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XVIII.

Susanne logierte die Nacht über mit Frau Paula in einem Hotel. Am anderen Morgen begleitete sie die Freundin in ihre Wohnung. Während Frau Paula in die Küche schlüpfte, betrat Susanne das Wohnzimmer. Sie fand Herrn Reichelt übernächtig, ganz gebrochen. Er hatte die Nacht offenbar in seinen Kleidern verbracht und kein Auge geschlossen.

Er stürzte ihr trotz seiner Müdigkeit lebhaft entgegen.

»Wo ist Paula?«

Sie deutete nach der Küche.

»Sie fürchtet sich vor Ihnen.«

Eine schwache Röte lief über sein Gesicht und sein Blick senkte sich vor ihr.

»Ich schäme mich, Frau Susanne.«

Sie griff rasch nach seiner Hand.

»Das sollten Sie nicht, armer Freund. Ich halte Sie nicht für verantwortlich für das, was Sie gestern getan haben. Und das ist auch Paulas Ansicht.«

Er griff sich mit beiden Händen an die Stirn.

»Offen gestanden, ich habe nur eine sehr unklare Erinnerung. Ich habe es wohl sehr arg getrieben?«

Sie half ihm rasch über das peinliche Thema hinweg.

»Also ich darf Paula rufen? Und Sie versprechen mir, ihr keine harten Worte mehr zu sagen?«

»Das verspreche ich Ihnen.« Ein Schatten senkte sich auf sein Gesicht. »Ich habe in dieser Nacht viel nachgedacht, und ich habe gefunden, daß die Hauptschuld mich selber trifft. Jawohl! Ich blinder Tor, ich Prinzipiennarr l Ich habe geglaubt, meiner Pflicht als Mann nachleben zu müssen und habe darüber meine Pflicht als Vater aufs sträflichste vernachlässigt. Ich hätte nicht dulden dürfen –« Er unterbrach sich. »Doch das ist ja nun alles gegenstandslos, wir haben ja nun kein Kind mehr.«

Seine Stimme zitterte und eine Träne rann ihm über die eingefallenen bleichen Wangen. Sie drückte ihm noch einmal warm die Hand.

»Um so mehr müssen Sie jetzt einig und innig zueinander halten, Paula und Sie!«

Sie eilte hinaus und kam mit der Freundin zurück. Und während die beiden Ehegatten einander ergriffen umschlungen hielten, schlich sie sich leise davon. Als die Stunde herangekommen war, in der sie ihren Mann im Rathause wußte, kehrte sie noch einmal nach ihrer Wohnung zurück, um einen Koffer mit der nötigsten Leibwäsche und mit Kleidern zu füllen. Dann ließ sie eine Droschke holen und fuhr nach dem Bahnhof. Ihrer Schwester teilte sie durch ein Telegramm ihre Ankunft und die Stunde ihres Eintreffens mit. Ella und »Tante Kramer« erwarteten sie auf dem Bahnhof. Beide waren zartfühlend genug, keine Fragen zu stellen. Sie selbst gab nur eine kurze, hastige Erklärung, die deutlich verriet, daß ihr ein näheres Eingehen nicht erwünscht war. Sie sagte, daß Mißhelligkeiten zwischen ihr und ihrem Mann vorgefallen wären, und daß sie deshalb für einige Zeit, vielleicht für länger, sein Haus verlassen habe. Sie bezog wieder das Zimmer, in dem sie als Mädchen geschlafen und studiert hatte. Ella begegnete ihr freundlich, ja mit größerer Wärme als sonst. Dabei vermied sie ängstlich, von Susannes Eheleben zu sprechen oder auch nur die geringste Frage über die Ursache und den Charakter des Ehezerwürfnisses an ihre Schwester zu richten. Sie begnügte sich, ihr Interesse und ihr Mitgefühl durch Mienen und Gebärden zum Ausdruck zu bringen, indem sie gelegentlich mit sanfter Hand über Susannes blasse abgehärmte Wangen strich und sich einmal sogar so weit hinreißen ließ, einen Kuß auf den gesenkten Scheitel der still, in sich versunken Dasitzenden zu drücken.

Dagegen konnte »Tante Kramer« ihre Neugierde nicht lange bezähmen. Als sie erst wieder ein bißchen vertrauter miteinander geworden waren, nahm die ältere die jüngere eines Tages bei der Hand.

»Ist denn etwas so Schlimmes vorgefallen, Susanne? Es wird doch um Gottes willen nicht zur Scheidung kommen?«

»Wahrscheinlich.«

Die alte Frau schlug erschrocken, bekümmert die Hände zusammen.

»Nur das nicht, nur das nicht, Susanne! Eine geschiedene Frau, das ist nicht Fisch, nicht Fleisch, nicht Frau und auch nicht Mädchen! Das ist das allerunglücklichste Wesen von der Welt!«

Um Susannes Mundwinkel zuckte es schmerzlich.

»Ich bin der Ansicht, daß eine Frau, die sich von ihrem Mann nicht verstanden und nicht geachtet sieht, noch tausendmal unglücklicher ist.«

Tante Kramer machte ein sehr erstauntes Gesicht und schüttelte entschieden mit dem Kopf.

»Nicht geachtet? Wie meinst du denn das? Ich kenne ja deinen Mann. Das ist kein schlechter Mensch. Spielt er denn, oder trinkt er, oder hält er's mit schlechten Frauenzimmern?«

Susanne lächelte.

»Verzeihe mir, aber du hast sehr primitive Anschauungen von der Ehe, Tante Kramer. Meinst du, daß jede Ehe schon glücklich ist, wenn der Mann nicht spielt, nicht trinkt und sonst nicht liederlich lebt?«

Die alte Frau nickte energisch.

»Das ist doch die Hauptsache. Was kann denn sonst noch vorkommen? Sein Auskommen hat dein Mann auch, und wenn's mal 'n bißchen Uneinigkeit gibt, deshalb läuft man doch nicht gleich auseinander.«

Susanne erhob sich mit einer ungeduldigen Bewegung.

»Lassen wir das!« sagte sie kurz. »Du würdest mich doch nicht verstehen. So etwas muß jeder mit sich selbst abmachen.«

Sie verließ das Zimmer, während Tante Krämer mißbilligend, beleidigt ihren grauen Köpf schüttelte und ihrem Empfinden in dem Ausruf: »Neumodische Frauenzimmer!« Luft machte. Aber sie wagte doch von da ab nicht mehr, das heikle Thema zu berühren.

Mit peinlichem Gefühl sah Susanne ihrer ersten Begegnung mit den Geschwistern Möller entgegen. Aber auch hier war man taktvoll bemüht, die Empfindlichkeit der Heimgekehrten möglichst zu schonen. Fräulein Dr. Anna schüttelte, wie es ihre Art war, Susanne derb die Hand.

»Das ist recht, daß du wieder da bist«, sagte sie ermunternd und offenbar sehr befriedigt. »Ich habe es nicht anders erwartet. Du bist wirklich zu schade für die Ehe.«

Siegfried legte, wie es seine Gewohnheit war, seine Hand für einen kurzen Moment leicht, kaum fühlbar in die Susannes und sagte dabei: »Nun werden wir wieder zusammen arbeiten, nicht wahr, Susanne?«

Sie nickte.

»Wenn du willst, Siegfried!«

Es war in der Tat ihre Absicht, ihr Studium wieder aufzunehmen und sich für das Oberlehrerinnenexamen vorzubereiten, denn die Zinsen des von den Eltern ererbten Vermögens reichten nicht zum Lebensunterhalt. Wohl hatte ihr Gatte ihr bereits in der ersten Woche einen Geldbetrag zugesandt, aber sie hatte das Geld ihm umgehend zurückgeschickt. Schon vorher hatte sie ihm mitgeteilt, daß sie wieder wie früher mit ihrer Schwester leben würde, und daß sie ihm anheimstelle, die Ehescheidungsklage gegen sie wegen böslichen Verlassens anzustrengen. Er aber hatte erwidert, daß er es damit nicht so eilig habe, er hoffe im Gegenteil, sie würde, wenn erst die erste Verbitterung vorüber wäre, wieder den Weg zu ihm finden. Mit einem bitteren Lächeln hatte sie den Brief gelesen. Natürlich, in seinem Herrengefühl erwartete er, sie solle kommen, ihr Unrecht einsehen, während er von seiner Unfehlbarkeit überzeugt war. Aber er irrte sich, sie dachte auch nicht einen Augenblick an die Möglichkeit einer Wiedervereinigung. Sie hatte nichts zu bereuen. Im Gegenteil, sie hatte viel ertragen, mancherlei Unrecht erduldet und gegen ihre Überzeugung sich unterworfen, bis sie eingesehen hatte, daß sie vor dem moralischen Bankerott stand. Es schien, daß man zur Ehe nicht tauglich war, wenn man soviel geistige Bildung sich angeeignet hatte, um sich ein eigenes Urteil bilden zu können. Selbständigkeitsdrang mochte gut sein im Kampf ums Dasein, im Eheleben war er für eine Frau vom Übel.

Susanne arbeitete mit einem Feuereifer. Sie mußte ja das, was sie in dem Ehejahr vergessen hatte, wieder auffrischen, bevor sie den Besuch der Vorlesungen wieder aufnehmen und ihr Studium zum Abschluß bringen konnte. Siegfried Möller, der sein Staatsexamen schon hinter sich hatte, war ihr dabei von großem Nutzen. Tag für Tag repetierte er stundenlang mit ihr, in ihrem kleinen Zimmer, ihr wie einst gegenübersitzend. Nie wurde zwischen ihnen der letzten Vergangenheit gedacht, es war, als wenn das Ehejahr in Susannes Leben überhaupt nicht vorhanden gewesen. Und doch geschah, was früher nie vorgekommen war: Siegfried Möller wurde zuweilen zerstreut, ließ seine Blicke verwundert, prüfend auf der jungen Frau ruhen und einmal unterbrach er sich mit dem Ausruf: »Weißt du, Susanne, du hast dich doch sehr verändert!«

»Wieso denn?«

»Dein Gesicht hat einen ganz andern Ausdruck, und dann bist du auch stärker, voller geworden.«

»Ich bin eben ein Jahr älter.«

Aber der Kandidat schüttelte mit dem Kopf.

»Das ist es nicht. Ich bin doch auch älter geworden. Habe ich mich denn auch so verändert?«

Sie betrachtete ihn eine Weile prüfend und lächelte.

»Nein. Nicht im geringsten,. Du siehst noch geradeso aus, wie damals.«

»Nun also. Deine Erscheinung aber hat einen ganz anderen Charakter bekommen, ich möchte sagen einen frauenhafteren –«

Doch sie unterbrach ihn unwirsch.

»Laß doch das! Das ist doch wirklich ganz nebensächlich. Die Hauptsache ist, daß ich geistig so rasch als möglich wieder dieselbe werde wie früher.«

Sie war vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein bei der Arbeit, um das Ziel zu erreichen. Aber neben diesem Bestreben war noch etwas anderes, das sie unablässig anspornte und antrieb. Das war die Furcht vor der Erinnerung, das Verlangen zu vergessen. Einmal zwang eine Erkältung sie, ihre Arbeit für ein paar Tage auszusetzen und im Bett zu bleiben. Da drängte sich der Vergleich zwischen einst und jetzt von selber auf. Sie erinnerte sich, daß sie einmal während ihrer letzten Sommerreise ein paar Tage an einer Halsentzündung krank gelegen. Fast den ganzen Tag über hatte Eugen an ihrem Bett gesessen, er hatte ihr das Gurgelwasser gereicht und ihr lindernde Umschläge gemacht. In der Zwischenzeit hatte er ihre Hand in der seinen gehalten, und mit leiser, sanfter Stimme zu ihr gesprochen. Alle seine Worte und seine Mienen und die Art, wie er sie pflegte und sich bemühte, ihr über die langweilige Zeit und über ihre Schmerzen hinwegzuhelfen, hatten eine so ungemein wohltuende Wärme und Innigkeit ausgestrahlt. Es war ein so wohliges Gefühl gewesen, in sein liebevolles zu ihr herniederblickendes Gesicht zu schauen, und selbst wenn sie die Augen geschlossen, wirkte das Bewußtsein, ihn in ihrer Nähe zu wissen, befreiend, beruhigend, sanft einlullend.

Jetzt war sie den größten Teil des Tages allein. Ella war so beschäftigt, daß sie sich kaum die Zeit zu einem kurzen viertelstündigen Krankenbesuch abringen konnte, und auch »Tante Kramer« konnte sich ihr nur an den späten Nachmittag- und in den Abendstunden widmen. Und selbst wenn sie sich mit ihrem Strickstrumpf zu ihr setzte, war ihr ihre Gegenwart eher lästig als angenehm. Das Klappern der Nadeln, der Klang der überlauten harten Stimme, ihre Gewohnheit, die nichtigsten Dinge in einem breiten, uneindämmbaren Redefluß zu erörtern, regte sie auf und trug nicht dazu bei, ihr das körperliche Unbehagen weniger fühlbar zu machen und die aufgeregten Nerven zu beruhigen.

Auch bei anderen Gelegenheiten, wenn sie sich zuweilen des Nachmittags ermattet für ein halbes Stündchen auf die Chaiselongue streckte oder sich – meist allein – einen kurzen Spaziergang gönnte, arbeitete die Phantasie in ihr und malte ihr allerlei kleine Bilder aus der Vergangenheit. Früher bei ihren täglichen Spaziergängen mit Eugen pflegte er seine Hand auf ihren Arm zu legen und zärtlich an sich zu drücken. Nie hatte, wie es zuweilen jetzt geschah, ein Unverschämter oder ein Betrunkener sie anzusprechen oder zu belästigen gewagt. Dicht nebeneinander waren sie dahingeschritten, lebhaft miteinander plaudernd und ab und zu einen lächelnden, freundlichen Blick tauschend. Es war kein Hasten und ängstliches Laufen gewesen wie jetzt, sondern mit Muße und mit Genuß waren sie promeniert, so lange es ihnen behagte. Anregend und erfrischend zugleich war es gewesen und noch in der Erinnerung färbten sich ihre Wangen und das Blut pulsierte rascher und das Herz klopfte lebhafter.

Freilich, wenn sie dann aus dieser Versunkenheit wieder zur Gegenwart erwachte, biß sie sich jedesmal ärgerlich auf die Lippen und verhöhnte sich selbst als sentimental und phantastisch. Waren nicht diesen unbedeutenden Lichtblicken in ihrem Eheleben bittere Demütigungen und Erniedrigungen gefolgt, mit denen die kleinen Unannehmlichkeiten, denen sie jetzt zuweilen ausgesetzt war, gar nicht in Vergleich gebracht werden konnten? War sie jetzt nicht eine freie, unabhängige Persönlichkeit, die tun und lassen konnte, was ihr beliebte, der sich kein fremder Wille, keine fremden Anschauungen aufzwangen, die ihren Neigungen und Ansichten unbehindert nachgehen konnte? Und war das nicht die Hauptsache?


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