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XXXII

An dem Tage, als Cayrú den Korb mit Krebsen zu Coßmanns brachte, lag Anne-Marie mit leichtem Fieber zu Bett. Sie hörte jedoch jedes Wort von dem, was ihr Vater und der junge Indio miteinander sprachen. Als sie einmal den Versuch machte, sich zu erheben, um sich anzuziehen und auf die Veranda zu gehen, drückte sie ein leichter Schwindelanfall wieder in die Kissen zurück.

»Ja … mein Lieber …«, sagte Friedrich Coßmann zu Cayrú. »Das sind wirklich Prachtkerle von Krebsen, die du uns da heute gebracht hast. Solche Biester hat man schon lange nicht mehr gesehen. Und du hast sie allein gefangen, extra für uns?«

»Man hat die kleineren ins Dorf gebracht, und die großen sind für euch. Das wollte meine Mutter so.«

»Was wird man dir nun dafür geben müssen? Bargeld ist bei uns leider knapp geworden. Wollt ihr Batatas? Oder soll ich dir Mandioka geben? Du kannst auch schwarze Bohnen haben, das ist doch eure Leibspeise, nicht wahr?«

»Man wird uns geben, was dem Patrón gefällt.«

»Bueno! Dann werde ich dir diesen Korb hier mit Batatas voll machen und auch noch ein paar Zwiebeln hinzutun und ein Säckchen Bohnen, damit du das Wiederkommen nicht vergißt.«

»Man wird nehmen, was der Patrón gibt.«

»Und was hast du da noch in dem anderen Korb? Noch mehr Krebse? Oder Fische?« fragte Friedrich Coßmann. »Wenn sie nicht für einen anderen Abnehmer bestimmt sind, dann kannst du sie ruhig hierlassen. An Krebsen kann man sich nicht so leicht überessen.«

»Das sein nicht Krebse. Das sein Federn vom weißen Vogel.«

»Von einem weißen Vogel? Von solchen Vögeln, die im Schilf stehen und Fische fressen? Laß doch mal sehen.«

Cayrú öffnete den Bastkorb und hob zwei Bündel schneeweißer Reiherfedern heraus, sauber in trockene Blätter gehüllt.

»Natürlich, das sind Reiherfedern, mein Junge! Die hast du gesammelt?«

»Man hat nicht viel auf der Insel finden können. Man wird nach dem anderen Ufer fahren. Dort sein viele weiße Vögel in den Bäumen.«

Friedrich Coßmann öffnete ein Bündel und ließ einzelne von den Federrispen durch seine Finger gleiten. Dann schnürte er das Bündel wieder zu und legte es in den Korb zurück. Darauf fragte er Cayrú: »Du hast wohl einen festen Abnehmer für die Federn? Im Dorf?«

»Diese Federn sein für die Patronita hier auf dem Hof.«

»Wie … du meinst: für meine Tochter?«

Cayrú nickte und legte die Federn auf den Tisch der Veranda.

Friedrich Coßmann fragte weiter: »Hat meine Tochter dir den Auftrag gegeben, nach diesen Federn zu suchen und sie herzubringen?«

»Die Patronita hat zu mir gesagt: Man möchte die Federn brauchen. Ich soll bringen.«

Wieder nach einer langen Weile der Überlegung sagte Friedrich Coßmann zu Cayrú und legte ihm die Hand auf die Schulter: »Vielleicht hat meine Tochter das nur zum Spaß gesagt. Und es ist sehr nett von dir, daß du ihr auch die Freude gemacht und die Federn besorgt hast. Aber umsonst können wir das von dir nicht verlangen, denn du hast sicher viel Mühe damit gehabt. Diese Federn sind sehr kostbar, weißt du das auch? Man wird dir eine entsprechende Belohnung dafür geben.«

»Es soll sein ein Geschenk für die Doñita«, antwortete Cayrú so unbewegt, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Dabei schlug sein Herz so laut, als hätte er einen Baum mit großer Mühe erklettert, um ein Bündel Orchideen herunterzuholen. Er wußte nicht, wo Anne-Marie sich aufhielt, aber er witterte ihre Nähe.

»Es ist sehr aufmerksam von dir!« sagte Coßmann und merkte nichts davon, in welcher Erregung Cayrú sich befand. Eigentlich hätte er es schon an den Augen sehen müssen, die das Fieber immer größer und flimmernder machte. Welchem weißen Mann aber sind die Indios schon so nahe gekommen, daß er die Bewegungen und Äußerungen ihrer Gefühle an äußeren Merkmalen erkennt? Dabei hatte Friedrich Coßmann sich viel und intensiv mit den indianischen Leuten abgegeben und war auch immer guten Willens, sie zu verstehen und ihre Besonderheiten zu begreifen. Er sah auf die beiden Päckchen, die auf dem Tisch lagen, und sagte zu Cayrú: »Eine Frage noch, Cayrú, bevor ich die Federn für meine Tochter annehme. Hast du die Vögel gejagt, totgeschlagen und die Federn abgerupft? Ich meine: Wie bist du dazu gekommen? Kannst es mir ruhig sagen. Nun?«

»Man hat sie aufgehoben, dort, wo die weißen Vögel ihre Nester haben. Man darf weiße Vögel nicht totschlagen.«

»Das zu hören, freut mich, Cayrú! Wahrscheinlich weißt du es, daß es bald keine Reiher mehr geben wird, hier in dieser Gegend, wenn das mit dem Raub so weitergeht. Nur dieser paar Federn wegen schießt man die Reiher nicht weg und macht auch das Brutgeschäft zuschanden.«

»Dort, wo die weißen Vögel Nester auf dem Baum haben, kommen die weißen Leute nicht hin.«

»Eines Tages werden sie auch auf die Insel kommen und die Brutplätze zerstören. Daß es nicht schon geschehen ist, wundert mich, denn das Schiff kommt alle vierzehn Tage an der Insel vorüber und nahe genug, um zu sehen, was es dort alles gibt.«

Cayrú schüttelte den Kopf und sagte: »Man kann die Bäume mit den weißen Vögeln nicht sehen; man muß lange suchen, um sie zu finden. Ich auch viel gesucht.«

»Also gut, ich werde diese Federn für meine Tochter annehmen; aber um damit zu spielen, sind sie mir nun doch zu schade. Man wird sie zu Geld machen. Ich weiß jemand, der sie uns gern abkauft. Willst du mir nun versprechen, daß du es keinem anderen sagst, wo die Federn zu finden sind? Gut. Immer, wenn du ein Bündelchen Federn zusammenhast, bringst du sie zu mir. Und ich kaufe sie dir so ab, wie ich dir die Krebse abkaufte. Natürlich sind die Federn wertvoller als Krebse. Dementsprechend wird auch dein Lohn sein.«

»Man wird auf den Hof bringen alles, was man findet.«

»Zeit hast du jetzt auch, nicht wahr?«

»Es ist viel Zeit bis zur nächsten Ernte in der Baumwolle.«

»Nicht so lange mehr brauchst du zu warten, daß man dir hier auf dem Hof wieder Arbeit gibt. Gedulde dich noch sechs, acht Wochen.«

»Und wenn ich wieder auf dem Hof sein werde … man wird mich nicht schlagen, Patrón?«

»Vergeben und vergessen, mein Junge! Und du mußt auch vergessen.«

»Es wird sein, wie der Patrón will«, antwortete Cayrú mit einer Treuherzigkeit, die Friedrich Coßmann naheging.

Und Friedrich Coßmann blieb, als Cayrú mit den beiden leeren Körben schon auf dem Wege nach seiner Hütte war, noch eine ganze Zeit in Gedanken über diesen Burschen. Er dachte: Es sind doch sonderbare Naturen, diese Menschen, die hier zu Hause sind und doch keine eigentliche Heimat haben. Wir hingegen leben immerhin in der Möglichkeit, dorthin zurückzugehen, woher wir kamen. Diese armen Hunde aber müssen bleiben. Und wissen doch nicht wohin, wenn die Wälder nicht mehr sein werden, in die sie sich noch immer flüchten können … Ich werde mich doch etwas mehr um den jungen Menschen kümmern müssen. Vielleicht wird man ihm das Lesen und Schreiben beibringen. Aber wer soll sich dieser Mühe unterziehen? Die nächste Schule ist elf Stunden von hier entfernt. Und an den Sonntagen hier? Der Heinrich oder ich? Woher die Zeit dafür nehmen?

Mariechen könnte das versuchen. Aber auch das ist wieder ein Problem und muß erst gelöst werden …

Als Friedrich Coßmann auf den Hof hinaussah, schaukelte gerade der Peon Pedro vorüber mit einem zu einer Wagendeichsel verarbeiteten Baumstamm. Das Holz sah hellbraun wie Zimt aus. Es war aber nicht von einem Zimtbaum, der hat zitronengelbes Holz, sondern es stammte von einer Zeder. Das Gesicht Pedros glänzte von Zufriedenheit und Sonne. Es hatte die gleiche Farbe wie das Holz, war aber nicht trocken, sondern ölig.

Dieser nach vorn gekrümmte Mann war nur ein halber Indianer. Wahrscheinlich war die andere, die nicht indianische Hälfte, vom Vater her schon vielfach gemischt. In der nächsten oder übernächsten Generation wird das Indianische nicht mehr vorhanden sein. Dann sind die Kindeskinder schon Advokaten oder Offiziere des Landes geworden, Mitglieder jener Herrschaften, die sich noch amerikanischer vorkommen als die wildesten Yankees.

Das müßte wohl auch der Weg sein, dachte Coßmann weiter nach, den dieser Cayrú einzuschlagen hätte, wenn er wirklich von dem alten Spuk seiner Rasse loskommen wollte. Anpassung!

Am späten Nachmittag stand Anne-Marie auf, nahm ein Bad und sagte zu Muttchen: »Nun bin ich wieder gesund wie ein Fisch. Vielleicht war ich gar nicht einmal krank, sondern nur schrecklich müde. Meinst du nicht auch?«

»Beides zusammen: müde und krank. Und das macht mir Sorgen, Kind. Denn als ich in deinem Alter war, habe ich noch nicht so gelitten wie du jetzt. Bei mir fing es viel später an. Aber wir leben ja jetzt hier, wo es Bäume gibt, die dreimal im Jahr blühen, und Kartoffeln geerntet werden, wovon drei Stück auf ein Kilo gehen. Und dann werden hier ja auch die Menschen, die indianischen allerdings nur, noch einmal so alt als in Europa. Manche sollen bis zu hundertzwanzig Jahren alt werden. Ob es aber stimmt … wer will das wissen? Wahrscheinlich haben die Leute eine andere Art, Jahre zusammenzuzählen. Mit den Fingern rechnen ja auch unsere Peone noch.«

»Die Indios werden schon wissen, wie alt sie sind«, antwortete Anne-Marie. »Wenn ich wieder einmal die Mutter Cayrús sehe, dann werde ich sie fragen, wie alt sie eigentlich ist. So an die Siebzig wird sie wohl schon sein, nicht wahr?«

»No, mein Kind, noch nicht vierzig.«

»Aber sie sieht doch alt aus wie eine richtige Großmutter.«

»Das meinen wir nur. Indianerinnen altern sehr schnell und bleiben eine lange Zeit darin. Und solltest du die Frau nach ihrem Alter fragen … ich glaube, das wird sie dir gar nicht sagen können. Wie lange sie schon hier auf der Erde lebt, das interessiert sie gar nicht. Und ebenso macht sie sich auch keine Gedanken darüber, wie lange sie noch zu leben hat. Das Sterben liegt weit von ihren Gedanken entfernt. Sie kommen und gehen, sie fragen nicht woher, sie fragen nicht wohin, sie sind da, oder wie sie sagen: Ich befinde mich hier! Und dieses Sich-hier-Befinden genügt ihnen.«

Anne-Marie hielt eine Orange in der Hand und hatte die Absicht, sie aus der Schale zu lösen. Sie zögerte aber noch, weil ihre Gedanken nicht bei der Sache waren, sondern bei Cayrú, dessen Stimme in ihrem Ohr noch Wohnung hatte. Sie bewegte tonlos die Lippen, die jenem blaßroten Oleander glichen, der in einem mächtigen Busch sich im Halbschatten unter einer Pindopalme hin- und herbewegte. Und manchmal, wenn das herrliche Ebenmaß ihres Gesichtes von einem Lichtreflex getroffen wurde, schien es so, als blühten die sanftroten Lippen als Blumenblätter aus dem weißen Kelch der Zähne heraus, so wie jene Art von Malven, die wild im Gras der Barranca wuchern und deren Früchte wie Haselnüsse schmecken.

»Ja …«, sagte Anne-Marie schließlich nach einer Weile, »Cayrú war also hier und hat die Krebse gebracht? Eigentlich hätte er sie schon in der vorigen Woche bringen sollen, als ich es ihm gesagt hatte, daß er hierherkommen soll.«

»Es wird nicht ganz einfach sein, mein Kind, die Tiere zu fangen. Und wie du weißt, war in den letzten Tagen der Fluß so unbeweglich, daß man bis auf den Grund sehen konnte, dafür hat er uns heute auch vier Dutzend gebracht und Riesenkerle noch dazu. Leider haben wir keinen Dill. An Krebse muß Dill heran. So war es bei uns zu Hause Brauch. Aber ich werde Zwiebeln, Lorbeerblätter und roten Pfeffer nehmen.«

»Und nicht die bitteren Orangen vergessen!« sagte Anne-Marie.

»Bittere Orangen an die Krebse? Nanu? Woher hast du denn das?«

»Das hat uns doch die Mutter Cayrús einmal gesagt, als sie uns Krebse brachte. Und ich habe es auch im Busch gesehen, als die beiden Indios Krebse aßen. Sie zerdrückten eine bittere Orange und tauchten in den Saft das Krebsfleisch.«

»Sollen das die Indios tun! Wir haben einen anderen Geschmack, und an den soll man sich halten. Aber wenn du es einmal probieren willst … für dich allein … mir ist es egal, wovon dir übel wird.«

»Es wird mir schon nicht übel werden, Muttchen! Und was ich noch sagen wollte … sonst hat Cayrú weiter nichts mitgebracht?«

»Doch, zwei Päckchen Reiherkronen, schneeweiße und wie Seide. Ich weiß nicht, wo Vati sie hingelegt hat. Er wird sie dir ja heute abend zeigen. So sagte er wenigstens, als er mit Onkel Heinrich in den Wald ging, um nachzusehen, was die beiden Indios treiben. In der nächsten Woche wird man die Bäumchen holen und einpflanzen. Es werden über fünfhundert Stück sein.«

»Ich möchte auch noch ein wenig im Busch spazierengehen«, sagte Anne-Marie. »Oder muß ich in der Küche helfen?«

»Wenn du meinst, daß dir das Herumgehen im Busch jetzt guttut … meinetwegen versuch es! Aber nicht länger als eine Stunde. Du hast immer noch etwas Fieber. Man sieht es deinen Augen an. Du mußt dich noch in acht nehmen.« Ein minutenlanges Schweigen folgte. Anne-Marie verspürte es mit Unbehagen. Sie hatte etwas sagen wollen, um die Bedenken der Mutter zu zerstreuen, aber sie verspürte einen Knoten im Hals. Es war ein Anflug von Ärger in ihrem Blut, darüber, daß sie die Federn, die Cayrú gebracht hatte, jetzt nicht sehen konnte.

Schließlich hatte sich der Knoten wieder gelöst. Anne-Marie gab Muttchen einen Kuß auf die Stirn und sagte: »Ich gehe nur bis zum Fluß. Und bei dieser Gelegenheit werde ich auch gleich nachsehen, ob mein Boot wieder Wasser gezogen hat.«

»Aber setz dich um des Himmels willen nicht hinein, mein Kind! Auf dem Wasser ist es jetzt viel zu kühl für dich, und das Rudern wird dir erst recht nicht guttun.«

Anne-Marie steckte den Kopf in die Öffnung des blauen Ponchos und ließ die vier Zipfel herunterfallen. Das intensive Blau gab ihrem Gesicht eine krankhafte Blässe, das mußte sie sich selber sagen, als sie kurz in den Spiegel hineinsah.

»Laß nur, in ein paar Tagen werde ich wieder braun wie Zimt sein und wie eine Criolla aussehen!« sagte sie lächelnd zu Muttchen, die die Szene im Spiegel beobachtet hatte und den Kopf schüttelte.

 

Mit tänzerisch wiegenden Hüften, wie ein junges Guanako, spazierte Anne-Marie den schmalen Pfad zum Wasser hinab. Ein Duft von Oleander und Kamelien kam ihr mit einem warmen Anhauch entgegen. Die rotweißen Laubfrösche hatten ihre Glockenspiele in die unteren Äste der Bäume gehängt, und der Erdfrosch schlug dazu das Xylophon, die Grünlinge im Rohr flöteten wie nie – oder war es so, daß Anne-Marie heute für die Musik empfänglicher war als sonst? Jedenfalls war sie gar nicht erstaunt darüber, daß Cayrú unter der Agave hockte und nach der Insel hinüberstarrte, als erwarte er ihr Kommen von dorther.

Anscheinend hatte er ihr Nahen nicht gehört. Er erschrak heftig, als sie die Fingerspitzen in seine Schulter bohrte. Die Grimasse, zu der sein Gesicht entstellt war, reizte Anne-Marie dazu, laut aufzulachen.

»Mein Gott, was machst du bloß für ein komisches Gesicht! Wie ein Frosch, wenn ihm gleich zwei Fliegen auf einmal ins Maul fliegen.«

»Es ist auch nicht mein Gesicht!« antwortete Cayrú, ohne sich zu bewegen.

»Aber ganz gewiß ist es dein Gesicht. Immer noch. Oder denkst du, ich habe Angst davor? Im Gegenteil, ich finde es spaßig, dieses Froschgesicht«, lachte Anne-Marie. Nach wenigen Sekunden aber wischte sie das Lachen fort und dachte bei sich: Was mag das bloß sein, was er meint? Man kann sich doch nicht ein fremdes Gesicht zulegen, so wie man sich eine Maske vorbindet?! Das ist doch Unsinn. Oder kann Unsinn auch einen Sinn haben? Bei den Indios ist natürlich alles möglich. Aber ich verstehe es noch nicht. Als sie sich wieder zu Cayrú hindrehte, hatte die Grimasse keinen Raum mehr in seinem Gesicht. Es war wieder der ruhige Ernst darin. Und als Anne-Marie auf den Fluß zeigte, vielmehr auf die Insel und auf die davor hingebreitete Sandbank, die wie ein riesiger Fisch mit silbernen Schuppen dalag und so intensiv flimmerte, daß man die Augen bald wieder abwenden mußte, war das Gesicht Cayrús sogar um eine Wenigkeit heller geworden, verklärt von einem sinnlichen Glück.

»Ich habe gewußt, daß du kommen wirst, heute …«, sagte er. Und es war keine leere Redensart. Denn als er nach dem Gespräch mit Friedrich Coßmann den Hof verlassen hatte, ohne Anne-Marie gesehen zu haben, war die Traurigkeit groß in seinem Herzen. Er hatte die Körbe zur Hütte gebracht und schickte sich an, an der Bastmatte zu flechten. Nach wenigen Minuten aber mußte er feststellen, daß seine Finger heute viel zu steif waren, um mit den feinen Schnüren so umzugehen, wie es für die schwierige Arbeit des Hineinflechtens der Farben zu einem Muster notwendig war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Arbeit wieder fortzulegen. Er überlegte sodann, ob es nicht besser wäre, nach der Insel hinüberzurudern und nach Reiherfedern zu suchen. Auch diesen Plan verwarf er in dem Augenblick, als er schon dabei war, das Kanu flottzumachen. Es war nicht einmal die Möglichkeit eines heraufkommenden Wetters, was ihn davon abgehalten hatte, nach der Insel zu fahren. Es war die Unruhe in seinem Blut, die seine Gedanken wirr machte wie in einem Fieber. Ströme von außen drängten heran und suchten Verbindung. Es knisterte in der Antenne seines Gehirns immer heftiger … bis jener geheimnisvolle Kräftekreis sich endlich schloß.

Anne-Marie spricht mit mir, sagte er sich, befreit von dem Druck der Fehlzündungen. Sie teilt mir mit, daß wir uns treffen werden, dort, wo alle unsere Gedanken am liebsten zu Hause sind …

So geschah es, daß er zur Agave ging und auf das wirkliche Kommen Anne-Maries sich vorbereitete. Und so war es, wie gesagt, auch keine Übertreibung, als er Anne-Marie antwortete, daß er sie hier erwartet habe und daß ihr Kommen ihm gewiß gewesen sei.

»Es hätte ebensogut aber auch sein können, daß ich zu Hause geblieben wäre, wenn man mich nicht fortgelassen hätte. Ich war krank, mußt du wissen. Und vielleicht ist mir nur deshalb so schnell besser geworden, weil ich deine Stimme hörte. Und weil mir besser wurde, konnte ich schließlich auch aufstehn.«

»Du bist aufgestanden, weil ich dich gesund gemacht habe«, sagte Cayrú mit einem sonderbaren Tonfall.

»Du willst damit sagen, Cayrú, nur weil du an mich so stark gedacht hast, bin ich gesund geworden? Das kann ich nicht gut glauben, daß man so etwas vermag. Nicht du und niemand wird es können. Gesund wird man, wenn man Medizin nimmt. Ich habe Tropfen genommen und auch noch Tee getrunken, den deine Mutter uns gebracht hat.«

»Du hast aber doch eben gesagt, daß meine Stimme zu dir kam und daß meine Stimme dich gesund gemacht hat.«

»Es kann natürlich auch so sein, wie du sagst, Cayrú! Wir kennen uns doch schon so lange; und ich kenne mich noch immer nicht aus in den vielen Dingen, die du treibst.«

»Es ist so, wie ich gesagt habe«, antwortete Cayrú. Und die blinkenden Blutsteine seiner Augen bohrten sich in das weiße Gesicht Anne-Maries hinein. Sie erschrak vor diesem Blick, den sie in solch einem Feuer zum erstenmal wahrnahm.

Und noch heftiger erschrak Anne-Marie, als Cayrú sagte: »Ich will mich jetzt üben, eure Zeichen zu verstehen. Ich will diese Zeichen schreiben und lesen. Zeige mir jetzt, wie du schreibst: ›Anne-Marie‹, und ich werde dann auch schreiben: ›Anne-Marie‹.«

Anne-Marie handelte wie unter einem Zwang, als sie sich zur Erde hinunterbückte, den Sand glattstrich und mit dem spitzen Zeigefinger die Buchstaben hineinschrieb: »ANNE MARIE«. Und dann jeden Buchstaben einzeln bezeichnete und den Zusammenhang wiederholte: »ANNE MARIE« Nun versuchte es auch Cayrú mit dem Schreiben, in der gleichen Weise wie Anne-Marie mit dem Zeigefinger. Und es gelang ihm auch. Und so wie Anne-Marie vorher, buchstabierte er, ein wenig unbeholfen noch: »ANNE MARIE.«

Eigentlich hätte Anne-Marie sich jetzt freuen müssen über die Geschicklichkeit Cayrús, die Buchstaben zu malen und zu lesen. Es kam ihr jedoch unheimlich vor, wie schnell dieser Mensch das alles begriff, was ihm so lange fremd gewesen war.

Cayrú sagte: »Du wirst mir noch mehr von solchen Zeichen aufschreiben, und ich werde sie nachschreiben. Aber nicht hier auf dem Sand, sondern so, wie der Patrón schreibt. Und das wird sein, wenn wir auf der Insel wohnen.«

Er setzte sich wieder auf den Stein und betastete den Zeigefinger, mit dem er den Namen »ANNE MARIE« geschrieben hatte. Und buchstabierend flüsterte er den Namen. Anne-Marie wußte nicht, wie es eigentlich geschehen war, daß ihre Lippen und Zähne sich in das Gesicht Cayrús hineingedrängt hatten, ohne daß dieses Drängen von der anderen Seite so erwidert wurde, wie sie es begehrte. Sie schmeckte nur den äußeren Rand der Lippen Cayrús und fühlte das leise Gestreichel seiner Hände auf ihrem feuchten Haar.

Ihre Augen starrten über das Wasser hin. Der Fluß glich einer hellgrünen Maiwiese in seiner Wellenlosigkeit, beschienen von der ihren baldigen Untergang schon verspürenden Sonne.

Smaragdgrün mit einem leichten violetten Hauch war auch die Farbe des Himmels. Der anfängliche Geruch im Busch, von Zimt und Oleander, war jetzt dem schwereren gewichen, dem des tropischen Jasmins, der das Blut reizte und quälte.

Und so, wie Anne-Marie nicht wußte (und auch bei späterem Nachdenken nicht dahinterkam), wie es sich vorbereitet hatte, daß ihr Mund plötzlich und mit aller Leidenschaft sich in das Gesicht Cayrús hineingedrängt hatte und es mit wilden Zärtlichkeiten bedeckte … so unverhofft und ohne Vorbereitung riß sie sich wieder los, strich sich das Haar glatt und löschte mit den Füßen die Schrift am Boden wieder aus.

Zuletzt sagte sie, mit einem völlig veränderten Tonfall in der Stimme: »Ich glaube, meine Mutter hat gerufen. Ich muß fort. Und denk auch an mein Federkleid …!«

Wie ein großer Schmetterling huschte sie, mit den wehenden Zipfeln des Ponchos hinter sich her, durch den Busch.

Die Erregung, die an den Nerven des dahockenden Cayrú zerrte und riß, wurde von den in den Sand hinunterstarrenden Augen des jungen Menschen schließlich erstickt. Er bückte sich hinunter, bestrich sich den Zeigefinger ein paarmal mit Speichel und schrieb »ANNE MARIE«.

Das stille Lächeln in seinem Gesicht war größer und beseligter als der ungeheuere Aufwand, den der Himmel verschwendete, um die Sonne, die heißgeliebte Sonne, zu verabschieden.


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