer war, räucherten die Frauen mit trockenen Baumohren die Hütte aus, damit dort nichts zurückbleibe von dem Atem und den Worten der Verstorbenen. Der Rauch entwich durch das kleine runde Loch im spitzen Dach und blies Ringe, die lange Zeit in der Luft standen, was von den Indios als ein Zeichen angesehen wurde, daß der große Geist es nicht ungern sah, den Atem, der von ihm ausgegangen war, wieder einzufangen.

Die für eine erhebende Trauerfeier notwendige Chicha hatten Yamacinto und Pava aus dem Dorf mitgebracht. Sie fanden auch in dem Erdloch neben der Hütte noch zwei Kalebassen vor, gefüllt mit dem genannten Getränk.

Diese Chicha, von Mayahua vor Wochen bereits angesetzt, um sie im Dorf zu verkaufen bei den indianischen Leuten, die keine Zeit hatten, sich mit der Zubereitung zu befassen, war reif und hatte auch die erforderliche Stärke. Das stellte der Kazike fest, indem er sich fast einen Liter in den Bauch schüttete.

Im Augenblick des Sonnenunterganges erhoben sich die Männer und Frauen, schlossen sich wieder zu einem Ring und umtanzten das offene Grabloch siebenmal. Darauf verrichteten die gleichen Frauen, die die Waschung vorgenommen hatten, auch das Totengräberamt und brachten den Leichnam in die Erde. Einen Hügel kennen die indianischen Gräber nicht, sie sind dem Erdboden gleich, und es »schmückt« sie auch kein Zeichen aus Holz oder Stein. Nur in der ersten Nacht brennt ein kleines Feuer auf dem Erdfleck. Es darf vor dem Sonnenaufgang nicht verlöschen. Um das Feuer herum lagerten sich die Leidtragenden und hielten Lobreden auf die Entschlafene. Auch an dieser Zeremonie nahm Cayrú teil, nicht anders als die Leute, die aus dem Dorf gekommen waren.

Nachdem die Lobreden sich erschöpft hatten, kreiste die Kalebasse, jeder, der trank, hatte der Toten zuzutrinken, indem er einen Schluck der Chicha auf das Grab spie.

Als der Zutrunk beendet war, gab der Kazike das Zeichen, daß der letzte Atemzug sich von der Verstorbenen gelöst habe, um sich wieder dorthin zu verteilen, wo er geweilt hatte, bevor er in das Wesen einfuhr, das den Namen Mayahua führte. Und um ihm die Einfahrt in einen neuen Mutterleib leicht zu machen, war es notwendig, zu tanzen und fröhlich zu sein.

 

Es war ein sonderbarer Zufall, daß Anne-Marie am Spätnachmittag dieses ereignisreichen Tages mit ihrem Einbaum auf dem Fluß herumruderte, um sich aufzufrischen nach der schweren Nacht, die sie hinter sich hatte. Der Gedanke, auch nach der Bai hinüberzurudern und Cayrú zu besuchen, war ihr erst später gekommen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung von dem Vorgefallenen, denn als Cayrú auf den Hof gelaufen kam, um die Brüder Coßmann zu Hilfe zu rufen, war sie schon unterwegs zum Fluß.

Als sie die Bai vor sich hatte und die vielen Menschen vor der Hütte Mayahuas sah, schob sie ihren Einbaum in eine Einbuchtung des Ufers hinein, dort, wo eine mächtige Weide fast waagerecht über dem Wasser lag, mit einem dichten Vorhang aus dünnen Zweigen und Laub. Von dieser Stelle aus konnte Anne-Marie alle Vorgänge, die sich dort drüben vor der Hütte abspielten, genau beobachten, ohne von den Leuten gesehen zu werden.

Sie sah, wie man den Leichnam wusch, konnte zunächst aber nicht genau erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war. Erst als der Körper von den Kleiderfetzen und den Blutkrusten befreit war, sah sie, daß es ein weiblicher war und daß die Tote nur die Mutter Cayrús sein konnte. Anne-Marie senkte die Stirn, das Wasser lief ihr aus den Augen, und die schmerzverzerrten Lippen flüsterten: »Armer Cayrú … nun hast du auch keine Mutter mehr … bist ganz allein in der Welt … Ach, du Armer!«

Es dauerte eine ganze Weile, bis dieser erste Anfall des Schmerzes und des Mitgefühls vorüber war. Sie wischte sich mit einem Zipfel des Ponchos das Gesicht und überlegte, ob sie nun nach Hause fahren und die Eltern von dem hier Vorgefallenen unterrichten solle oder noch eine Zeit bleiben und versuchen solle, mit Cayrú zu sprechen, ohne daß es die fremden Leute merkten.

Sie entschied sich, noch zu bleiben. Sie sah, wie man den Leichnam wieder bekleidete, in die Matte hüllte und wegtrug. Nur die Zeremonie des Begräbnisses konnte sie nicht in allen ihren Einzelheiten verfolgen. Die dicken Bäume rechts von ihr standen im Wege und auch ein Stück des Kreises, den die Männer und Frauen um das Grab gezogen hatten.

Anne-Marie hatte die Sonne im Rücken und sah das langsame Absinken nicht. Und so geschah es, daß die Dunkelheit plötzlich da war. Das Erschrecken war groß in ihr und tief wie ein Abgrund.

Sie würde richtig gehandelt haben, hätte sie sich jetzt aufgemacht, um nach Hause zu fahren. Auf dem Wasser des Flusses lag noch stumpfgraues Licht, hell genug, das Ufer und die Anlegestelle zu erkennen. In zehn, höchstens zwölf Minuten hätte sie den Pfad erreicht, der zum Hof hinunterführt. Den konnte man auch in stockdunkler Nacht nicht verfehlen. Fast unten am Horizont stand die hauchdünne Sichel des jungen Mondes und in einem überhellen Glanz die Venus dicht in der Nähe.

Anne-Marie blieb noch immer im Einbaum hinter der Weide. Der Feuerschein vom Grab Mayahuas ließ die Gestalten, die dann und wann hochfuhren und sich nach der Hütte zu bewegten, deutlich werden. Sie hörte auch das Gemurmel der Leute. Und oft schien es ihr so, als vernähme sie die Stimme Cayrús. Die Wahrnehmung ermutigte sie noch mehr, zu bleiben. Warum sollte es nicht sein, dachte sie, daß Cayrú sich auch einmal so weit hier näherte, daß sie ihn anrufen und er ihr dann sagen konnte, was geschehen war. Nicht mehr will sie von ihm wissen. Und vielleicht wird sie dann auch ein paar Worte finden, die ihn trösten.

Manchmal schien es Anne-Marie, als habe die Luft sich mit einem durchsichtigen roten Nebel gefüllt und der Zweig vor ihren Augen trüge anstatt Blätter lauter kleine menschenähnliche Figuren, nicht wie Puppen, sondern flach, wie aus einem blanken, schwarzen Papier geschnitten. Der Wind bewegte sie und ließ sie hin- und hertanzen. Dann war der Nebel mit einem Male wieder fort, und die Figuren waren Blätter und standen hart und frostig in der immer mehr und mehr sich abkühlenden Luft.

Über eine Stunde schon wartete Anne-Marie in ihrem Versteck auf Cayrú, und er war nicht in Rufnähe gekommen. Dann aber geschah es, daß die Leute in der Mitte des freien Platzes vor der Hütte eine Menge dürres Reisig und trockene Wurzeln zusammentrugen und alsbald ein großes Feuer anmachten. Darauf hockten sie sich in einem weiten Ring um die hochauflodernden Flammen und ließen die Kalebasse mit der Chicha kreisen. Sie stimmten einen marschähnlichen Gesang an, und einer von den Leuten, das sah Anne-Marie ganz deutlich, schlug rhythmisch zwei dicke Hölzer gegeneinander. Es war ein sonderbar dumpfer Ton. Ihm gesellte sich nach einiger Zeit noch eine Klapper hinzu, ähnlich jenem Klang, den der Specht verursacht, wenn er an einem hohlen Baum herumhackt.

Anne-Marie sah jetzt, wie ein Mann sich erhob und die Arme hoch aufreckte. Die gespreizten Finger der beiden Hände redeten eine wilde, erregende Gebärdensprache. Ein Nervenschauer rieselte über Anne-Marie dahin. Sie fühlte ihr Herz bis oben in den Hals hinauf.

Mit einem Male, als wäre es ihr von einer fernen Stimme zugerufen worden, packte sie die Ruder und stieß den Einbaum bis zu jener Stelle vor, wo ein paar flach im Wasser liegende Steine und ein Baumstumpf eine Art Steg bildeten. Sie machte das Boot fest und kletterte über die Steine bis zu der flachen Anhöhe empor. Eine Hecke von Oleanderbüschen deckte sie. Und als sie die Höhe erreicht hatte, wo das Feuer loderte, nicht mehr so grell wie zu Anfang, suchte sie nach Cayrú.

Sie fand den Gesuchten nicht sofort heraus unter den Leuten, die am Feuer saßen. Sie erkannte aber Yamacinto und dann auch jene junge Frau, die auf dem Baumwollfeld in einer Reihe mit Cayrú gegangen war. Sie meinte Llamicha. Von der Seite der jungen Frau erhob sich jetzt auch Cayrú, ging nach der Hütte und kam mit der großen schwarzen Amphore wieder.

Er war kaum zwei Schritte von ihr entfernt, als Anne-Marie ihn anrief. Er blieb stehen, wie von einem Schlag getroffen, und wußte nicht, was ihm eigentlich geschehen war. Erst als Anne-Marie noch einmal seinen Namen rief, drehte er den Kopf herum und sah in das Strauchwerk hinein. Er entdeckte Anne-Marie und nickte, um sie wissen zu lassen, daß er sie erkannt hatte.

Er trug das Gefäß zu den Leuten am Feuer, stellte es neben den Kaziken, der seine dritte Beschwörung beendet hatte, und kehrte zu Anne-Marie zurück. Er zwängte sich durch das Astwerk des Gesträuchs und fragte: »Warum kommst du heute?«

»Weil ich nicht wußte, daß deine Mutter gestorben ist. Ach, Cayrú, nun bist du sehr traurig, und ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, um dich zu trösten.«

»Man hat keine Mutter mehr. Aber sie ist doch bei mir. Und sie wird jetzt noch mehr sein bei den Kindern.«

Anne-Marie verstand den eigentlichen Sinn der Worte nur halb. Und deshalb fragte sie: »Wie kann deine Mutter bei dir sein, wenn sie tot ist, Cayrú?«

»Es ist jetzt ihr Atem bei mir durch den großen Geist.«

Das verstand Anne-Marie nun noch weniger. Aber sie fragte nicht mehr. Sie sah nach dem Feuer und sah nach den Gestalten, deren Gesichter in der Lohe wie aus einem hellroten Stein gemeißelt aussahen. Sie hörte auf den Gesang, der jetzt wieder angestimmt und von der Holzklapper begleitet wurde.

Nach einer Weile fuhr Anne-Marie aus der Versunkenheit mit einem Schauer des Erschreckens hoch und sagte: »Entschuldige, daß ich dich hier bei der Trauerfeier für deine Mutter gestört habe. Ich werde jetzt auch schnell wieder verschwinden und nach Hause fahren. Und morgen nachmittag wirst du bei der Agave auf mich warten? Wir werden dann über alles reden, was geschehen ist, nicht wahr? Und wenn ich dir helfen kann, werde ich es gern tun.«

Es waren zwar jene albernen, konventionellen Worte, die man heute im Verkehr mit seinen Nachbarn gebraucht, ohne sich dabei etwas zu denken; aber bei Anne-Marie hatten diese Äußerungen des Mitgefühls noch ihren urtümlichen Sinn.

Cayrú lächelte verlegen. Er hatte nicht alles verstanden, denn diese Anteilnahme eines Fremden an der Totenfeier für einen indianischen Menschen war etwas Neues für ihn, und nicht bloß für ihn. Nach einigem Zögern sagte er:

»Wenn du möchtest bleiben … man wird auch tanzen.«

»Den Tanz würde ich mir schon gern ansehen … aber was werden deine Leute dazu sagen?«

»Du wirst zu uns kommen ans Feuer; willst du?«

»Wird man mich nicht wegjagen?« fragte Anne-Marie.

»Alle unsere Leute sagen, daß du bist eine Tochter der Sonne. Und das ist nicht gut, wenn man böse ist zu der Tochter der Sonne.«

Und wieder kam es sonderbar altklug von den Lippen Anne-Maries: »Wenn deine Leute mich für eine Tochter der Sonne halten, dann wird das wohl ein Irrtum sein. Denn die Sonne hat keine Töchter. Und sie kann auch gar keine haben, weil es eben die Sonne ist und kein Mensch.«

Cayrú ließ sich aber nicht beirren. Er antwortete: »Doch, du bist eine Tochter der Sonne. Auch der Kazike sagte es. Und du wirst jetzt zu uns kommen?«

»Gut, wenn es dir und deinen Leuten angenehm ist, dann werde ich ein wenig mit euch feiern, aber nicht länger als eine Stunde. Dann wirst du mich nach Hause fahren, gelt? Allein, glaube ich, finde ich den Weg nicht auf dem dunklen Wasser.«

»Du wirst bleiben, solange es dir gefällt bei uns. Und ich werde dich auch zurück auf den Hof bringen.«

Darauf bog Cayrú die Zweige auseinander, ließ Anne-Marie heraus und führte sie zum Feuer. Die im Kreis um das Feuer hockenden Leute, Männer und Frauen, ließen sich von der Erscheinung des fremden Mädchens, das ihnen von Angesicht nicht unbekannt war und von dem sie schließlich auch wußten, wo es hingehörte, nicht stören. Wenigstens taten sie so, obwohl es doch eine Fremde war, weißen Gesichts, mit einer Feuerkrone auf dem Haupt und angetan mit einem blauen Poncho, wie ihn hier niemand von den indianischen Leuten trägt, sondern ihn die christlichen Indios auf dem Altiplano als Hochzeitsgewand tragen. Das wußte allerdings nur der Kazike.

Dort, wo Cayrú neben Llamicha gesessen hatte, mußte sich jetzt Anne-Marie niederlassen, und auf der anderen Seite neben Anne-Marie wollte zwar Chanuchuca bleiben, aber sie machte Cayrú doch Platz.

Die Hitze, die das prasselnde Feuer entwickelte, verschlug Anne-Marie zuerst den Atem. Sie gluckste und prustete, während die indianischen Leute sangen und die Oberkörper dabei hin und her bewegten.

Llamicha drückte sich mit der Zeit so fest an Anne-Marie wie eine schon greisenhafte Katze, die selbst vor einem glühenden Ofen die Wärme eines menschlichen Körpers sucht. Aus dem viel zu alten Gesicht der jungen Frau blänkerten die Augen wie kleine, eben aus der Schale gesprungene Kastanien und sahen das weiße Mädchen glühend an. Anne-Marie drehte ihr Gesicht zur Seite, denn sie konnte zuletzt nicht mehr den Geruch aushalten, den der heiße und heftige Atem Llamichas ausströmte. Das berührte Llamicha aber nicht. Sie zog aus dem Poncho einen kinderhandgroßen, flachen Kürbis heraus, den sie an einer dünnen Schnur aus, kleinen Perlmutterplättchen auf der bloßen Haut in dem tiefen Tal der beiden Brüste trug. Sie schüttelte das mit blauen und weißen Farben verzierte Gefäß und schüttete sich ein paar schwarze Krümel auf die flache Hand. Diese Krümel hatten das Aussehen von chinesischem Tee, es waren aber die getrockneten Blüten einer Schlingpflanze, die von den Indios Yumanoa genannt wird und deren Wurzeln ein dem Skopolamin ähnlich wirkendes Gift besitzen.

Zu diesen getrockneten Blättern auf der Innenfläche der Hand tat Llamicha noch ein glühendes Holzkohlenstückchen hinzu, schloß beide Handflächen und zerrieb den Inhalt zu einem feinen Staub. Mit dem Staub puderte sie sich das Gesicht und schnaubte dabei wie ein Ameisenbär, wenn der Regen ihm den zottigen Pelz wäscht. Anne-Marie hatte interessiert zugesehen, wie die junge Frau sich zu verschönern suchte. Ob sie jetzt tatsächlich appetitlicher aussah, das freilich konnte Anne-Marie nicht feststellen. Sie bekam aber einen heftigen Schrecken, als Llamicha plötzlich auch nach ihrer linken Hand griff, die trockenen Blätter aus der Kalebasse auf die Innenfläche schüttete, ebenso ein Stückchen Holzkohle hinzutat und sie dann nötigte, die beiden Handflächen zu schließen und den Inhalt zu verreiben, so wie sie es getan hatte.

Obwohl Anne-Marie zuerst die Absicht hatte, sich diese Zumutung nicht gefallen zu lassen, und im Bruchteil einer Sekunde auch schon dabei war, die Hand zurückzuziehen, handelte sie doch wie unter einem hypnotischen Zwang und rieb so wie Llamicha die Blütenblätter und die Holzkohle zu einem feinen Staub. Sie verbiß den Schmerz, der ja auch nur eine Sekunde dauerte, und rieb sich, als Llamicha das Zeichen dazu gab, mit dem sonderbar riechenden Pulver das Gesicht und auch noch die Außenseiten der Hände ein. Die Haut des jugendlich runden Gesichts dunkelte jetzt wie ungeschwefelte Zimtrinde, und das Weiße der Augen quoll heraus wie bei einem auf den trockenen Sand geworfenen Fisch.

Anne-Marie stellte fest, daß alle Frauen im Feuerkreis sich die Hände und das Gesicht gepudert hatten. Dem Kaziken war es aufgegeben worden, sein natürliches Gesicht hinter einer abscheulich grinsenden Maske zu verbergen. Die Maske stellte Aña dar, den Gott der ewigen Wandlung des All-Atems von einem Wesen zum anderen Wesen. Und auf ein Zeichen des jetzt von Aña besessenen Zauberpriesters (welchen er »nebenamtlich« darstellte, womit er gegen das für ihn geltende Gesetz der Landesbehörde verstieß) verließ Chanuchuca, begleitet von dem Geklapper der Musikhölzer, den Kreis und hüpfte wie ein Känguruh, aller Kleidungsstücke ledig, zu dem kleinen Feuer auf dem Grab Mayahuas.

Chanuchuca war eine Witwe schon im dritten Jahr. Sie war auch einen Kopf größer als alle die anderen Frauen, die hier am Feuer saßen, hatte einen straff gewölbten Fettbauch und enorme Oberschenkel. Sie war mit Absicht von dem Kaziken als die erste auserwählt, den Atem der verstorbenen Mayahua zu empfangen. Diesem zunächst symbolischen Akt der Empfängnis entsprechend waren auch die Figuren der Tanzbewegung. Es lag eine ungeheuere Wucht in der Drehung dieses zwar massigen, aber nicht unschönen Körpers.

Die Hölzer der beiden Musikanten klapperten den Takt wild und unaufhaltsam. Und in verkrampfter Trance bewegte sich die Frau immer schneller und schneller, bis sie, wie von einem Speerstoß mitten ins Herz getroffen, hinstürzte und jenen Schrei ausstieß, der uns als ein äußerster Ausdruck des Wollustgefühls im Moment der Stillung gilt und der bei den zivilisierten Menschen allerdings eine Ausnahme, bei diesen Naturkindern aber die Regel ist.

An der Tonhöhe und Dauer des Schreies ermißt der Zauberpriester das Resultat der Bereitschaft, den Atem eines abgeschiedenen Menschenwesens zu empfangen und ihm eine neue Hülle zu geben.

Als nach wenigen Minuten Chanuchuca sich wieder erhob, dampfend von Schweiß und noch ein wenig benommen, ließ sie sich eine bittere Frucht von Tamputoca geben und biß gierig hinein. Tamputoca war ihr auch beim Anziehen der paar armseligen Lumpen behilflich. Und auf die Frage: »Wer wird es sein, diese Nacht?« antwortete die Tänzerin: »Es müßte sein Cayrú … ich werde mich aber zu Pava legen.«

Der Kazike gab jetzt Llamicha das Zeichen, sich im Tanz dem ohne Wohnung umherirrenden Atem zu öffnen. Sie hatte nichts an ihrem Körper, was man als reizvoll hätte bezeichnen können. Sie stampfte wild auf, aber es war nichts Beschwingtes in ihren Bewegungen. Die »Augen des großes Geistes«, die für uns so unsichtbar sind wie die Sterne am hellichten Tage, schienen wenig Freude an dem Tanz der Llamicha zu finden, wenigstens konnte man das aus den Gebärden des Kaziken entnehmen. Er gab der »Musik« ein Zeichen, die Tänzerin feurig zu machen und die Bewegungen wilder und aufreizender.

Das tierische Stöhnen, das dem weitaufgerissenen Mund der schon halb bewußtlosen Llamicha endlich entfuhr, ging Anne-Marie durch Mark und Bein. Mit einem wehklagenden Schrei endete dieser Tanz. Und nach dem Zeichen zu urteilen, das der Kazike dem Yamacinto gab, war der Atem der Verstorbenen noch immer nicht erlöst von der Einsamkeit, in die sie der Tod hineingestoßen hatte. Ein ferner Donner erschütterte den Himmel. Die Gesichter der guten Geister verfinsterten sich. Durch den Mund der Eulenmutter gaben sie ihr Mißfallen kund.

Der Kazike wählte jetzt zwischen Tamputoca und Muchimoa. Er entschied sich für Tamputoca. Sie trug das Zeichen Orions um den Hals. Die Knospen ihrer Brüste waren schneeweiß geschminkt und spitz wie ein Dorn. Die aphrodisische Erregung ließ Funken aus ihren Augen sprühen.

In dem Augenblick, als der Kazike die Hand hob und ihr das Zeichen geben wollte zu beginnen, sprang Anne-Marie wie eine Besessene hoch und schrie: »Ich will tanzen und nicht du! Ich will!« und schob die verdutzte India beiseite.

Niemand von den Leuten, die um das Feuer herumsaßen, fuhr empor, um Tamputoca beizustehn. Und es schien beinahe so, als hätten sie diesen unerhörten Moment, trotz seiner Ungewöhnlichkeit, längst erwartet. Niemand hinderte Anne-Marie daran, daß sie sich die Kleider vom Leibe riß und sich dorthin begab, wo die beiden anderen Frauen den Tanz zelebriert hatten.

Der weiße, schmale Mädchenleib mit dem dunkelgefärbten Gesicht wirkte auf die indianischen Leute wie eine von den Göttern herbeigeführte Erscheinung. Auf und nieder beugte sich der geschmeidige Körper, begrellt von der tiefroten Glut des Feuers. Die Beine hetzten sich in einen Wirbel, aufgereizt durch das »Tschu … Tschu … Tschu« der Männerstimmen und das schrille Grillengezirp der Frauen. Die Musikhölzer jagten mit ihrem Geklapper den Wind auf, der in das Feuer blies und die Funkenschwärme bis in das Geäst der Bäume hinaufflattern ließ.

Doch bis zu jenem Höhepunkt, der den Tänzerinnen den tödlichen Schrei aus dem Blut reißen muß, so daß sie auf die Erde stürzen, dampfend von den Zuckungen des Krampfes, die das Mysterium der Empfängnis darstellen … kam es nicht.

Auf der Suche nach Anne-Marie, die schon seit drei Stunden im Hause vermißt wurde, betrat Friedrich Coßmann, begleitet von Pedro, denn Heinrich Coßmann und der andere Peon waren in der entgegengesetzten Richtung unterwegs, um das Mädchen zu suchen, diese seltsame Szene. Es geschah aber nichts weiter, als daß der Vater, nachdem er die Tochter erkannt und das für ihn zunächst Unfaßbare begriffen hatte, langsam auf die Tanzende zuging und sie laut mit Namen anrief.

Mit einem herzzerbrechenden Weinkrampf brach Anne-Marie zusammen. Sie erwachte erst daraus, als die Mutter an der schmalen Bettstatt saß und immer noch keine Worte finden konnte für das, was geschehen war, obwohl doch nun eine Nacht und beinahe auch noch ein Tag darüber vergangen war.

Gegen Abend kam auch Friedrich Coßmann in die Schlafkammer und setzte sich an das Bett der Tochter. Sie war wach und fürchtete, daß jetzt harte Worte auf sie niederprasseln würden. Aber der Vater nahm sich sehr zusammen. Das merkte sie an der Bewegung seiner Mundwinkel. Er nahm schließlich ihre beiden Hände und fragte mit einer beinahe zärtlich klingenden Stimme:

»Ist dir etwas geschehen, Tochter? Verstehe mich richtig, hat jemand von den indianischen Leuten deinen Leib berührt?«

Sie schüttelte den Kopf und sah ihm voll ins Gesicht und in die Augen hinein, die sie beinahe körperlich fühlte.

»Und Cayrú … auch der nicht?« forschte der Vater dann weiter.

»Er hat so ruhig neben mir gesessen wie auf der anderen Seite die Llamicha, das ist jene Frau, die bei uns in der Baumwolle war. Frage die … und sie wird dir das gleiche antworten müssen.«

Eine dünne Träne glitzerte auf Anne-Maries Wange.

»Du wirst aber doch einsehen müssen, Kind, daß es nicht richtig war, wie du dich bei den Menschen, die uns doch so entsetzlich fremd sind, gestern nacht benommen hast?«

»Ich habe nichts getan, dessen ich mich jetzt schämen müßte«, antwortete Anne-Marie, ohne dem Blick des Vaters auszuweichen.

Vielleicht hatte der Vater nun doch noch einen schärferen Ton anschlagen wollen. Aber Anne-Marie ließ noch mehr Tränen über die Wangen rollen. Und ihre schmalen, feinen Hände fingen an zu zittern. Friedrich Coßmann ließ sie los, und wie zwei weiße Blumenblätter fielen sie auseinander.

Inzwischen war es dunkel geworden; Muttchen kam herein, zündete die kleine Lampe auf dem Nachttisch an und sagte, als sie bekümmert das verweinte Gesicht der Tochter sah: »Ich habe dir einen Fruchtsalat gemacht, Kind. Willst du ihn jetzt schon essen oder erst nach der Suppe?«

»Ich möchte jetzt schlafen!« sagte Anne-Marie und drehte sich herum.

Als die beiden Eltern nachher auf der Veranda saßen und auf Onkel Heinrich warteten, der jetzt wieder auf der Suche nach der Spur des schwarzen Pumas war, sagte die Mutter zu Friedrich Coßmann: »Du hättest gut auch noch bis morgen warten können mit dem Verhör, Mann!«

Er hob die Schultern und sagte: »Vielleicht, Frau. Hier in der Wildnis hat man die Übung fast verloren, mit Kindern umzugehen.«

»Ein Kind, lieber Mann, ist unsere Tochter wohl nicht mehr, aber immer noch verspielt. Ich sehe die Sache jetzt als ein Spiel an. Und was man tun muß, wird sein, daß man sich nach einem jungen Mädchen umtut, das gegen Kost und Logis Anne-Marie Gesellschaft leisten kann. Wir wollten uns ja sowieso noch eine Hilfe ins Haus nehmen. Vielleicht findest du jemand bei den ärmeren Kolonisten. Nicht wahr?«

»Es wird mir vorher noch manches durch den Kopf gehen müssen, Frau«, antwortete Friedrich Coßmann und fuhr sich über die Stirn.


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