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XXII.

Susanne war erbittert gegen sich selber. Von Tag zu Tag verlor sie mehr die Lust am Studieren. Der erste fieberische Eifer war verraucht und an seine Stelle war eine sich täglich steigernde Interessenlosigkeit und Unlust getreten. Es kostete ihr eine ungeheure Anstrengung, ihre Gedanken auf die abstrakten, trocknen Gegenstände ihres Studiums zu konzentrieren. Mit aller Willensanstrengung konnte sie es nicht hindern, daß mehr und mehr eine träumerische Stimmung sie in Gedanken und Erinnerungen einspann, die weit ablagen von den in den Vorträgen der Professoren behandelten Gegenständen und den Materien, mit denen sie sich in ihrem Studierzimmer zu beschäftigen hatte. Die Buchstaben in ihren Kollegienheften tanzten vor ihren verschwimmenden, zerstreuten Blicken und ihre Phantasie malte ihr einen Männerkopf mit energisch geschnittenen Zügen und dunklem Vollbart und sie hörte eine sonore, von tiefer Innigkeit durchzitterte Stimme. Überall, wohin sie ging und wo sie sich befand, schwebte ihr dieses Bild vor und trieb ihr Herz zu schnelleren, unruhevollen Schlägen. Es war nichts Seltenes, daß sie mitten beim Arbeiten die Bücher zur Seite schob und ihre Stirn in die Hände vergrub und sich widerstandslos dem Spiel ihrer Phantasie überließ, bis sie, plötzlich wieder erwachend, aufsprang, zum Waschbecken eilte, um die glühenden Wangen zu kühlen. Nichts half es, daß sie dann, zornig gegen sich selbst, sich mit den geballten Händen vor die Stirn schlug, sich die Lippen blutig nagte und sich wieder emsig über ihre Bücher beugte, es dauerte gar nicht lange, da glätteten sich die Denkfalten, die angespannten Mienen wurden schlaff und die Blicke schweiften wieder zerstreut, ziellos über die Blätter hinweg.

Einmal – sie wußte selbst nicht, wie sie darauf gekommen – zuckte plötzlich ein Bild aus der Vergangenheit in ihrem Geiste auf, das in höchstem Grade aufstachelnd auf sie wirkte und sie innerlich wie in Flammen setzte. Sie sah sich im Theater an der Seite ihrer Cousine Adele Portig und drüben in der Loge jene fremde, aufgeputzte, kokette Brünette, von der ihr die Cousine erzählt hatte, daß sie Eugens Geliebte gewesen.

Es war als wenn plötzlich ein Fieber in ihren Adern entzündet wäre. Sie sprang auf, eilte an das Fenster und lehnte den glühenden Kopf gegen die kühlen Scheiben und ohne daß sie sich dessen bewußt war, stiegen ihr schwere Seufzer aus der bedrückten Brust herauf. Sie stürzte wieder in das Zimmer zurück, warf sich der Länge nach auf das Sofa und wühlte stöhnend ihr flammendes Gesicht in die Polster. Noch nie hatte der Schmerz, bittere Reue ihre Seele so zerfleischt. Wenn er nun von neuem in die Netze der Versucherin fiel, war sie nicht schuld? Wußte sie sich nicht den Vorwurf machen, daß sie ihn selbst in ihre Arme getrieben? Heiße, zuckende Angst durchzitterte sie, ein marterndes, wühlendes Gefühl fiebernder, unerträglicher Pein. Es war ihr, als habe sie ihn erst jetzt verloren. Warum war sie nicht zurückgekehrt, als er ihr geschrieben, anstatt ihm kalt, trotzig, ablehnend zu antworten? Nun war es zu spät – zu spät!

Ein paarmal packte sie der Impuls aufzuspringen und so wie sie war nach dem Bahnhof zu stürzen, um zu ihm zu eilen und ihn zu schützen vor den Verführungskünsten der anderen und mit ihr zu kämpfen um ihn. Aber freilich, die Scham, das Selbstgefühl hielt sie von dem Äußersten zurück. Sie wappnete sich mit all ihrem Stolz und ihrem Ehrgefühl, um nicht zu unterliegen. Wenn er sie so leicht vergessen konnte, wenn er so schwach war, daß er den Lockungen eines leichtsinnigen skrupellosen Geschöpfes ohne weiteres nachgab, dann war er auch ihrer Liebe nicht wert. Aber ach, der armselige kalte Stolz ging bald wieder schmählich in Trümmer und von neuem erfaßten sie Angst und Reue und wieder haderte sie unter Seufzern und Tränen mit sich.

In diesem Gemütszustand war es ihr unmöglich zu arbeiten; ihre innerliche Unruhe litt sie nicht im Hörsaal, wo man still an seinem Platz sitzen mußte und nicht jäh aufspringen und umherlaufen durfte, wenn man es vor Bangigkeit und stachelnden, quälenden Phantasiebildern nicht mehr aushalten konnte. Wie schal und unwichtig kam ihr auf einmal ihr Studium und die ganze Wissenschaft vor. Was halfen ihr die Kenntnisse, die sie sich erworben hatte, was nützten ihr der Titel und die Stellung einer Oberlehrerin, den sie erstrebte, wenn ihr das blühende Leben, das Süßeste, Schönste verloren ging, das sie besessen hatte?

Nur ein einziges Mittel gab es, wenigstens für Minuten, für Viertel- und halbe Stunden, ihre Furcht, ihre Neue, ihren Schmerz zu betäuben. Das war ein Besuch in der kinderreichen Familie im oberen Stockwerk. Angesichts des freundlichen, ermunternden Lächelns der guten Frau Bahlke, unter den fröhlich lärmenden, jauchzenden Kindern schwieg die Stimme in ihrer Brust, wich der Druck, der ihr das Herz zusammenkrampfte. Das kluge Auge der erfahrenen, gütigen Frau sah wohl, was in dem Herzen der Jüngeren vorging; ihr blieben das unruhige Flirren der Blicke, der kummervolle Zug um den Wund, die Spuren des unablässigen inneren Ringens und Kämpfens in den Mienen der anderen nicht verborgen, und wenn sie auch mit Worten nicht daran rührte, oft gab sie doch durch eine plötzliche stumme Gebärde oder durch einen mitleidigen, tröstenden Blick ihrem Mitgefühl Ausdruck. Eines Abends aber, als sie sich allein im Schlafzimmer mit den eben zur Ruhe gebetteten kleinsten Kindern befanden, konnte sie sich nicht länger zurückhalten. Die neben ihr Sitzende mit einem Arm umschlingend und sanft an sich ziehend, flüsterte sie: »Geht es denn wirklich nicht? Können Sie denn nicht wieder zu ihm zurück, liebe Frau Susanne?«

Da drückte die im tiefsten Innern Getroffene ihr zuckendes Antlitz an die Brust der Älteren und schluchzte bitterlich. Die erschütterte Frau Bahlke ließ die Weinende eine Weile gewähren, sie in einem fort liebkosend, streichelnd, dann ergriff sie ihre beiden Hände und sagte in warmem Ton, aus dem das ehrliche Gefühl überzeugend herausklang: »So, kleine Frau, wenn Sie nun wollen, dann schütten Sie einmal ihr armes gequältes Herzchen ordentlich aus! Es wird Sie erleichtern und ich – es ist nicht Neugierde, die mich bewegt, sondern der Wunsch, Ihnen zu raten, zu helfen, wenn es irgend geht.«

Da richtete sich die Schluchzende auf und begann leise, beschämt zu sprechen. Dennoch tat es ihr sichtlich wohl, daß sie einmal das, was sie bisher still in ihrer Brust verschlossen hatte, einer verständnisvollen, mitfühlenden Seele anvertrauen konnte.

Frau Bahlke hörte aufmerksam, aufs stärkste interessiert zu. Ab und zu schüttelte sie mit dem Kopf oder warf eine kurze Frage ein. Als Susanne geendet hatte, hob sie den Blick fragend zu der Älteren empor.

»Sie haben beide schuld«, gab Frau Bahlke ihrer Meinung Ausdruck. »Er sowohl wie sie. Er hätte sein Temperament, seine Herrennatur mehr zügeln, er hätte Ihnen mehr Geduld, mehr Nachsicht und mehr Güte beweisen sollen, das größere Unrecht aber ist auf Ihrer Seite. Sie hätten berücksichtigen müssen, daß er aufgewachsen ist in den alten Anschauungen und daß das, was Sie ihm am meisten angerechnet haben, nicht sein Verschulden ist, sondern das der Gesellschaft, innerhalb deren er lebt. Wie konnten Sie verlangen, daß er sich gewissermaßen im Handumdrehen von den Vorurteilen, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren, freimachen, daß er sich um ihretwillen zu denen, mit denen er amtlich und gesellschaftlich verkehren muß, in Gegensatz bringen sollte? Glauben Sie, daß einer Frau Eigensucht, Stolz, Selbstgefühl besser ansteht als Hingebung, Aufopferung und Selbstvergessen? Zu geben, dem Geliebten Staffeln zu bauen, ist für ein wahrhaft liebendes Weib viel beglückender als im kleinlichen, selbstischen Dünkel sich dem Manne zu verschließen und in erster Linie an sich selbst zu denken. Das schlimmste aber ist, daß Ihrer Ehe eins gefehlt hat –«

»Eins?«

»Ja, eins: die Vollendung der Ehe, das Kind. Ihr falscher Ehrgeiz, ihr Frauenstolz hätte sich nicht gebläht und wäre nicht aufgekommen, und nie wäre es Ihnen eingefallen, von ihm zu gehen, wenn Ihrer Ehe ein Kind beschieden gewesen wäre, das sie dankbar, froh, ergeben und demütig gestimmt haben würde.«

Das Wort traf Susanne mit seiner großen Wahrheit wie eine Offenbarung, und ihr Blick flog instinktiv zu den Betten der beiden Kinder hinüber, die mit ihren rot geschlafenen Bäckchen wie zwei Engel aussahen. Eine warme Welle wogte in ihr empor, ein heimliches, süßes Sehnen wurde in ihr wach. Auf ihren blassen Wangen erschienen rote Rosen, und in ihren Augen glomm ein intensiveres Leuchten. Ein Seufzer heißen Bedauerns rang sich aus ihrer hastig atmenden Brust herauf.

Von diesem Tage an hatte Susannes Sehnen einen bestimmten Punkt gefunden, auf den es sich konzentrierte. Die Äußerung ihrer älteren Freundin verließ sie nicht mehr. Sie begann jetzt die Ehe von einer ganz anderen Seite zu betrachten, in einem anderen Sinne aufzufassen als bisher. »Die Vollendung der Ehe: das Kind!« hatte Frau Bahlke nicht so gesagt? Und wenn ihr nun das Kind beschieden gewesen wäre, hätte sich ihre Ehe dann anders gestaltet, wäre sie dann glücklicher geworden? Sie vertiefte sich angelegentlich, mit allen Sinnen in diese Frage, und immer wieder malte sie sich das Leben aus, wie es sich ihr gestaltet haben würde, wenn in seinem Mittelpunkt ein so süßes, kleines Wesen gewesen wäre, wie sie es täglich in den Armen ihrer neuen Freundin erblickte. Wenn in ihr die Phantasie zu arbeiten begann, dann kam ihr das trockne, theoretische Studium widerwärtig, überflüssig, geradezu hassenswert vor. Mit verächtlicher, geringschätziger Gebärde warf sie ihre Bücher in die Ecke und gab sich ganz dem verlockenden, anheimelnden, beglückenden Bilde hin, das sie sich in allen Einzelheiten ausmalte. Wie sie ihr Kind betreute, wie keine Stunde des Tages verging, ohne daß sie sich mit ihrem Liebling beschäftigte! Des Morgens hielt sie es in das Bad, die drallen, rosigen Gliedchen von allen Seiten mit dem laulichen Wasser bespülend. Darauf bettete sie es in dem sauberen, schneeigen Linnen, nahm es auf den Schoß und reichte ihm die Nahrung. Das war wohl einer der schönsten Momente des Tages für eine junge Mutter, zuzuschauen, wenn ihr Liebling mit vollen Pausbacken an ihrer Brust Leben und Kraft in sich hineinsog. Sobald das dralle kleine Geschöpf satt war, wurde es in den Schlaf gesungen.

Welch ein Genuß zu beobachten, wie die Äuglein zu blinzeln begannen, kleiner und kleiner wurden, wenn der müde Liebling sich streckte und gähnte, die kleinen runden Ärmchen reckte und endlich sich dem Allüberwinder Schlaf ergab! Dann behutsam, husch, husch ganz leise den Schläfer auf frischem, weichem Lager gebettet. Und wenn dann später der junge Vater vom Amt nach Hause kam, dann schlichen sie beide auf den Zehenspitzen an sein Bettchen, und Arm in Arm standen sie und schauten glückstrahlend, voll süßester Genugtuung auf den kleinen Schläfer hinab, und sie schmiegte sich voll überströmender Dankbarkeit an den Mann, dem sie das höchste Glück des Lebens verdankte, das tiefste, stärkste, reinste, stolzeste und beglückendste Gefühl des Menschenherzens ...

Susanne staunte und verwunderte sich alle Tage mehr, daß sie nicht schon früher daran gedacht, das alles so empfunden hatte! Und nun, wo ihr die Erkenntnis aufgegangen, war es zu spät. Nun blieb ihr nichts, als verzweifelt die Hände zu ringen, als zu weinen und zu klagen.

Aber war es denn zu spät? Wenn sie zurückkehrte, wenn sie ihn bat, sie wieder bei sich aufzunehmen, würde er sie zurückweisen? Stundenlang lag sie in der Nacht wach und grübelte voll Zweifel und Bangen. Und auch den Tag über wurde sie von dieser Frage verfolgt, die sich mitten in der Vorlesung und während ihrer häuslichen Arbeiten in ihre Seele schlich. Immer wieder rief sie sich das Bild ihres Mannes in das Gedächtnis, überdachte sie alle Einzelheiten ihres Zusammenlebens und zergliederte seine Charaktereigenschaften bei sich. Würde er die häßlichen Auftritte vergessen, die zwischen ihnen vorgefallen, ihren Widerspruch, ihre Lieblosigkeiten? Würde er das harte Wort zurücknehmen, das er ihr in der letzten Minute ihres Zusammenseins ins Gesicht geschleudert? Würde er bereit sein, ein neues Leben mit ihr zu beginnen?

Fast kein Tag verging, wo sie nicht einmal der Impuls durchzuckte, zu ihm zurückzukehren. Aber Mutlosigkeit und Scham und ein Rest von Bedenken und Trotz hielten sie immer wieder zurück. Wohl ein Dutzend Briefe hatte sie schon begonnen, um sich mit ihm schriftlich über die Frage auseinanderzusetzen, die im Mittelpunkt ihres Denkens und Sehnens stand. Aber immer wieder zerriß sie das Geschreibsel, das ihr bald zu kalt, zu geschraubt und wirkungslos, bald zu warm, zu innig und zu würdelos-demütig vorkam.

Vergebens war es, daß sie wieder im Studium Betäubung und Vergessen suchte. Nach fieberischem, heftigem, unnatürlich ungestümem Anlauf erlahmte ihre Lust und ihre Kraft gar bald und sie erkannte, daß sie in diesem seelischen Zwiespalt unfähig war zu ernster, anhaltender Arbeit. Die Vorlesungen durchträumte sie, wenn sie sich gezwungen hatte sie zu besuchen, und zu Hause suchte sie anstatt des Lehrbuches in Goldschnitt gebundene Prachtwerke hervor, in denen sie seit ihren frühesten Mädchenjahren nicht mehr geblättert hatte. Und mit sehnsuchtsvoll sich weit öffnendem Herzen ließ sie den Zauber weicher, stimmungsvoller Lyrik auf sich wirken, und die Reime, die in schön klingenden Rhythmen die uralten ewigen Mädchengefühle besangen, fanden ein jubelndes, schluchzendes Echo in ihrer Brust.

»Seit ich ihn gesehen, Glaub' ich blind zu sein; Wo ich hin nur blicke, Seh' ich ihn allein; Wie im wachen Traume Schwebt sein Bild mir vor, Taucht aus tiefstem Dunkel Heller nur empor. Sonst ist licht und farblos Alles um mich her, Nach der Schwestern Spiele Nicht begehr' ich mehr, Möchte lieber weinen Still im Kämmerlein; Seit ich ihn gesehen, Glaub' ich blind zu sein.« Keines der Gedichte ergriff sie so tief wie das schlichte Chamissosche Lied, keines gab so treu und wahr ihre Empfindungen wieder und riß sie so widerstandslos mit sich fort, keines entfachte in ihr eine so verzehrende Sehnsucht, ein so heißes Weh.

Wenn das Sehnen und die Traurigkeit überhand nahmen, so daß sie es nicht mehr ertragen konnte, flüchtete sie aus ihrer Einsamkeit zu Menschen, um sich zu zerstreuen. Täglich in den Nachmittagsstunden fand sich bei einer ihrer Freundinnen ein Zirkel junger Mädchen zusammen, Schülerinnen aus der Sekunda des Mädchengymnasiums, die gemeinsame Arbeitsstunden abhielten, um mit vereinten Kräften ihr Ziel: die Versetzung in die Prima zu Ostern zu erreichen. Die Gymnasiastinnen waren der Studentin sehr dankbar, wenn sie ihnen half, die Schwierigkeiten des Livius und der Algebra und Geometrie zu überwinden.

Alle waren mit Eifer und Fleiß bei der Sache. Der Wettbewerb, eine Aufgabe am schnellsten und am besten zu lösen, stachelte ihren Ehrgeiz und ihre Kräfte bis zum äußersten an. Und dennoch erfaßte Susanne ein heißes Weh, wenn sie die über die Bücher gebeugten Rücken sah, die schlaffe, müde Haltung, die vom vielen Stubenhocken gebleichten Gesichter, die Denk- und Sorgenfalten in den Stirnen und den trocknen, freudlosen Zug um die blutleeren Lippen. Eine von ihnen hatte etwas Ähnliches, Verbittertes, Hoffnungsloses, unnatürlich Angespanntes in ihren Mienen und ihrem Wesen, wie sie es bei sich selbst empfand. Hatte auch sie eine ähnliche herbe Erfahrung, der Bankerott ihres Glaubens und Vertrauens zu dem Wann, der Drang nach Ersatz, Trost und Zuflucht vor der Verzweiflung zum Studium getrieben?... Zwei von den anderen hatten trotz ihrer jungen Jahre nichts Frisches, Elastisches, Jugendliches mehr an sich, nichts von der Anmut, Grazie und Lieblichkeit des jungen Mädchens. Sie schienen nie jung und fröhlich und sorglos gewesen zu sein und nie etwas anderes als die Arbeit und den Ernst des Lebens vor sich gesehen zu haben. Gemessen war jede ibrer Bewegungen, pedantisch und engherzig ihre Äußerungen und Ansichten.

»Geborene alte Jungfern!« pflegte Frau Bahlke solche wenig erfreulichen Mädchenerscheinungen zu nennen.

Die letzten zwei waren Töchter aus vornehmen, wohlhabenden Familien. Ihnen war das Studium offenbar nur Modesache; sie betrieben es aus Eitelkeit, aus Sensationslust, aus Sport. Sie wollten sich interessant machen, den Neid ihrer weniger bevorzugten Schwestern erregen und sich einen Reiz mehr geben in den Augen der Männerwelt. Die Törinnen! Sie waren Opfer der Suggestion, der Lehren, die Anna Möller und andere wohl von Geburt schon Anormalen, der Liebe Verlorenen ihnen in die Ohren schrien. Sie brachten ihre Frische, ihre Gesundheit und auch ihre natürlichen Mädchenreize dem Nachahmungstrieb und einem falschen Ehrgeiz zum Opfer. Und während sie eine neue, ganz moderne Anziehungskraft zu gewinnen trachteten, büßten sie zuletzt gerade den sieghaftesten weiblichen Zauber ein, wenn nicht gar die Lust und die Eignung zur Ehe ...

Am liebsten suchte Susanne die Familie im oberen Stockwerk ihres Hauses auf. Hier war Gesundheit und Natürlichkeit, hier war Frohsinn und Liebe, hier wohnten Harmonie und Glück. Häufig verbrachte Susanne ihre Abende bei dem freundlichen Ehepaar, und wenn die Kinder, auch die älteren, zu Bett gebracht waren, saßen die drei Erwachsenen noch lange in anregendem Gespräch beieinander. Es war natürlich, daß Frau Bahlke, die selbst einst überzeugte Frauenrechtlerin gewesen und dennoch sich zur musterhaften Hausfrau und Mutter entwickelt und umgebildet hatte, viel über die Frauenfrage nachgedacht und mit ihrem Mann darüber debattiert hatte. Für Susanne war es ein hoher Genuß, den Ansichten der reifen, in Theorie und Praxis geschulten und erfahrenen Frau zu lauschen. Nach solchen Abenden kam sie immer mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen, in starker innerer Bewegung nach ihrem Heim zurück, und viel zu erregt, um schlafen zu können, pflegte sie die Eindrücke und Ergebnisse der Debatten des Abends in Form von Aphorismen und Leitsätzen auf dem Papier zu fixieren, die sie dann wieder und wieder überlas, durchdachte und bei sich verarbeitete.


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