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II.

Zwei Stunden später fand wie gewöhnlich die Table d'hote des Strandhotels statt. Die Unterhaltung zwischen den Gästen, die sich in dem freieren, froheren Verkehr des Badelebens verhältnismäßig rasch angefreundet hatten, schwirrte heute noch lebhafter als sonst. Der aufregende ungewöhnliche Vorgang vom Vormittag wurde vielfach besprochen und kommentiert. Humoristische und boshafte Bemerkungen flogen hin- und herüber. Allen war die auffallende Persönlichkeit der Frauenrechtlerin wohlbekannt, die sowohl durch ihre Meinungsäußerungen wie auch durch ihre Erscheinung und ihr ganzes Auftreten jeden Unterschied zwischen den Geschlechtern grundsätzlich verneinte und die von irgendeiner Inferiorität der Frau dem Manne gegenüber nichts wissen wollte. Und nun hatte es gerade ihr passieren müssen, daß sie sich von einem Manne hatte retten und so einen augenfälligen Beweis weiblicher Schwäche geben müssen. Als Fräulein Dr. Anna Möller, deren Name in ganz Deutschland als einer der hervorragendsten und radikalsten Führerinnen der Frauenbewegung bekannt war, mit ihrem Bruder den Speisesaal betrat, wurde sie von den teilnehmenden Tischgenossen umringt.

Fast wie ein Mann sah sie aus mit ihrer starkknochigen, aber hageren, jeder Rundung und Weichheit entbehrenden Gestalt, mit ihrem schwarzen, steifen, niedrigen Herrenhut und ihrem halblangen, mit breiten Seitentaschen versehenen dunklen Jakett über dem schmucklosen, schmalen schwarzen Rock, das immer, unbeirrt von den Launen der Mode, denselben einfachen, bequemen Schnitt hatte.

Kurz angebunden, wie es ihre Art war, wenn es sich um nach ihrer Ansicht unwichtige Dinge handelte, gab sie den Fragern Bescheid.

Bah, die ganze Sache sei nicht der Rede wert. Das kleine Malheur wäre ihr nicht passiert, wenn sie nicht zufällig einen Krampf im rechten Fuß bekommen hätte. Davor sei eben niemand sicher, auch der stärkste Mann nicht. An Kraft weiterzuschwimmen habe es ihr im übrigen durchaus nicht gefehlt ...

Ein paar Minuten später erschien Dr. Kamberg, der zweiter Bürgermeister der nur wenige Stunden entfernten Bezirksstadt war, an der Table d'hote. Eine neue Bewegung ging durch die Tischgesellschaft. Viele erhoben sich und umringten den sich rasch in leichter Befangenheit Nähernden händeschüttelnd, beglückwünschend. Ihm war die aufdringliche, geräuschvolle Ovation sichtlich peinlich und er bemühte sich, sie soviel als möglich abzukürzen und zu seinem Platz zu gelangen.

Als er sich gesetzt hatte, richtete sich sein Auge forschend nach der andern Tischseite hinüber. Hier saß Susanne Neudeck, die sich von ihrem Ohnmachtsanfall schon wieder völlig erholt zu haben schien, wenigstens breitete sich ein rosiger Schein über ihr Gesicht, während ihre Blicke für eine kurze Sekunde ineinander tauchten. Gern hätte er ein paar Worte mit ihr gesprochen, aber es war unmöglich, sich in dem Geräusch der hin und her geschobenen Stühle, in dem Gesurre und Gesumme nach der anderen Tischseite hinüber verständlich zu machen, ohne zu schreien. So mußte er also warten, bis die Tafelei ihr Ende erreicht hatte. Eilig kämpfte er sich durch die schwatzende, sich langsam vorwärts schiebende Menge hindurch.

Endlich stand er neben ihr.

»Ich freue mich, Sie so frisch und munter zu sehen, Fräulein Neudeck. Der Schreck hat Ihnen also nicht geschadet?«

»Nicht im geringsten.« Sie blickte ihm freudig in das strahlende Antlitz. Auch bei ihm schien die Aufregung und die ungewohnte Strapaze keinerlei Folgen hinterlassen zu haben. Sie gingen nebeneinander – sie zwischen ihm und ihrem Tischnachbar Siegfried Möller – dem Ausgang zu. Auf der Straße begleitete er sie noch ein Stück. Ihr war so warm, so wohl. Sie unterhielten eine leichte, unbedeutende Plauderei, aber der bloße Klang seiner Stimme erweckte angenehme Empfindungen in ihr. Ab und zu sahen sie im Gespräch einander an und sie hatte den Eindruck, daß der Ausdruck seiner Augen ein anderer war als sonst, daß etwas Forschendes, Ungläubiges, Verwundertes in seinen Blicken lag, als ob er plötzlich eine Eigenschaft an ihr entdeckt habe, die ihm bis dahin verborgen gewesen.

Als er sich von ihr und ihrem Begleiter verabschiedete, hielt er ihre Hand länger als gewöhnlich in der seinen. Schweigend in sich gekehrt setzte sie ihren Weg mit dem Kommilitonen fort. Er sprach von der nahen Abreise und der Rückkehr in ihre heimische Universitätsstadt. Wie froh er sei, daß das Faullenzen, dieses stumpfsinnige, rein tierische Vegetieren bald vorüber sei! Ihr aber legte sich der Gedanke wie eine Last auf die Brust. Die schöne, sorglose Ferienzeit! Erstaunt, fragend hob sie den Blick zum Firmament empor. Die Sonne strahlte noch eben so wolkenlos und klar wie vorher und doch hatte sie den Eindruck, als ob es plötzlich schattiger, kühler geworden sei.

»Wollen wir nicht einen Ausflug nach dem Teufelsberg unternehmen, Susanne?« fragte der Student, als sie vor dem Hause angelangt waren, in dem sie und ihre Schwester zwei Zimmer bewohnten.

»Nein. Ich bin müde und lege mich schlafen.«

»Also dann bis heute abend!«

Sie tauschten einen Händedruck und sie stieg langsam die Treppe hinauf. Ihre Schwester hatte sich auf das Sofa im Wohnzimmer gestreckt und las. Sie selbst begab sich sogleich in das Schlafzimmer. Hier entledigte sie sich des Oberkleides und legte sich zu Bett. Aber trotz ihrer Müdigkeit war es ihr nicht möglich zu schlafen. Dumpf und beklemmend war die Luft in dem kleinen Gemach. Sie sprang auf und öffnete das Fenster weit. Dann warf sie sich wieder in die Kissen, aber es war eine merkwürdige Unruhe in ihr, so daß sie sich bald wieder aufrichtete und auf den Bettrand setzte. War es nicht töricht, hier im engen Zimmer zu sitzen, während draußen die Sonne lockte und frische, stärkende, ozonreiche Seeluft den Aufenthalt zu einem Genuß machte? Mußte man nicht jede Minute benutzen, die einem noch blieb, um am Meeresgestade Kraft und Gesundheit für die kommende, arbeitsvolle Zeit zu gewinnen?

Voll Eifer sprang sie auf und ergriff mit hastigen Händen das auf einen Stuhl geworfene Kleid. Aber während sie im Begriff war, es über den Kopf zu streifen, kam ihr plötzlich ein Gedanke. Sie ließ ihre Hände sinken und betrachtete es prüfend. Es war ein einfaches blaues Musselinkleid mit weißen Tupfen und hohem Stehkragen. Sinnend, unentschlossen trat sie vor den Spiegel. Neugierig, musternd betrachtete sie sich in dem blanken Glase. War ihr Hals nicht weiß, schön geformt, und voll bis herab zum Brustansatz? Die meisten jungen Damen der Badegesellschaft trugen Ausschnitte an ihren Kleidern, die nicht nur kleidsamer, sondern auch praktischer waren in der warmen Jahreszeit. Besaß sie nicht ein ähnliches Kostüm, ein weißes mit rosa Bändern geputztes Battistkleid? Und hatte ihr Regierungsassessor von Wernitz nicht einmal ein Kompliment gemacht, daß es zu ihrem zarten Teint und zu ihrem Blondhaar »entzückend« stände und sie um mindestens fünf Jahre verjünge?

Sie eilte in schnellem Entschluß an den Kleiderschrank, und als sie das leichte, duftige Kostüm angelegt hatte und sich im Spiegel musterte, flog ein zufriedenes, selbstgefälliges Lächeln über ihre vor Eifer geröteten Wangen. Vergnügt nickte sie ihrem Spiegelbild zu. Doch plötzlich schlug ihr die Scham heiß ins Gesicht. Wem wollte sie denn gefallen? Etwa dem Regierungsassessor von Wernitz, der jeder jüngeren Dame, mit der er zusammenkam, zu hofieren pflegte und der ihr in tiefster Seele zuwider war? Verlangte sie denn überhaupt nach Komplimenten, nach der Bewunderung der Männer?

Aber es steckte zu viel Unruhe in ihr, als daß sie einen abermaligen Toilettenwechsel hätte vornehmen mögen. Eine prickelnde, nervöse Hast kam über sie, als ob sie befürchtete, irgend etwas zu versäumen oder sich zu verspäten. Mit hastigen Fingern setzte sie den Hut auf – einen einfachen englischen Strohhut mit dunklem Bande – und eilte direkt in den Flur hinaus, um nicht den fragenden, erstaunten Blicken ihrer Schwester zu begegnen.

Erst draußen auf der Straße legte sie sich die Frage vor: Wohin? Aber sie hielt sich nicht lange mit dem Überlegen auf. Es war ja selbstverständlich, daß sie nach dem Strande eilte. Es war zwar erst drei Uhr, aber schon entwickelte sich ein lebhaftes Bild. Zahlreiche kleine Kinder mit ihren Müttern oder Bonnen wimmelten herum, erfüllten die Luft mit ihrem Geschrei, bauten Wälle, oder zogen mit kleinen Schaufeln und Schippen schmale Gräben, und jubelten laut vor Vergnügen, so oft eine Welle das schäumende Wasser in die kleinen Kanäle trieb.

Mit hastenden Schritten eilte Susanne Neudeck vorüber. Nach Stille und Einsamkeit verlangte es sie, und sie erschrak bei dem Gedanken, daß sie irgendeinem Bekannten begegnen könnte, der sie aufhalten und ihr seine Begleitung aufdrängen möchte.

Nach und nach wurde es stiller, die Strandkörbe hatten ganz aufgehört, nur vereinzelte Spaziergänger kreuzten ihren Weg. Nach etwa halbstündiger Wanderung machte sie hochatmend, erhitzt vom schnellen Gange, halt, und sah sich nach einem passenden Platz um. Ungefähr dreißig Schritt vom Strand erhob sich ein hoher Wall, den größere Knaben hier aufgeworfen hatten. Sie übersprang ihn und lagerte sich auf der Innenseite, so daß sie gegen die Blicke der Vorübergehenden gedeckt war. Sie streckte sich lang hin und verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte träumerisch zum blauen Himmelsgewölbe empor. Die Gedanken und Empfindungen drängten sich in ihr. Ja, in den vier Wochen, die sie hier an der See verlebt hatte, war eine Veränderung mit ihr vorgegangen, über die sie sich bisher noch keine Rechenschaft gegeben hatte. Was war es, das sie heute bewog, sich dessen bewußt zu werden und darüber nachzudenken? War es der Vorgang am Vormittag und ihre Bewußtlosigkeit, mit der das aufregende Erlebnis seinen Abschluß für sie gefunden hatte? Warum war die Ohnmacht zum erstenmal in ihrem Leben über sie gekommen? Sie hatte schon bei Tisch darüber nachgedacht. Die übermächtig in ihr aufstürmende Freude war es gewesen, die sie nicht hatte ertragen können, die Freude, Dr. Kamberg nach der Todesgefahr wieder in seiner Vollkraft vor sich zu sehen. Warum hatte sie um ihn gezittert und nicht um die Schwimmerin, die doch in derselben oder in noch größerer Gefahr geschwebt als er?

Die Hände der Grübelnden sanken unbewußt herab und preßten sich auf das pochende Herz. Hatte nicht vom ersten Tage an, als sie ihn kennen gelernt, eine eigentümliche Unruhe sie immer in seiner Nähe erfaßt? Hatten sich nicht nach jedem Zusammensein ihre Gedanken mit ihm beschäftigt? Hatte sich nicht jede Einzelheit seiner äußeren Erscheinung ihr so fest eingeprägt, daß sein Bild immer vor ihr stand und daß sie ihn hätte nach dem Gedächtnis zeichnen können? Vibrierte der Klang seiner Stimme nicht in ihr, auch wenn er nicht mehr sprach?

Die Einsame richtete sich halb empor und stützte die heiße Stirn in die Hand und schaute verstört, fragend um sich. Das Flimmern der Sonnenstrahlen auf dem Wasser, die fächelnde kühle Brise, das Schaukeln und Plätschern der Wellen stachelte die Unruhe, die ihr in allen Nerven und Gliedern vibrierte, zu einer atemraubenden, heiß durchschauernden Erregung. Ein sehnsüchtiges Ahnen weitete ihr die Brust, eine schwüle, bange Stimmung senkte sich auf sie ...

Mit einem Stöhnen sank sie wieder zurück und schlug erschüttert ihre Hände vor das glühende Antlitz. War das die Liebe? War sie doch gekommen, an die sie nicht geglaubt hatte, von der sie von ihrer Schwester und anderen Kameradinnen so oft geringschätzig, verächtlich hatte sprechen hören und über die sie selbst überlegen gespottet hatte, wenn sie mit angesehen, wie andere junge Mädchen ekstatisch schwärmten, wie sie sich zierten und süße, lockende Augen machten, verschämte und schmachtende Mienen zeigten und hold lächelten, so oft sie mit Männern zusammenkamen, auf die sie offenbar Eindruck zu machen wünschten?

Und was würde nun werden? Würde auch sie dieser rätselhaften, dämonischen Macht verfallen, die das Weib anzutreiben schien, alle seine Vorzüge aufzubieten, um dem Manne zu gefallen? Würde auch sie diesem Gefühl untertan werden, in dem aller Eigenwille der Frau, alle Selbständigkeit unterging? Und dann? Dann folgte die Ehe, die sie verachtete, die sie haßte, vor der die Schwester und deren großes Vorbild Dr. Anna Möller immer gewarnt hatten.

Nein! Sie war keins von den blöden, dummen Gänschen, die ihren Nacken lächelnd unter das Joch beugten, die sich girrend, mit entzückten Mienen die Ketten anlegen ließen, ahnungslos, welch unwürdigem Lose sie sich damit überlieferten. Sie brauchte den Mann nicht, um ihrem Leben einen Inhalt zu geben. Hatte sie deshalb seit Jahren eifrig studiert und sich dieselbe geistige Bildung wie die jungen Männer ihres Alters angeeignet, um nun nicht weiterzukommen, als die Dutzendmädchen, die schon als Kinder Frau und Mutter gespielt hatten, die auf den Mann warteten wie auf den Erlöser, der ihnen erst die Herrlichkeiten des Lebens erschließen mußte?

Mit einer energischen Bewegung zog das junge Mädchen ihre Hände vom Gesicht; ihre schmalen weißen Finger krümmten sich; ein energischer trotziger Zug erschien in dem feinen Gesichtchen, dem die geistige Arbeit, angestrengtes Denken noch nicht den weichen, holden Zauber der Weiblichkeit zu rauben vermocht hatte.

Nein! Sie hatte einen höheren Ehrgeiz: alle ihre geistigen Kräfte und Anlagen auszubilden, ungehindert, ungehemmt ihren individuellen Neigungen nachzuleben. Das war es, was sie von der Zukunft erstrebte. Und deshalb mußte sie frei sein, durfte sie keinem Mann ein Recht über sie einräumen ...

Mit großen klaren Augen sah sie in die wolkenlose, unbegrenzte Höhe empor und ein stolzes Lächeln der Genugtuung strahlte über ihr zur Sonne emporgerecktes Antlitz. Ein Glück, daß sie noch rechtzeitig zur Besinnung gekommen war, zur Erkenntnis der Gefahr, die sie bedroht hatte! Nun hieß es Acht auf sich geben, jede Regung in sich, jede Empfindung bewachen, sich lösen von dem Spuk, der ihre Sinne umnebelt hatte, ihre Ohren verstopfen gegen die süße, einschmeichelnde Melodie, die ihren Willen in eine weiche, verschwommene, widerstandslose Stimmung einzulullen im Begriff war, die seinen unsichtbaren Fäden zerreißen, die ihr Herz umspinnen wollten. In ein paar Tagen war ja ohnedies dieses entnervende Faullenzerleben vorbei und Dr. Kamberg hatte keine Macht mehr über ihre Phantasie und sein Bild verschwand für immer aus ihrem Gedächtnis ...

Ein Geräusch bewirkte, daß die Liegende sich halb in die Höhe richtete und lauschte. Schritte knirschten im Sande, Männerschritte, die sich ihrem Verstecke näherten. Mit einem Male schoß wieder das Blut glühend heiß in ihr empor und ihr Herz begann in raschen, erregenden Schlägen zu pochen, wie schon so oft während der letzten Wochen. Und wie eine Vision, blitzartig, erschien ein bärtiges Männerantlitz vor ihrem geistigen Auge.

Mit aller Gewalt stemmte sich die Studentin gegen diese Anwandlung, die ihr Blut in Wallung brachte, so daß es in ihren Ohren rauschte und surrte und ihr die Pulse zu hämmern begannen. Zornig über sich selbst, biß sie sich auf die Lippen und mit jähem Ruck warf sie sich zurück in den weißen Sand. Es war wirklich hohe Zeit, daß sie wieder in die gewohnten Verhältnisse, zur Arbeit zurückkehrte und zu sich selber kam. Die Seeluft und das Nichtstun taten offenbar ihren Nerven nicht gut, denn sie sah am hellen lichten Tage Gespenster und träumte mit offenen Augen.

Sie ließ ihre Lider herabsinken und verdeckte mit den Händen das Gesicht gegen die blendende Sonne. Sobald der fremde Spaziergänger vorüber war, würde sie wieder aufbrechen, um mit ihrer Schwester Kaffee zu trinken und über ernste Themata mit ihr zu disputieren, die ihre Gedanken beschäftigen und ihr keine Zeit zu Phantastereien lassen würden.

Da schrak sie bis ins Innerste ihres Herzens zusammen. Eine Stimme traf ihr Ohr, eine wohlbekannte, klangvolle Stimme.

»Ah, wirklich? Habe ich Sie doch gefunden, Fräulein Susanne? Ich hatte das ganz bestimmte Gefühl, daß ich Ihnen hier am Strande irgendwo begegnen würde. Wirklich, es gibt doch Dinge zwischen Himmel und Erde – wahrhaftig, ich werde künftig nicht mehr spotten, wenn einer von Ahnungen, von Hellseherei und ähnlichen übernatürlichen Dingen spricht.«

Sie ließ erschrocken ihre Hände sinken, schlug Ihre Augen auf und starrte den lächelnd zu ihr Hinabblickenden an, der jetzt oben auf dem Wall stand und der eine rasch abwehrende Geste machte, als sie sich anschickte, sich vollends in die Höhe zu richten.

»Nein, bitte, bleiben Sie doch!« rief er ihr zu. »Ich will Sie nicht stören und« – ein heller, sonniger Schein strahlte ihr von seinem Gesicht entgegen – »es war ein so bezaubernder Anblick!«

Sie erwiderte nichts, sondern stand schweratmend, mit gerunzelter Stirn, starr zu Boden blickend. Er sprang von dem Wall herab in das Innere der Schanze.

»Sind Sie mir böse? Habe ich Sie erschreckt?«

Seine Stimme klang weich, die einschmeichelnden Laute schwangen in ihrer Seele nach. Ihre Blicke hoben sich, wie unter einem inneren Zwang, von den seinen angezogen, aber sie senkte sie rasch wieder, denn aus seinen Augen brach ein Leuchten und Strahlen, das sie es nicht ertragen konnte. Langsam schritt er auf sie zu und sie erzitterte und erschauerte und fühlte seine Annäherung in jeder Fiber ihres gestrafften Körpers.

Doch er hielt plötzlich seine Schritte an.

»Denken Sie nur, Fräulein Susanne – das hätten Sie nicht in mir gesucht und ich selber am wenigsten: ich bin ein Nachtwandler am hellen Tage, und wenn ich hier plötzlich vor Ihnen aufgetaucht und Ihr Dolce far niente gestört habe, so geschah es gewissermaßen unabsichtlich, sozusagen in der Trance. Oder was ist es sonst? Hören Sie: ich hatte mich aufs Ohr gelegt, denn ich fühlte mich wirklich nach der Anstrengung vom Morgen etwas ermattet. In halber Bewußtlosigkeit hatte ich wohl ein halbes Stündchen geruht, da trieb es mich mit einem Male auf. Ohne Überlegung, ohne eine bestimmte Absicht, rein mechanisch kleidete ich mich an, nahm meinen Hut und schlenderte auf die Straße hinaus. Es war, als wenn eine unwiderstehliche Macht mich vorwärts drängte. Wie von selbst gelangte ich an den Strand, als sei mir von irgend jemand, der meinen Willen lenkte, ein Ziel vorgeschrieben. Und weiter: überall, bei jedem Schritt sah ich Sie. So oft ich in der Ferne ein Frauengewand erblickte, durchzuckte es mich: das ist sie, das ist Susanne Neudeck! Ich hatte die ganz bestimmte Empfindung, daß ich Sie sehen, daß ich Sie finden würde. Darüber war ich nicht einen Augenblick lang im Zweifel. Und als ich, dicht an der See schreitend, diese kleine Seefestung hier erblickte, da bogen meine Schritte von selbst, ohne daß es eines besonderen Willensaktes bedurft hätte, vom Wege ab und instinktiv eilte ich hierher mit klopfendem Herzen – war es vom schnellen Gange oder war es von etwas anderem« – seine Stimme dämpfte sich zum Flüsterlaut, in der eine so innige, zärtliche Modulation lag, wie sie nie in ihrem Leben vernommen zu haben meinte – »war es, weil ich ahnte, weil ich es in allen meinen Nerven empfand, daß Sie sich hier befanden, Susanne?!«

Sie hörte die feinen Sandkörner unter seinen Füßen rieseln, sie fühlte, daß er ganz dicht an sie herantrat, nahm es mit ihren vom Instinkt geschärften Sinnen wahr, daß er ihr unmittelbar gegenüberstand. Jetzt verspürte sie seinen Atem – schwer und heiß rieselte es durch ihre Adern. Sie hätte laut aufschreien, davonlaufen, sich von der erstickenden Beklemmung, die sie in Banden schlug und ihr fast das Atmen unmöglich machte, mit gewaltigem Ruck befreien mögen.

Aber die Glieder waren ihr wie gelähmt; visionell spiegelte sich ihr sekundenschnell alles das vor, was kommen würde und mußte, wovor sie sich entsetzte bis ins Innerste ihrer jungfräulichen Seele, so daß ihr das Blut förmlich in den Adern gerann und der Herzschlag stockte, und wovor sie sich doch nicht retten konnte.

Er erfaßte mit seiner Rechten ihre zuckende Hand, die kalt, schwer in der seinen lag und legte den linken Arm um ihre Taille und zog sie zart, sanft an sich heran. Dann beugte er sein Haupt und sah ihr von unten in das geisterhaft bleich gewordene Gesicht, in die flirrenden Augen, die sich nun instinktiv schlossen.

»Susanne, Suschen!« lallte er mit bebender Stimme in höchster seelischer Bewegung.

Sie fühlte seine Lippen, noch ehe sie die ihren berührt hatten. Und als es nun geschah, da durchströmte es sie wie flüssiges Feuer, da versank sie in eine unendlich wohlige Stimmung, in eine übersinnliche Verlorenheit, da war alles, was vorher gewesen, was sie je gedacht und empfunden, fortgewischt, als wäre es nie in ihrem Leben gewesen. Sie hatte kein Gefühl ihrer Persönlichkeit mehr; ihr Wesen und ihr Wille zerfloß und zerschmolz vor der unnennbaren Wonne, die sie in jeder Faser ihres Körpers durchströmte. Die ganze Kraft, Lust und Schönheit des Lebens konzentrierte sich in diesem einen Kuß, den sie empfing und ohne Bewußtsein erwiderte. Scheu, Furcht, Widerstreben – alles war dahin. Es war, als sei das die Krönung, die Vollendung ihres Lebens, der einzige Zweck ihres Daseins, das Ziel all ihres Strebens und Empfindens.

Er löste seinen Arm von ihrer Hüfte und faßte sie an beiden Händen und zog sie mit sich nieder. Nun saßen sie beide nebeneinander, sich an den Händen haltend, und sahen einander mit seligen, verzückten, überströmenden Blicken an. Sie fühlten einander so intensiv, daß daneben die ganze übrige Welt verschwand. In diesen langen, tief und fest ineinander tauchenden Blicken vermählten sich ihre Seelen und es war, als wären sie nur noch ein Wesen, als hätten sich zwei Menschenhälften zusammengefunden zu einem zusammengehörigen unteilbaren Ganzen.

Das Geräusch von Schritten, die sich ihrem Versteck näherten, ließ sie erwachen. Sie erschrak leise und zog mit instinktivem Ruck ihre Hände zurück. Als aber der ungesehene Spaziergänger vorüber war, lächelten sie sich vergnügt an, wie zwei lustige Kinder. Und dann kam mit einem Mal das Erstaunen über sie, das große Erstaunen über sich selber. Sie sah ihn aus großen erschrockenen Augen an. Er nickte ihr zu, lächelnd, übermütig.

»Ja, Suschen,« sagte er fröhlich und mit einem ernsten, warmen Unterton, »nun bist du mein, nun bin ich dein, nun kommen wir nicht mehr voneinander los. Wie hast du das nur zustande gebracht, du kleine Zauberin? Nie hätte ich gedacht, daß ich so zu lieben vermag, so tief und stark, wie ich es jetzt empfinde. O Susanne, du!«

Es zitterte eine unendliche Innigkeit und Süße in seiner Stimme, die ihr wie Musik klang, wie die schönste, wonnigste, erhebendste Melodie, die sie je gehört.

»Nun bist du mein, nun bin ich dein!«

Seine Worte klangen und schwangen in ihr und erweckten ein so starkes, brausendes, beglückendes Gefühl, daß sie es nicht ertragen zu können glaubte, daß sie hätte daran ersticken müssen, wenn sie ihm nicht in Tränen und Schluchzen, das unaufhaltsam in ihr heraufkam, hätte Luft machen können.

»Susanne!«

Er rückte sich noch dichter an sie und umschlang sie wieder mit einem Arm und küßte sie auf die Hände, die sie vor ihr tränennasses Gesicht geschlagen hatte und küßte ihre Stirn, ihre Augen, ihre Wangen, ihren Mund. Dann bog er ihr den Kopf zurück und auch auf ihren Hals preßten sich seine Lippen heiß, glutvoll.

Sie aber dachte nicht mehr daran, zu staunen und sich zu verwundern.


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