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XXIV.

Eugen Kamberg war im Duell schwer verwundet worden. Man hatte ihn vom Kampfplatz in eine Dorfschenke gebracht. Dort hatte der Arzt die Kugel entfernt und ihm den ersten Verband angelegt. Auf seinen Wunsch wurde er darauf nach seiner Wohnung überführt. Als er anlangte, war er bewußtlos und konnte dem Mädchen, das den ihm anvertrauten Brief bereits zur Post gegeben, keine Aufträge erteilen. Die Gegenwart Susannes wirkte Wunder. Die Genesung machte schnelle Fortschritte. Kein Wort wurde in den ersten Tagen zwischen den beiden Eheleuten gewechselt, das die Vergangenheit und die mit ihr begrabenen Konflikte berührte. Susanne teilte sich mit der Krankenpflegerin in die Wartung des Kranken, ihm bei ihren Handreichungen unablässig mit zärtlichen, beruhigenden, verheißenden Blicken zulächelnd. Auch er begnügte sich, gelegentlich seine Lippen auf die sanfte, seine Schmerzen lindernde Hand zu drücken und ab und zu ein leises inniges: »Danke!« zu stammeln.

Erst nach einer Woche nahm er ihre Hände zwischen die seinen und entschuldigte sich wegen der Schrecken und der Aufregungen, die er ihr, ohne es zu wollen, verursacht hatte.

»Aber froh bin ich doch,« fügte er mit einem wehmütigen Lächeln hinzu, »daß es so gekommen ist, denn ohne meinen Brief würde ich ja kaum das Glück gehabt haben, dich wiederzusehen.«

Da beugte sie sich mit glänzenden, in tiefster Liebe strahlenden Augen zu ihm hinab und legte ihren Mund an sein Ohr. Und während ihr die Stimme vor innerster Bewegung bebte, flüsterte sie: »Ich wäre auch ohnedies gekommen, wenn auch erst in vier oder in acht oder in zwölf Wochen. Gekommen aber wäre ich, auch wenn du mich nicht gerufen hättest, von ganz allein, nicht aus Mitleid –« Als sie verschämt stockte, machte er eine lebhafte Bewegung mit seinem Kopf, und ihre Lippen fanden sich zum erstenmal wieder zu einem innigen Liebeskuß ...

Als Eugen wieder im Vollbesitz seiner Kraft und Gesundheit war, legte sie ihm in Erwiderung seiner brieflichen Beichte ein ebenso offenes Geständnis ab und weihte ihn in die durchlittenen schmerzlichen Kämpfe ein. So begannen sie geläutert, erhoben und gestärkt durch die Erfahrungen und Leiden der Vergangenheit ein neues Leben, wetteifernd miteinander in Liebe, Selbstverleugnung und Opferwilligkeit. Sie kämpften und erbitterten sich nicht mehr gegeneinander, wie zwei Feinde mit entgegengesetzten Interessen, sondern jede Differenz, jede Meinungsverschiedenheit, jeden Gegensatz der Neigungen und Anschauungen lösten sie in gegenseitigem Entgegenkommen, in gütiger, liebevoller Aussprache, wie zwei Menschen, die sich durch ein großes, alle anderen Empfindungen und Interessen überragendes und versöhnendes Gefühl geeint, unlöslich für immer gebunden fühlen. Und sie empfanden es nicht einmal schmerzlich, wenn der eine dem anderen zuliebe seiner natürlichen Eigensucht etwas abgerungen hatte, im Gegenteil, es lag etwas unvergleichlich Süßes und Beglückendes in dem Bewußtsein, sich über sich selbst erhoben und seiner Liebe durch ein Opfer Ausdruck gegeben zu haben ...

Eugen Kamberg war es, der Susanne antrieb, sich endlich einmal nach ihrer alten Freundin umzusehen.

»Ich bitte dich,« sagte er, als sich Susanne auf den Weg machte, »mich bei Frau Reichelt zu entschuldigen. Ich hoffe, sie wird trotz meiner Ungastlichkeit von damals nicht verschmähen, deinen Besuch recht bald zu erwidern. Ich würde dann gern die Gelegenheit benutzen, den schlechten Eindruck zu verwischen, den sie von mir erhalten hat.«

Susanne fand das junge Ehepaar in bester Eintracht, und staunend, zu ihrer lebhaften Freude beobachtete sie, daß sich während ihrer Abwesenheit das Verhältnis zwischen den beiden Ehegatten wesentlich verändert hatte. Als sich Susanne nach dem Arbeiterinnenbildungsverein erkundigte, teilte ihr Paula Reichelt mit, daß sie den Vorsitz niedergelegt habe. Und mit einem fast demütigen Blick nach ihrem Mann, wie ihn Susanne bisher nie an ihr bemerkt hatte, setzte sie hinzu: »Emil meint, daß ich mich bei meinem jetzigen Zustand vor jeder geistigen Überanstrengung in acht nehmen muß.«

Susanne nickte zustimmend. Sie hatte es gleich bei der Begrüßung bemerkt, daß ihre Freundin einem freudigen Ereignis entgegensah und eine schmerzliche Empfindung, fast wie Neid, war unwillkürlich in ihr aufgestiegen.

»Ja,« fiel der Redakteur ein, »Paula hat mir versprochen, daß sie alle öffentliche Tätigkeit aufgeben wird, bis – nun bis unser Kind das schulpflichtige Alter erreicht haben wird.«

Und als Frau Paula schüchtern, bittend einwandte: »Aber einen oder zwei Vorträge könnte ich doch ganz gut noch halten«, widersprach er ernst und bestimmt: »Nein, auf keinen Fall! Ich könnte es nicht verantworten, es steht zu viel auf dem Spiel.«

Als er sich bald darauf empfahl, um in die Redaktion zu gehen, bemerkte Frau Paula ein wenig beschämt: »Sie werden mich wohl jetzt recht lächerlich finden.«

Susanne aber widersprach lebhaft.

»Nein, ich finde, Sie haben erst jetzt das richtige Verhältnis zueinander gefunden.«

Da strahlte es über Frau Paulas ganzes Gesicht und sie drückte der Freundin herzlich, dankbar die Hand.

»Meinen Sie? Wirklich? Und ich glaubte schon, Sie würden mich grenzenlos verachten und mir Ihre Freundschaft kündigen.«

Darauf sah sie eine Weile schweigend, bedrückt vor sich hin und Susanne ahnte, welche schweren, bitteren Kämpfe sie hinter sich hatte.

Plötzlich hob Frau Paula ihr Haupt, und ein fast schelmisches Lächeln zuckte aus ihren Augen.

»Das ist das erstemal in seinem Leben,« sagte sie, »daß mein Mann gegen ein Parteidogma verstößt. Aber er meint, Dogmen, die vor der Vernunft nicht bestehen können, brauche ein denkender Mensch nicht zu respektieren. Das Dogma von der völligen Gleichberechtigung und der Gleichstellung der Frau mit dem Mann, wie es zu unserm Parteiprogramm gehört, sei ein Unsinn, weil es den einfachsten Geboten der Natur widerstreite ...«

Eugen Kambergs und Susannes schwer errungenes neues Glück erlitt eine schmerzliche Unterbrechung durch die Anklage wegen Duellvergehens, der seine Verurteilung zu sechs Monaten Festungshaft folgte. Bevor er seine Strafe antrat, reichte er seine Entlassung als Bürgermeister ein, denn er hatte vor, seine Zulassung als Rechtsanwalt nachzusuchen. Susanne hatte sich bemüht, ihm diesen Entschluß auszureden, aber er blieb unerschütterlich.

»Im Interesse unsrer Zukunft,« sagte er, sie sanft auf seine Knie ziehend, »halte ich es für besser, meine Stellung aufzugeben, deren Pflichten in mein Ehe- und Familienleben eingreifen und die von meiner Frau sogar allerlei Rücksichten verlangen, die ich ihr von meinem jetzigen Standpunkt aus nicht auferlegen mag. Mein Selbst- und Ehrgefühl bäumt sich dagegen auf, meinen Vorgesetzten das Recht einzuräumen, meiner Frau Verhaltungsmaßregeln und Beschränkungen in ihrer persönlichen Freiheit zu diktieren. Ich will mich nicht wieder der Zwangslage aussetzen, dich, wenn du ein gutes Werk beabsichtigst, daran hindern zu müssen, weil vielleicht der eine oder andere der mir vorgesetzten Herren an deinem Verhalten Anstoß nehmen könnte.«

Aber die harte Zeit der Trennung und Einsamkeit half sich Susanne durch den regen Verkehr mit dem Reicheltschen Ehepaar, durch lebhaften Briefwechsel mit Frau Bahlke, die ihr gleich nach dem ersten Tage ihrer Abreise brieflich ihren herzlichen Glückwunsch ausgedrückt hatte, und durch geistige Tätigkeit hinweg.

Sie war nun endlich in der Lage, ihren früheren Wunsch, an den Bestrebungen des Arbeiterinnenbildungsvereins teilzunehmen, erfüllen zu können, indem sie an Stelle Frau Paulas belehrende Vorträge aller Art hielt. Eine tiefe, wohltuende Befriedigung und Genugtuung bereitete ihr diese Tätigkeit, der sie sich mit allem Eifer und großer Gewissenhaftigkeit und ehrlichem Fleiße hingab. Das andachtsvolle Interesse, die wie verklärt strahlenden Mienen und der ungekünstelte ehrliche Dank ihrer Zuhörerinnen war ihr Lohn, der sie reichlich für alle Mühen entschädigte.

Freilich, als sie einmal ein Thema behandelte, das in Zusammenhang mit der Frauenfrage stand, und als sie hierbei ihre in eigner Erfahrung gewonnenen Ansichten offen und rückhaltlos darlegte, mußte sie eine niederziehende Erfahrung machen. Ein paar Tage darauf brachte die »Volksstimme« einen heftigen, von persönlichen Gehässigkeiten nicht freien Angriff gegen sie, dessen Veröffentlichung Emil Reichelt nicht hatte hindern können, denn er war von dem ihm vorgesetzten Chefredakteur des Blattes selbst geschrieben. Die Folge war, daß zu Susannes nächstem Vortrag kaum die Hälfte der Mitglieder erschien, und daß sie sich der Erkenntnis nicht entschlagen konnte, daß kleinliche Unduldsamkeit und Engherzigkeit sie wieder einmal mit ihrer ehrlichen Überzeugung und ihrem sittlichen Wollen in einen Konflikt gebracht hatte.

Diese Erfahrung würde sie wohl sehr darniedergedrückt und empfindlich geschmerzt haben, wenn nicht gerade in diesen Tagen Eugen, dem ein Drittel seiner Haft auf dem Gnadenwege erlassen worden war, zu ihr zurückgekehrt wäre. Dazu kam, daß sie um diese Zeit eine Gewißheit erlangt hatte, die ihrem ganzen Wesen einen neuen Impuls gab, ihrem Leben einen neuen, sehnlichst erwünschten Inhalt verhieß. Als sie es Eugen, zitternd vor Glück und Stolz, mitteilte, stand er zuerst wie betäubt, dann aber riß er sie jubelnd, außer sich vor Entzücken, an sich und wollte sie im Übermaß seiner Freude hoch in die Luft heben, aber er besann sich rasch und faßte sie sanft um und führte sie so behutsam, fast ängstlich zum Sofa, daß sie laut auflachen mußte. Auch während der Folgezeit legte Eugen Kamberg eine so zarte Rücksichtnahme und ein so feinfühliges Verständnis und Eingehen auf die Empfindungen und Wünsche der zukünftigen jungen Mutter an den Tag, daß es diese tief rührte und ihre Liebe und ihr Glück noch mehr vertiefte, soweit das überhaupt noch möglich war.

Bei Susanne selbst aber stand von da ab die Sorge für das Kind obenan unter allen ihren Pflichten. Sie richtete ihre ganze Tätigkeit, ihr Leben und ihr Bestreben und Verhalten auf das Wohlergehen des Wesens, das ihrer Ehe erst die rechte Weihe, ihrem Frauendasein erst die Vollendung und den eigentlichen Wert verleihen sollte.

Und als endlich die Zeit erfüllt war und das kleine Geschöpf, das Fleisch von ihrem Fleisch, Blut von ihrem Blute war, zum erstenmal an ihrer Brust lag, und als ihr Gatte, Tränen in den Augen vor Erschütterung, sich über sie neigte, und sie die glühendste Dankbarkeit, Bewunderung und Ehrfurcht von seinem Antlitz strahlen sah, da durchströmte sie trotz ihrer Schwäche ein starkes, erhebendes Gefühl, daß alle überstandenen Leiden, alle Kämpfe der Vergangenheit davor in nichts zerronnen ...

Die Jahre gingen dahin. Für Susanne gab es noch immer nichts Wichtigeres, nichts Reizvolleres, nichts Heiligeres, als sich mit allen Sinnen, mit der ganzen Kraft ihres Körpers und ihres Geistes der Pflege ihres Kindes hinzugeben. Starke körperliche Mühen, schlaflose Nächte, angsterfüllte, seelenerschütternde Stunden gab es für die junge Mutter, dennoch war alles dies nichts im Vergleich zu den unvergleichlichen Wonnen, das Kind nach Überwindung der unvermeidlichen Kinderkrankheiten blühen und gedeihen zu sehen, lebensfrisch, lebensstark. Und als die ersten Seelenregungen des Kindes sich offenbarten und die junge Mutter Tag für Tag neue Entdeckungen im Kinderlande machte – gab es etwas auf Erden, das für sie hätte auch nur annähernd so wichtig sein können? Vor allem aber erkannte sie mit beglückendem Bewußtsein und unendlicher, tiefster Genugtuung, daß niemand dem Kinde die Mutter ersetzen konnte. Auch die erfahrenste und gewissenhafteste Pflegerin hatte nicht das überströmende Zärtlichkeitsgefühl, die hingebende, strahlende Liebe der Mutter zu bieten, unter deren Wärme sich die Kinderseele allein in Heiterkeit, Frohsinn und Offenheit entfalten konnte. Freilich, sie erkannte auch, daß es eine ungeheure Kraftanspannung erforderte, wenn man dem Kinde Mutter sein wollte in der ganzen Bedeutung dieses Wortes, und ihr durch die eigene Erfahrung geschärftes Auge sah auch, wieviel gewissenlose und törichte, unverständige Mütter in dieser Beziehung pfuschten und sündigten und wieviel hier noch zu lehren und aufzuklären war. Wie der Gelehrte von seinen Forschungen, der Künstler von seinem Werk, so mußte die Mutter von ihrem Kinde erfüllt sein. Und lächerlich und unsinnig waren die Anschauungen und Bestrebungen der streitbaren »neuen« Frauen, die auf »Tagen« und Kongressen zusammenkamen und die Welt mit ihrem Geschrei erfüllten, die die Ehe als eine Herabwürdigung der Frau und die Mutterschaft als eine Last ansahen, die ihre Armut nicht erkannten, und die andern, die sich reich fühlten, arm machen wollten, so arm, wie sie selbst es waren. Ein heiliger Zorn erfaßte sie gegen die Verblendeten, die da glaubten, der Frau das Glück zu bereiten, wenn sie ihr Gleichberechtigung und Stimmrecht verschafften, sie in politische Kämpfe und Gehässigkeiten zerrten und für die Liebe und Ehe unempfindlich und untauglich machten ...

Nicht: »Los vom Mann!« müßte es heißen, im Gegenteil, immer inniger müßte sich die Frau an den Mann schließen, dann würde auch seine Liebe innerlicher, seelischer, reiner und schöner werden.


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