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XIV.

Dr. Kamberg wunderte sich in den nächsten Tagen über sich selbst. Wie war es nur gekommen, daß er ihr so unbedingt nachgegeben hatte? Besaß sie den stärkeren Willen? Er lächelte. Die zarte, schwache Frau? Unmöglich! Oder lag es daran, daß ihr Standpunkt der gerechtere, logischere war? Er vertiefte sich in die Frage, ohne zu einem rechten Resultat kommen zu können.

Im übrigen war er froh, daß der Sommer vor der Tür stand, und das gesellschaftliche Leben fast völlig ruhte. Daß sie sich von allen gesellschaftlichen Veranstaltungen ausschloß, war für die Dauer nicht durchführbar und er zitterte immer, daß ihr impulsives Wesen, ihr Unabhängigkeitsgefühl und ihre selbständige Art, Menschen und Dinge zu beurteilen, Situationen heraufbeschwor, die ihm bei seiner amtlichen und gesellschaftlichen Stellung die gräßlichsten Ungelegenheiten bereiten konnten. Nun lagen doch ein paar Monate vor ihm, in denen ihr glückliches Zusammenleben, seine Freude an ihren körperlichen und seelischen Reizen in keiner Weise getrübt werden konnte. Seine Ferien nahm er diesmal von Anfang August bis Mitte September. Mitbestimmend war beider Wunsch, die Sommermuße ungestört und allein miteinander zu verbringen. So konnte man Ella Neudecks Anfrage, ob sie die Sommerferien nicht gemeinsam in einem Ostseebade verleben wollten, abschlägig bescheiden, ohne Susannes Schwester zu verletzen, die ja ihres Berufes wegen an den Juli gebunden war. Nein, sie wollten sich durch niemand in dem Glück, einander wieder einmal ganz ohne Rücksichtnahme auf andere, ohne Beschränkung anzugehören, beeinträchtigen lassen. Und so traten sie ihre Nordlandreise an mit glückgeschwellten Herzen, in froher Erwartung, ganz erfüllt von dem Gefühl ihrer untrennbaren Zusammengehörigkeit, ähnlich wie damals im Herbst, als sie zum erstenmal an seiner Seite in die Ferne gefahren war. Nur daß diesmal alles strahlender und verheißungsvoller war: die Sonne und die Felder, an denen der Eisenbahnzug sie vorübertrug. Das alles gehörte ihnen: die Luft und der Himmel und die See, die sich vor ihnen ausdehnte, und sie waren ganz allein, um das alles zu genießen mit reiferen Sinnen, mit tieferem Bewußtsein ...

Erfrischt, in heiterster Laune, in süßer Eintracht kehrten sie nach den köstlichen sechs Wochen ihres Lebens in ihr Heim zurück, mit dem stillen Bedauern, daß sie so ideal schöne, glückvolle Tage nie wieder erleben würden. Dennoch lag auch während der nächsten Wochen noch ein Abglanz der eben genossenen, unvergeßlichen Zeit auf ihrem Leben. Es war wie in den ersten Wochen nach ihrer Hochzeitsreise: wieder wartete sie seiner in Ungeduld, während ihn seine Berufspflichten fern von ihr hielten, wieder eilte sie ihm in den Flur entgegen, um ihm mit freundlichstem Lächeln, mit ihren innigsten Küssen zu begrüßen, wenn er heimkehrte. Wieder machten sie lange Spaziergänge zu zweien und verbrachten die Abende in trautem Alleinsein, in anregendem, von häufigem Kosen und Tändeln unterbrochenem Gespräch.

Es war in der zweiten Oktoberwoche, als sie eines Abends einer Einladung des Portigschen Ehepaars zu einem gemeinsamen Theaterbesuch folgten. Herr Portig hatte eine kleine Loge besorgt, deren beide Vordersitze die beiden Damen einnahmen. Die beiden jungen Frauen plauderten sehr lebhaft miteinander, denn beide befanden sich in bester, gehobenster Stimmung, die eine, weil sie, im Glanze ihrer Schönheit und ihrer eleganten, geschmackvollen Toilette sich als Zielpunkt bewundernder Blicke wußte, die andere, weil sie der Vorstellung mit der frohen Erwartung einer frischen, genußfreudigen Seele entgegensah.

Da beugte sich Frau Adele zu ihrer Cousine hinüber und flüsterte leise: »Wie gefällt sie dir?«

»Wer?« fragte die junge Frau ahnungslos.

»Nun, hast du denn noch nicht bemerkt, daß dich da drüben die Dame in der champagnerfarbenen Robe fast mit ihren Augen verschlingt?«

Susanne hatte wohl flüchtig wahrgenommen, daß jemand sie durch das Opernglas betrachtet hatte, aber sie hatte dem Vorgang keine Bedeutung beigemessen und es für Zufall, höchstens für Neugierde, die der Frau des Bürgermeisters galt, gehalten. Jetzt warf sie einen raschen, verstohlenen Blick nach der schräg gegenüberliegenden Loge. In der Tat, die Dame hielt schon wieder ihr Glas auf sie gerichtet, und erst, als sie jetzt ihren Arm aufstützte und ihr Gesicht mit der Hand beschattete, gab die Frau ihr auffälliges Fixieren auf.

»Wer ist das?« fragte Susanne verwundert, völlig ahnungslos.

Frau Adele aber zeigte ein verschmitztes, lächelndes Gesicht und zwinkerte mit den Augen nach der Richtung der beiden hinter ihnen sitzenden Männer. Susannes Erstaunen stieg, aber sie hatte nicht mehr die Zeit, ihre Frage zu wiederholen, denn der Vorhang rauschte empor und die Vorstellung begann. Ihre ganze Seele wurde von der fesselnden Handlung des Stücks in Anspruch genommen; nicht nur die neugierige fremde Dame in der gegenüberliegenden Loge, auch ihre Nachbarin, ihr Mann und die ganze Zuhörerschaft verschwand ihren Blicken und ihren Sinnen. Erst als der Akt vorüber war und der hinabrollende Vorhang die Bühne abschloß, kam sie zum Bewußtsein ihrer Umgebung. Aber sie war noch so ganz im Bann der Dichtung, der die Künstler den Schein der Wirklichkeit geliehen, daß sie zunächst für nichts anderes Interesse hatte und lebhaft ihre Ansichten über den Inhalt des Dramas und die Darstellung mit den anderen Insassen der Loge austauschte. Erst als die Herren die Loge verließen, um sich nach der Theaterrestauration zu begeben und Susanne sich wieder nach der anderen Seite wandte, wurde sie an die Fremde erinnert, die vorher ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Es war eine mit auffallender Eleganz gekleidete Dame von etwa dreißig Jahren, die neben einer älteren Dame in der Loge saß. Sie war groß, üppig, brünett, mit dunklen, keck blitzenden Augen. Die Frage nach der Fremden, die ihr auf die Lippen treten wollte, drängte sie wieder zurück, denn es lag etwas Kokettes, Herausforderndes in dem Benehmen der Dame, das sie unwillkürlich abstieß.

Aber ihre Nachbarin wisperte ihr ins Ohr: »Ist sie nicht schön?«

Susanne zuckte mit den Achseln und blickte in die entgegengesetzte Richtung, um anzudeuten, daß die Dame sie nicht interessiere. Frau Adele lächelte – es lag etwas Ironisches und zugleich Verheißungsvolles in dem Lächeln.

»Wüßtest du, wer es ist,« bemerkte sie orakelhaft, »du würdest dich nicht so gleichgültig zeigen.«

Susanne schüttelte mit dem Kopf und zog ihre Augenbrauen zusammen, befremdet über die Hartnäckigkeit, mit der ihre Cousine sich mit der Dame beschäftigte, die die Operngläser der Herren in ungewöhnlichem Maße auf sich lenkte.

»Ich verstehe dich nicht«, erwiderte sie kurz.

»Es ist Frau Kommissionsrätin Hilgers.«

Susanne zuckte mit den Achseln, zum Zeichen, daß der Name ihr nichts sage.

»Hat er dir denn nicht von ihr erzählt?« fragte Frau Adele interessiert, mit einem lauernden Blick.

»Wer?«

»Nun dein Mann.«

In Susanne regte sich zum erstenmal eine leise, unbestimmte Unruhe. Unwillkürlich flog ihr Blick wieder zu der Fremden hinüber.

Die gezierte Haltung, die Art, wie sie den Oberkörper hervorpreßte, das gefallsüchtige Lächeln, das fortwährend ihre vollen Lippen umschwebte, alles das verstärkte den unsympathischen Eindruck, den sie schon vorher von der auffallenden Erscheinung empfangen hatte. Und als die Dame, die von ihrer Nachbarin Frau Hilgers genannt wurde, jetzt merkwürdig feindselig, spöttisch zu ihr hinüberblickte, wandte sie ihr Gesicht rasch, befangen errötend, ab. Dennoch sog sie jedes Wort in sich hinein, als Frau Adele jetzt endlich Aufschluß zu geben begann.

»Weißt du, sie ist keine von denen, die man gern bei sich empfängt. Früher haben wir ja mit ihr verkehrt, aber schließlich lud ich sie nicht mehr ein. Schon als Mädchen hatte sie keinen ganz guten Ruf. Als sie den reichen Kommissionsrat Hilgers heiratete, gewann sie ja eine gewisse gesellschaftliche Stellung. Seit drei Jahren ist sie Witwe. Man kann es dir ja sagen, denn es war ja vor deiner Zeit: dein Mann hat ihr stark die Cour gemacht, sie sollen sehr liiert miteinander gewesen sein und man munkelte schon, daß er sie heiraten würde. Aber er hat doch wohl Bedenken gehabt, denn sie soll noch andere Götter neben ihm gehabt haben. Ob's wahr ist, wer weiß es? Jedenfalls war sie so unvorsichtig, sich ins Gerede zu bringen. Vielleicht war auch nur schuld, daß er dich kennen lernte und sich Hals über Kopf in dich verliebte ... Aber was ist dir denn, Susanne?«

Die junge Frau hatte die Empfindung, daß sie bleich und verstört aussah. Mit aller Willensanstrengung, die ihr zu Gebote stand, kämpfte sie die Gemütsbewegung, die die unerwarteten Mitteilungen ihrer Cousine in ihr hervorgerufen, in sich zurück und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen.

»Du hast doch wahrhaftig keinen Grund, dich deshalb zu alterieren«, fuhr Frau Adele eifrig fort. »Es war doch alles vor deiner Zeit. Wenn eine Grund hat, sich zu beklagen, dann kann es doch höchstens Frau Hilgers sein. Die Sache scheint ihr übrigens wirklich nahe gegangen. Sie hatte sich doch wohl Illusionen gemacht. Bald nach eurer Hochzeit verschwand sie aus der Stadt. Sie soll sich bis vor kurzem in Berlin bei Verwandten aufgehalten haben. Ob sie wohl nun dauernd wieder hier Wohnung genommen hat?«

Susanne erwiderte nichts. Mit aller Kraft bemühte sie sich, sich ein ruhiges, gleichmütiges Aussehen zu geben, ohne daß ihr das recht gelingen wollte.

»Aber sei doch nicht kindisch, Susanne!« redete Frau Adele kopfschüttelnd auf sie ein. »Ich begreife dich nicht. Du hast dir doch nicht etwa eingebildet, daß du die erste Liebe deines Mannes gewesen bist? So etwas gibt es doch überhaupt gar nicht.«

Susanne war nicht imstande zu antworten, denn sie hatte Mühe, die Tränen, die in ihr mit aller Gewalt heraufdrängten, zurückzuhalten. Es war eine furchtbare Marter für sie, still, mit gleichmütiger Miene dasitzen zu müssen, während alles in ihr in Aufruhr war.

Die Herren kamen zurück. Dr. Kamberg trat hastig, unruhig ein, als ob er etwas ahnte. Kaum hatte er sich gesetzt, als er sich mit einer Frage an seine Frau wandte. Ob sie es heiß finde? Offenbar lag ihm nur daran, einen Blick auf ihr Gesicht zu werfen. Aber sie kehrte ihm nur ihr Profil zu und antwortete mit einem kurzen »Nein«, wählend sie vermied, ihn anzusehen.

Susanne hatte kein Bewußtsein von den Vorgängen auf der Bühne, als gleich darauf der zweite Akt begann. Sie erfaßte zwar das, was sich zwischen den Theaterdekorationen abspielte, mechanisch mit Auge und Ohr, aber sie war nicht imstande, den Sinn und den Zusammenhang der einzelnen, mit dramatischer Lebhaftigkeit einander folgenden Handlungen zu begreifen. Sie war wie betäubt, als ob ihre Denkkraft plötzlich gelähmt, als ob ihr die Fähigkeit zu kombinieren, abhanden gekommen wäre.

Nur immer der eine Gedanke schwirrte unausgesetzt in ihr: Eugen hatte vor ihr geliebt – die entsetzliche, unfeine, aufdringliche, herausfordernde Person da hatte er geliebt! Das hämmerte in einem fort verwirrend, vernichtend auf sie ein.

Ein heißer, brennender Schmerz, ein unendliches Wehegefühl durchzuckte sie. Und wenn sie allein gewesen, ohne Zeugen, in ihren verschwiegenen vier Wänden, sie hätte sich wohl zu Boden geworfen und hätte versucht zu weinen, um dem Druck Luft zu machen, der ihr das Herz so stark zusammenpreßte, daß sie sekundenlang ein Schwindel anwandelte und sie die Finger in die Logenbrüstung krallte, um einen Halt zu gewinnen.

Aber vielleicht war es gar nicht wahr, vielleicht hatte Adele nur gescherzt? Die Grübelnde richtete sich straffer auf und schalt sich allzu leichtgläubig, töricht. Aber dieser Trost, der Versuch, sich selbst zu belügen, hielt nicht lange vor. Hatte Adele nicht ganz bestimmte, ausführliche Angaben gemacht und wie sollte sie gerade heute darauf kommen, sich in so frivoler, grausamer Weise gegen sie zu versündigen? Und bestätigte das auffallende Interesse der Fremden, ihre feindlichen Blicke nicht überzeugend alles, was ihr Adele mitgeteilt hatte?

Es pochte und klopfte, siedete und gärte in ihr mit verdoppelter Gewalt und mehr als einmal war sie nahe daran aufzustehen, um die Loge zu verlassen, denn es war fast übermenschlich, die entsetzliche Qual zu ertragen. Ein Glück, daß während des Spiels der Zuschauerraum Halbdunkel war und daß niemand das schmerzliche, krampfhafte Zucken in ihren Mienen und die Tränen sehen konnte, die sich trotz aller geheimer Anstrengung ins Auge drängten.

Ein paarmal strebte sie, ihr Weh durch Spott und Selbstverhöhnung zu ersticken. War sie wirklich so kindisch und albern und überhebend, sich einzubilden, daß sie eine so außergewohnliche, hervorragende Persönlichkeit war und daß sie erst kommen mußte, um in Eugen Kamberg die Liebe zu wecken?

Aber ach, auch diese Erwägung half ihr nicht viel. Nie vorher hatte sie sich zwar mit dieser Frage beschäftigt, aber sie hatte die ganz selbstverständliche Empfindung gehabt, daß sie ebenso Eugens erste Liebe war, wie er die ihre. Und nun drückte sie das Bewußtsein wie mit Zentnerlast zu Boden, daß sein Interesse, sein Herz schon vor ihr einer anderen gehört hatte, daß die süßen, kosenden Worte, die er ihr in den schönsten Stunden ihres Lebens ins Ohr geraunt, auch eine andere beseligt hatten ...

Der lärmende Applaus, der am Schluß des Aktes einsetzte, weckte sie aus ihrer Versunkenheit. Aber sie war noch immer so benommen und verwirrt, daß es ihr unmöglich war, sich an dem lebhaften Gespräch zu beteiligen, das zwischen ihrer Cousine und den beiden Herren sich entspann. Den fragenden, forschenden Blicken ihres Mannes wich sie beharrlich aus; sie hatte das Gefühl, als könne sie ihm nun nie mehr in die Augen sehen.

Sie war froh, daß der Zwischenakt diesmal nur ein ganz kurzer war und daß der Beginn des dritten Aktes sie der Notwendigkeit überhob, eine gleichgültige Miene zu heucheln und den Fragen und Bemerkungen der anderen ihr Ohr zu leihen. Wieder war es wie vorher, wieder wandte sie ihre Blicke der Bühne zu, ohne daß sie geistig erfaßte, was sie sah und hörte. Sie war so ganz erfüllt von dem, was ihr die letzte Stunde an wirklichem Leben gebracht, daß daneben nicht das mindeste Interesse für die Scheinvorgänge, die sich vor ihr abspielten, aufkommen konnte.

Sie empfand es als eine Erlösung, als mit dem dritten Akt das Stück zu Ende war. Als Herr Portig vorschlug, gemeinsam in einem Restaurant zu speisen, erzitterte sie innerlich, aber ihr Mann kam ihr zu Hilfe, noch ehe sie selbst einen Wunsch ausgesprochen.

»Susanne scheint nicht ganz wohl«, erwiderte er und zugleich zog er ihren Arm unter den seinen und drückte ihn zärtlich.

Sie mußte sich Zwang auferlegen, um sich nicht entrüstet von ihm loszureißen. Erst als sie zu Hause waren, brauchte sie sich nicht mehr den Schein der Unbefangenheit zu geben. Sie setzte sich still abseits und starrte vor sich hin, während er am Tisch stand und dem Brot und kaltem Aufschnitt, den das Mädchen schon zurechtgestellt hatte, zusprach.

»Willst du nicht auch etwas essen, Susanne?« fragte er, sich unterbrechend.

Sie antwortete ihm nicht, ja sie schien seine Frage gar nicht gehört zu haben. Ihr Gesicht war dem Boden zugekehrt, sie saß unbeweglich wie ein lebloses Wesen aus Stein. Er legte den Rest seines Butterbrotes auf den Teller und näherte sich ihr.

»Susanne, ich sehe, daß dich etwas innerlich beschäftigt, hat Adeles Zunge wieder einmal Unheil angerichtet, hat sie dir« – er zögerte einen kurzen Moment – »vielleicht von Frau Hilgers erzählt?«

Er bemerkte, wie sie zusammenschauderte und wie die Blässe in ihrem Gesicht noch um einen Schatten fahler wurde. Er zuckte mit den Schultern und fuhr ganz gleichmütig und gelassen fort: »Du scheinst der Sache doch weit mehr Wichtigkeit beizumessen, als sie verdient.«

Da erhob sie endlich ihren Blick und sah ihn forschend, fragend an, und mit schwerem, gepreßtem Atem rang sie sich die Frage ab: »Sie hat dir nahe gestanden?«

Er nickte.

»Ich habe keinen Grund, es zu leugnen. Als ich dich kennen und lieben lernte, war das selbstverständlich für mich erledigt. Du siehst, du hast keinen Grund, dich nachträglich darüber zu alterieren.«

»Keinen Grund?« In ihrer Stimme zitterte die ganze flammende Entrüstung, die sie in diesem Augenblick beherrschte. »Willst du damit sagen, daß ich nicht das Recht habe, ein ebenso empfindliches Ehr- und Feingefühl zu besitzen wie du?«

Und als er ihr nichts erwiderte, sondern nur stumm seine Schultern bewegte, fuhr sie fort: »Ich begreife nur nicht, daß du diese Frau nicht geheiratet hast, wenn du sie doch liebtest.«

»Eine Frau Hilgers heiratet man nicht«, versetzte er prompt, mit der Kraft der Überzeugung.

Sie ließ ein kurzes, heiseres Auflachen hören.

»Aber man liebt sie! Ja, wer garantiert mir denn, daß du nicht später auch einmal in bezug auf mich zu derselben Ansicht gelangst und bereust, mich geheiratet zu haben?«

»Susanne!« Es vibrierte ein wirklicher Schmerz im Ton seiner Stimme. »Du solltest dich doch nicht selbst herabsetzen.«

»Ich? Als ob du mich nicht aufs tiefste herabgesetzt hättest! Siehst du denn nicht ein, was du mir getan hast, als du meine Ahnungslosigkeit mißbrauchtest und mir von Liebe sprachst? Kann ich denn noch an dich glauben? Wer weiß, wie viele du geliebt hast vor mir und vor jener anderen! Muß ich dich nicht auf eine Stufe stellen mit jenem Herrn von Wernitz, den ich verachte aus dem Grunde meiner Seele, und dem ich nicht mehr erlauben würde, daß er auch nur meine Hand berührte?«

»Susanne!« Der Ärger schoß in ihm hoch. »Du weißt ja nicht, was du sprichst.«

Aber das Mitleid mit dem ungeheuren Schmerz, mit der tiefen seelischen Erschütterung, in deren Bann er sie sah, gewann rasch wieder die Oberhand in ihm. Und so griff er beschwichtigend, begütigend nach ihrer Hand. Doch sie riß sich ungestüm los und sprang auf und, ihn mit einem Blick voll flammender Empörung zurückweisend, schritt sie an ihm vorüber zur Tür. Und wieder verbrachte sie eine Nacht mit Denken und Grübeln, in schwerem seelischen Ringen. Sie fühlte sich erniedrigt, beschimpft, entehrt, und sie empfand es als unsühnbare Schuld, daß er es gewagt hatte, mit dieser Vergangenheit sich ihr zu nähern. Eine heiße, brennende Scham, ein unendliches Grauen erfaßte sie bei der Erinnerung an die Küsse, die er ihr gegeben. So wie sie hatte er auch die anderen geküßt, so wie sie hatte er auch die anderen in seine Arme genommen. Ihre höchsten, schönsten Empfindungen hatte sie ihm gewidmet, alles Hohe, Heilige, Süße, was in ihr war, und er – nur einen Bruchteil dessen hatte er ihr zurückgeben können. Mit Schaudern mußte sie erkennen, daß der Mann, zu dem sie einst wie zu einem höheren Wesen aufgeblickt, tief unter ihr stand. Die Überlegenheit des Mannes, an die sie immer wie an einen Glaubenssatz geglaubt, war überhaupt nicht vorhanden. In ihrer dummen Unerfahrenheit und blinden Gläubigkeit hatte sie ihn viel zu hoch eingeschätzt, und eine grenzenlose Enttäuschung und Entnüchterung war nun die Folge. Bittere Reue erfaßte sie, während sie sich der Warnung ihrer Schwester erinnerte, die sie vergebens von der Ehe hatte zurückhalten wollen. Ja, sie hatten recht die Frauenrechtlerinnen, die da predigten: »Los vom Manne!« denn für die Frau, die auf der Höhe ihrer Zeit stand, für die moderne Frau, war der Mann noch nicht geboren. Die Frau dieser Übergangszeit war ein unglückseliges Wesen. Aller Zwiespalt, alle Kämpfe der Zeit spiegelten sich in ihrem Lose: geistig, mit ihrer Anschauungsweise und ihrem besten Streben lebte sie in der Zukunft, und körperlich war sie an die Gegenwart gefesselt mit ihren alten Vorurteilen und alten entwürdigenden Gewohnheiten ...

Doch diesen trotzigen und resignierenden Gedanken folgten Anwandlungen kleinmütiger Zerknirschung, schmerzlicher Verzagtheit, und sie bedauerte, daß sie nicht war wie die vielen anderen, die solche Skrupeln und Kämpfe nicht kannten, deren Streben und Wünschen nicht darüber hinausging, schön zu sein und ihrem Mann zu gefallen, die sich willig der Autorität des Mannes unterwarfen, weil sie das für etwas Selbstverständliches, Naturgewolltes hielten ...

In den nächsten Tagen gingen die Eheleute aneinander vorbei und sprachen nur das unumgänglich Notwendige. Ja, es war unverkennbar: Susanne mied das Zusammensein mit ihrem Mann, soviel sie nur irgend konnte. Und er – er sah, daß er ohnmächtig war gegen das, was sie ihm entfremdete, und auch seiner bemächtigte sich eine tiefe Verstimmung, ein bohrender Verdruß, und er schalt sie im stillen überspannt, uneinsichtsvoll, ungerecht. Gewiß, es war eine unerfreuliche, unerquickliche Tatsache, daß die Männer in der Ehe nicht den ganzen ursprünglichen, unentweihten Schatz ihrer Liebe bieten konnten, den sie doch von der Frau verlangten, aber war er dafür verantwortlich zu machen? War das nicht eine Folge der sozialen Verhältnisse, über die der einzelne keine Macht hatte?

Doch neben dem Unwillen und der Empörung regte sich in ihm auch tiefes Mitleiden mit ihr. Auch in ihr war die Liebe sicherlich nicht erstorben, sie wurde nur immer wieder unter den Aufwallungen ihres schwer verwundeten Scham- und Ehrgefühls zurückgedrängt.

So rückte der fünfzehnte November, der Jahrestag ihrer Hochzeit, heran, ohne daß sie den Weg zueinander gefunden hatten. Vier Wochen war es her, daß er keinen freundlichen Blick mehr von ihr erhalten, daß er sie in seinen Armen gehalten und daß ihre Lippen die Annäherung der seinen geduldet hätten. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, Blumen zu bestellen, um das Bild, das sie beide im Hochzeitsgewand darstellte, zu bekränzen und einen kostbaren frischen Strauß in großer Vase auf den Tisch des Wohnzimmers zu stellen.

Er bemerkte, wie sie bei dem Anblick erblaßte, wie sie zusammenzuckte und eine unwillkürliche Biegung machte, als wollte sie wieder das Zimmer verlassen, aber als er nun rasch auf sie zutrat, und sie an den Händen zurückhielt, wehrte sie ihm nicht.

»Liebe Susanne,« redete er sie bittend an, »komm, sei wieder gut! Ich bedaure und empfinde es wie du schmerzlich, daß das Leben so unvollkommen ist und daß es so wenig Schönheit und Reinheit in der Welt gibt. Aber wenn du gerecht sein willst, wirst du einsehen, daß ich das Recht habe, von dir Verzeihung zu fordern, Verzeihung und Vergessen. Also komm, laß uns den Tag nicht in Gram und Verbitterung verbringen! War es nicht der schönste, unvergeßlichste Tag deines Lebens? Gereut es dich, ihn erlebt zu haben? Nein, nein Susanne, es kann, es soll dich nicht gereuen, denn du hast mich lieb, Susanne, du hast mich noch immer lieb, und ich – ich kann nicht leben ohne deine Liebe. Ich sehne mich nach dir – so sehr! In all den Tagen habe ich mich nach dir gesehnt, du Harte, Grausame, du Liebe, Süße!«

Er schlang den Arm um sie, und sie wehrte es ihm nicht. Es schien, als ob die bebenden, kosenden Laute seiner Stimme sich wieder wie einst in ihr Herz hineinschmeichelten, denn er fühlte, daß sie sich an ihn lehnte, und jetzt schloß sie die Augen wie in süßer Selbstvergessenheit. Schon näherte er seine Lippen den ihren, schon verspürte er den Hauch ihres schneller gehenden Atems auf seiner Wange, da – ein schroffer Ruck und sie hatte sich von ihm losgerissen.

»Nein, nein, nein!«

Er machte eine heftige Bewegung und erhob zornig drohend die Hand. Sie sah es nicht – denn sie hatte ihr Gesicht in ihren beiden Händen verhüllt, überwältigt von der stürmischen Bewegung, von dem marternden, herzpressenden Kampf in ihrer Brust.

»Laß mich!« stieß sie im Wirrwarr und Widerstreit ihrer Empfindungen hervor. »Ich kann nicht! Laß mir Zeit! Laß mir doch Zeit!«

Sie eilte in voller Aufregung davon. Er aber ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen, aufs stärkste verstimmt, gekränkt. Ärgerliche Gedanken wurden in ihm laut: zu sehr hatte er sie verwöhnt, zu viel ihr bereits nachgegeben. Er hätte die Zügel von Anfang an fester fassen sollen. Aber nun war es genug der Nachgiebigkeit, des Entgegenkommens. Das schwor er sich ergrimmt zu: keinen weiteren Schritt würde er ihr entgegentun, und sollte ihre ganze Ehe in Trümmer gehen. An ihr war es nun, zu kommen und zu bitten.


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