Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII

Ein Sommer war darüber hingegangen, daß Cayrú Tag für Tag auf der Barranca im Kraut lag und wartete. Und als der zweite Sommer begann, lag er wieder da und wartete. Es war kein anderer Trieb mehr in ihm, als zu warten.

Er hätte Krebse fischen können; denn inzwischen hatte er erfahren, was seine Mutter auf den moosgrünen Steinen an den Rändern der Bai trieb. Er hätte ihr die Arbeit längst schon abnehmen müssen. Er war gelenkiger als sie und gewiß auch viel stärker. Ihm würde es besser angestanden haben, die schweren Steine aus dem Wasser heraufzuheben und in den Löchern des Schlammgrundes nach den Krebsen zu suchen.

Die Mutter aber wollte es um keinen Preis. Vielleicht hatte sie einen guten Grund dafür, vorläufig noch selber die Arbeit zu machen. Cayrú fragte nicht lange: warum und wieso? Die Mutter litt es nicht, daß er fischen ging, und damit war es für ihn abgetan.

Als er wieder einmal auf der Barranca lag und einer Vogelspinne zusah, wie sie ein Kolibri-Nest zu umzwirnen trachtete, Faden um Faden zog, zuerst in einem weiten Bogen und dann in immer engeren Kreisen und schon die Astgabel berührte, an der das Nest hing, riß er einen Schachtelhalmstiel aus und jagte die große, rote Spinne zurück, so vorsichtig, daß die jungen Vögel aus ihrer warmen Nestruhe nicht aufgescheucht wurden. Die Spinne flog im Bogen. Und als Cayrú sich jetzt umdrehte, um nachzuschauen, wohin das Insekt wohl fallen würde, sah er mitten in Mariechens Gesicht hinein. Sie hatte ihn im Kraut hocken sehen und beobachtet, was er tat. Und jetzt sah sie ihn groß an, und das Blaue in ihren Augen wurde immer dunkler. Schließlich streckte sie die Hand vor und sagte:

»Komm!«

Und so, wie man zu einem auf das Wort dressierten Hund sagt: »Komm!« und der Hund auf das Wort folgt, ging er jetzt mit ihr, bog die scharfen Ranken der wilden Rebe beiseite, die ihr das Haar zausen wollten und das Gesicht zu zerfetzen drohten.

Es fiel auch kein Wort mehr, bis zu jener Stelle, wo das Kanu angebunden im Wasser lag. Erst als sie den Baststrick vom Baum löste und in das Kanu sprang, sagte sie wieder: »Komm!«

Er reichte ihr die Paddel hin, stieß das Kanu ab und ließ die dünnen biegsamen Blätter durch das Wasser gleiten. Er wollte den Weg geradeaus zur Insel rudern.

»Nein!« befahl das Mädchen, »zur Bucht.«

Cayrú steuerte nach links in die Bai hinein, in das Revier der Krebsfischerei, in das wirre Geschling von Binsen, Schilf, Rohr und Wasserrosen. Und dorthin, wo eine Mimose vom Ufer weit überhing mit einem fast waagerecht daliegenden Stamm, in unmittelbarer Nähe der Rohrhütte Mayahuas, seiner Mutter, zeigte das Mädchen mit dem spitzen Finger, dort solle er anlegen.

»Binde jetzt das Boot fest, Cayrú! Wir wollen aber nicht aussteigen, sondern im Boot sitzen bleiben.«

Seine Hände rührten sich so, wie das Mädchen befahl. Sie drehte sich jetzt herum, saß ihm gegenüber und sah ihn wieder mit den großen, blauen Augen an.

Als sein forschender Blick ihren Mund traf, um einen neuen Befehl aufzufangen, sah er, daß sie die Lippen jäh zusammenbiß und das Wort, das sie hatte sagen wollen, nicht herausließ.

Erst nach einer Weile stieß sie das Kinn vor und sagte: »Du … nun erzähl mir schnell die Geschichte von den Aras, die sich eines schönen Tages in Indianer verwandelt hatten.«

»Ich weiß nichts mehr von dieser Geschichte. Habe sie vergessen …«

»Dann ist diese Geschichte auch keine Wahrheit gewesen, und ihr alle stammt also doch von den Affen ab und nicht von den Aras. Und der Onkel Heinrich hat also recht behalten.«

»Vielleicht stammen wir auch von den Affen ab.«

»Ich will aber nicht, daß du von den Affen abstammst!«

»Ich weiß eine schöne Leyenda von diesen Affen. Vielleicht möchtest du die Geschichte hören. Es ist schon lange her, daß ich dir die Geschichte erzählt habe.«

»Von wem überhaupt weißt du alle diese schönen Geschichten? Du hast keine Geschichtenbücher, und wenn du sie hättest, könntest du nicht darin lesen. Du bist ein Dummerjan!«

»Meine Mutter erzählt mir die Märchen …«

»Deine Mutter …? Und weshalb bringt deine Mutter keine Krebse mehr?«

»Meine Mutter sagt: Dein Vater will von uns keine Krebse.«

»Ich möchte aber wieder Krebse essen, ganz große.«

»Soll ich dir Krebse fangen? Hier in diesem Wasser sind die großen Krebse.«

»Ich werde erst meine Mutter fragen, ob du mir Krebse fangen darfst. Jetzt aber mußt du mir schnell das Affenmärchen erzählen.«

»Es ist eine sehr lange Geschichte; vielleicht wirst du müde davon werden und einschlafen.«

»Viel Zeit habe ich ja auch nicht. Wenn es elf Uhr ist, kommen unsere Leute vom Feld zurück, und dann muß ich zu Hause sein.«

»Du bist böse mit mir, Muñeca?«

»Vielleicht muß man böse mit dir sein; genau weiß ich es aber nicht.«

»Dein Gesicht aber weiß es …?«

»Mein Gesicht?«

»Nicht das Gesicht, das du heute hast.«

»Welches Gesicht denn? Ich habe nur das eine.«

»Nein! Manchmal hast du das böse Gesicht.«

»Und wann sahst du dieses böse Gesicht?«

»Damals, als du das erstemal allein nach der Insel gerudert bist, sah ich das böse Gesicht.«

»Ja … damals … da sah ich dich auch …«

»Du sahst mich …?«

»Ich sah dich in deinem Versteck hinter der Agave, und ich sagte dir auch guten Tag.«

»Ich habe nicht gehört, daß du mir einen guten Tag gewünscht hast, damals, an der Stelle; wo du dich schnell weggedreht hast.«

»Wenn du nach meinem Mund gesehen hättest … dann würdest du auch den guten Tag gehört haben.«

»Ich sah deinen Mund. Und dein Mund war böse.«

»Nein … sieh lieber nicht mehr so genau hin nach meinem Mund.«

»Auch jetzt nicht, Muñeca?«

»Du darfst auch nicht mehr Muñeca zu mir sagen.«

»Ich kann aber das andere Wort, womit sie dich zu Hause rufen, nicht aussprechen.«

»Nein … auch nicht mehr Mariechen darfst du zu mir sagen, selbst wenn du den Namen endlich auszusprechen vermöchtest. Ich heiße jetzt nämlich Anne-Marie. Weil ich schon erwachsen bin, sagt meine Mutter.«

Cayrú bewegte die Lippen und versuchte den Namen Anne-Marie auszusprechen. Das Mädchen sah, wie er sich abmühte. Sie buchstabierte ihm den Namen vor: »An … ne … Ma … rie. An … ne … Ma … rie. Verstanden?«

Und wie ein von weit her zurückhallendes Echo kullerte es von den Lippen Cayrús: »Anne … Marie … Anne … Marie …!«

Sie lachte hell auf: »Komisch, wie du das sagst. Aber es geht schon ein wenig. Und wenn du fleißig weiterübst …«

Cayrú freute sich, daß sie mit ihm zufrieden war. Gleich darauf aber sagte er: »Und wann darf ich wieder Muñeca sagen?«

»Wann …? Ja, du … zuerst will ich die Geschichte hören, und wenn sie mir gefällt … ja, dann darfst du … Nein, du darfst noch nicht Muñeca sagen.«

»Ich darf nicht …?«

»Vielleicht darfst du … ich will es aber nicht!«

Das Lächeln seiner schöngeformten, fruchtroten Lippen zerfloß, und die gesenkte Stirn verriet seinen Kummer.

Das Mädchen hatte den jähen Wechsel der Stimmung genau wahrgenommen. Sie berührte mit einem leichten Stoß sein Knie und ließ dazu die Zähne blitzen, kokett wie eine Alte.

Und als er sein Gesicht wieder zu ihr emporhob, befahl sie: »Los, erzähl mir schnell die Geschichte!«

Er, legte die Paddel über kreuz auf seinen Schoß und erzählte Anne-Marie die Legende von dem kleinen Affen Chucuchu, so, wie er sie von seiner Mutter gehört hatte.


 << zurück weiter >>