Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXIII.

Eines Morgens erhielt Susanne einen Brief von ihrem Mann. Sie erkannte seine Handschrift sofort, und das Herz pochte ihr in gewaltigen Schlägen, als sie das Kuvert mit den bekannten Schriftzügen in der Hand hielt. Seit dem einen Male – es waren nun drei Monate her – hatte sie keine Zeile mehr von ihm erhalten. Hatte er alle Hoffnung aufgegeben, teilte er ihr nun mit, daß er die Ehescheidungsklage eingereicht habe?

Ihre zitternde Hand zögerte, den Umschlag aufzureißen. In diesem Augenblick, der sie mit dem Schicksal bedrohte, ihre ganze Zukunft, ohne ihn leben zu müssen, empfand sie, wie tief sie ihn liebte, tiefer, stärker, verlangender als je.

Sie raffte alle ihre Selbstbeherrschung, ihre Kraft zusammen. Dennoch stockte ihr fast der Atem, während sie den Brief entfaltete.

»Geliebte Susanne!«

Sie atmete hoch auf. Es war die alte schlichte, innige Anrede, die er ihr auch früher, in ihrer Brautzeit, gegeben. In wachsender Erschütterung, mit überströmenden Augen las sie weiter: »Ich habe morgen früh einen schweren Gang anzutreten, und da ist es an der Zeit, Dich einen Blick in meine Seele tun zu lassen, Dir gewissermaßen eine Generalbeichte abzulegen. Ich weiß nicht, wie Du jetzt innerlich zu mir stehst, und ob Du ähnliche innere Wandlungen durchgemacht hast, wie ich in den letzten Wochen und Monaten. In mir ist alles Reue, Weichheit, Zerknirschung, und nur ein Wunsch beherrscht mich ganz: wieder gut zu machen, ein neues Leben mit Dir zu beginnen. Wenn mir das vergönnt wäre, diesmal – dessen bin ich absolut sicher – würde es anders mit uns werden. Wie oft habe ich mich nicht in dieser Zeit an den Kopf gefaßt und habe mich gefragt: Wie war es denn nur möglich? Wie konnte es denn nur sein..? Ich habe Dich doch lieb, und Du hattest mich lieb, und dennoch sind wir auseinandergegangen wie zwei Feinde, die miteinander nicht auskommen konnten. Um es gleich herauszusagen: ich erkenne an, daß die Hauptschuld an mir lag. Ja, denn ich hätte auch da, wo ich Dich im Unrecht sah, bitten, überreden, überzeugen sollen anstatt zu befehlen, anstatt mich nur auf den Standpunkt des Herrn im Hause zu stellen. Ich schäme mich vor mir selber. Befiehlt man überhaupt einer Frau von Deiner geistigen Bildung, von Deinem Arteil, von Deiner feinen seelischen Konstruktion? Wie jämmerlich muß es wohl um meine Gründe bestellt gewesen sein, wie wenig habe ich die Liebe zu Dir betätigt, daß ich mir nicht anders zu helfen wußte als durch den Befehl, durch meinen Zorn! Woher kamen denn im Grunde unsre Konflikte? Doch nur aus dem uralten Zwiespalt zwischen männlichem und weiblichem Empfinden, der heute mehr als je die Welt in zwei feindliche Lager spaltet: in Mann und Weib. Du bist eine moderne Frau, ich aber habe mich Dir nicht als moderner Mann bewiesen. Erst jetzt sehe ich ein, wie unwürdig und beschämend es für einen feinfühligen, ehrliebenden Mann sein müßte, sein ganzes Leben lang eine Gefährtin an seiner Seite zu haben, die ganz in geistiger und seelischer Abhängigkeit, ich möchte beinahe sagen: in tierischer Dumpfheit dahinlebt. Anstatt es als Bevorzugung, als Glück zu empfinden, daß ich in Dir eine ebenbürtige Lebensgenossin hatte, habe ich Dir kurzsichtig, kleinlich, rückständig Dein eignes inneres Leben verargt. Ich konnte es nicht ertragen, daß Du selbst mit erkennenden Augen ins Leben sahst und ein feineres, sittlicheres Empfinden besaßest als ich. Du solltest nur immer von mir nehmen: nicht nur Deine leibliche, auch Deine geistige Existenz, und ich hielt es unter meiner Würde, auch von Dir zu nehmen da, wo Du reicher warst als ich. Welchen Zweck hat denn die Ehe sonst, als sich gegenseitig zu fördern und zu helfen? Aber ich wollte mich nicht von Dir fördern lassen, denn ich hielt mich ja Dir in allem überlegen. Und doch hätte ich von Dir lernen können das, was das Leben verfeinert und verklärt: die Harmonie zwischen der geistigen und sinnlichen Natur des Menschen, eine höhere, edlere, seelischere Kultur. Ich Tor! Blind habe ich gegen mein eigenstes, höchstes Interesse gewütet, und anstatt Deine feinere, differenzierte Eigenart, die ein feineres, differenzierteres Glück versprach, zu hegen und zu pflegen, habe ich mir in Dir ein Weib mit groben, unpersönlichen, robusten Zügen und Sinnen erziehen wollen. Erst Deine Abwesenheit hat mich voll erkennen lassen, was ich in Dir verloren habe und daß Du das Recht hattest, höhere Ansprüche zu stellen, weil Du ein höheres Glück gewähren konntest als es eine Frau von gestern zu bieten imstande gewesen.

Ja, anstatt Dich zu fördern und alle geistigen, seelischen und sittlichen Möglichkeiten in Dir zu entwickeln, habe ich Dich gehemmt und Dich hinabdrücken wollen. Wie klein war ich, als ich Dich zwang, mit Assessor von Wernitz zu tanzen, obgleich sich Dein sittlicheres, weiblicheres Empfinden gegen jede nähere Berührung mit diesem Menschen auflehnte. Ich aber mit meinem gröberen Ehr- und Sittlichkeitsbegriff glaubte ihm die äußeren Zeichen der Achtung schuldig zu sein, solange der brutale, gewissenlose Genußmensch den öffentlichen Eklat vermied. Wie plump und verächtlich muß ich Dir damals erschienen sein! Wie wenig fein, wie weit entfernt von wahrhafter Sittlichkeit, wie tief unter Dir stehend!

Und so ging es weiter bis zu unserm letzten großen Konflikt. Immer demütigte ich Dich aufs empfindlichste und verletzte meinen kleinlichen, selbstischen Interessen zuliebe Deine zartesten, edelsten Regungen und Empfindungen. Unerbittlich versagte ich Deiner Freundin in der bittersten Stunde ihres Lebens eine Zuflucht in unserm Hause, nur weil ihr Mann mein politischer Gegner war. Rechthaberei, der Herrenstandpunkt und die Furcht vor den Vorurteilen meiner Vorgesetzten und meiner Mitbürger beherrschten mich. Ich hätte mich Deiner würdiger zeigen und mir sagen sollen, daß kein ernster, sittlicher Grund vorliegt, einem ehrenhaften Menschen Sympathie, Achtung und Hilfsbereitschaft oder auch Freundschaft zu versagen, wenn einen nichts von ihm trennt als lediglich die politische Überzeugung, und daß es eine läppische, heuchlerische Überhebung ist, sich besser und sittlicher zu dünken, als ein anderer, dem angeborene Veranlagung, das Leben und persönliche Erfahrungen andere Anschauungen eingepflanzt haben, der auf anderem Wege die allgemeine Wohlfahrt erreichen zu können glaubt. Ja, fürwahr, wir sollten einander im politischen und sozialen Leben mehr Verständnis, mehr Duldung, mehr Achtung entgegenbringen ...

Kann meine Reue, mein Eingeständnis, daß ich mich meiner Handlungen schäme, mich vor Dir entsöhnen? Ach, Susanne, ich wage zu hoffen, daß du alles verzeihst und alles vergißt, was Dich von mir entfernt hat, daß Du mir die Möglichkeit nicht verschließest, sollte ich den morgenden Tag glücklich überstehen, Dir zu beweisen, daß mich unser kurzes Zusammenleben bereits geläutert, sittlicher gemacht und eine feinere seelische Kultur in mir angebahnt hat, mit einem Wort, daß ich Deiner nicht mehr ganz so unwert bin, daß ich Dir in Zukunft ein verständnisvollerer Lebensgefährte sein würde ...

Vor zwei Tagen, als ich wieder einmal ganz in meinen Schmerz versunken war, als mein Herz vor Sehnsucht nach Dir schrie, erhielt ich den Besuch des Assessor von Wernitz. Er kam sich von mir zu verabschieden, da er nach Berlin versetzt worden war. In meiner Stimmung wirkte sein Anblick, der schnarrende Klang seiner Stimme, seine ganze fade Art geradezu wie eine Herausforderung auf mich. Mit Mühe wahrte ich die üblichen Formen höflicher Gelassenheit. Schon hatte er sich erhoben, da kam ihm der unglückliche Einfall, von Dir zu sprechen. Er erkundigte sich nach Deinem Befinden und trug mir eine Empfehlung an Dich auf. Da schossen Schmerz und Empörung in mir auf, ich konnte mich nicht mehr beherrschen. War er nicht der Anlaß unsrer ersten ernstlichen Verstimmung gewesen? In meiner durch die unablässigen Kämpfe der letzten Wochen krankhaft erregten Phantasie vergrößerte sich seine Schuld ins Ungeheuerliche, erschien er mir als der eigentliche Störer unsres Ehefriedens. Ich unterbrach ihn barsch, heftig. Er war aufs höchste überrascht und forderte in seinem süffisanten, überhebenden Ton eine Erklärung von mir. Da verlor ich vollends alle Selbstbeherrschung, alles Maß. ›Ich verbiete Ihnen, den Namen meiner Frau überhaupt in den Mund zu nehmen‹, herrschte ich ihn an, und als er, aufs tiefste indigniert, mit drohender Miene und mit den Worten: ›Sie werden von mir hören‹, meine Wohnung verließ, hatte ich das Gefühl innigster Zufriedenheit. Mir war, als hätte ich Dir endlich eine Genugtuung bereitet für den schmachvollen Zwang, den ich Dir einmal um seinetwillen auferlegt hatte. Gestern überbrachten mir die Kartellträger des beleidigten Herrn von Wernitz seine Forderung, und morgen früh um sieben Uhr werden wir uns im Walde mit der Pistole in der Hand gegenübertreten. Diesen Brief will ich in unsrer Wohnung zurücklassen mit dem Auftrage, daß er zur Post gegeben werden soll, falls ich bis zehn Uhr nicht zurück bin. Er enthält also meine letzten Worte an Dich, und wenn er morgen in Deine Hände gelangt –«

Die Lesende ließ das Blatt sinken und sah sich verstört, mit flackernden Blicken um. War es ein Traum, ein quälender, häßlicher Traum? Sie sah auf den Tisch zurück, das Knistern der Blätter, nach denen ihre zitternde Hand instinktiv griff, belehrte sie, daß es Wirklichkeit, grausame Wirklichkeit war. Sie hatte ihn wiedergefunden und in demselben Moment auch wieder verloren – für immer!

Nein, nein! Das konnte ja nicht sein! So hart, so unerbittlich würde das Schicksal sie nicht strafen. Sie hatte seine Mitteilungen gewiß falsch verstanden. Hastig ließ sie noch einmal ihre Augen über die Zeilen gleiten, um gleich darauf mit dumpfen Stöhnen in die Stuhllehne zurückzusinken. Kein Zweifel: Eugen hatte sich seinem Gegner zum Zweikampf gestellt, und bereits gestern früh hatte er den Todesschuß empfangen.

Eine plötzliche Schwäche wandelte die Unglückliche an, ein lähmendes Ohnmachtsgefühl. Aber sie biß die Zähne zusammen und kämpfte die unzeitgemäße Anwandlung tapfer zurück. Jetzt hieß es handeln, klar, bestimmt, ohne den Verlust auch nur einer einzigen Minute. Schnell sprang sie auf, packte die nötigsten Sachen in einen Handkoffer und gab ihrer Tante die notdürftigste Erklärung. Ihre Schwester Ella war in der Schule, für Frau Bahlke schrieb sie ein paar herzliche, kurze Zeilen. Dann nach dem Bahnhof! Zum Glück verließ der nächste Zug schon nach einer knappen Viertelstunde die Halle. Unterwegs rang sie in einem fort zwischen Furcht und Hoffnung. Die entsetzlichsten Phantasiebilder, die ihr das Blut in den Adern erstarren ließen, folterten sie so unerträglich, daß sie krampfhaft die Zähne übereinander biß, um sich nicht laute Schmerzensschreie entschlüpfen zu lassen. Eine unbeschreibliche Marter war es, still, untätig dasitzen zu müssen, während alles in ihr nach Betätigung drängte. Sie fühlte, daß sie die langen Stunden so nicht hinbringen konnte, daß sie sich zu irgendeinem Akt der Verzweiflung hinreißen lassen würde. Und so half sie sich, indem sie mit gewaltsamer Willensanstrengung jeden Gedanken an ein so furchtbares Ende ihres Konfliktes zurückwies. Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen in die Polster des Wagens und zwang ihren Geist, Möglichkeiten zu erfinden, die eine andere glücklichere Lösung versprachen. Das Mädchen konnte den Auftrag ihres Herrn falsch verstanden und den Brief voreilig in den Kasten geworfen haben. Und wenn sie nun plötzlich unerwartet vor ihn hintrat, würde er sie mit jubelndem Entzücken in seine Arme schließen. Ja, sie lächelte bei diesem Einfall, den sie in allen Einzelheiten weiter ausspann. Wie überrascht würde er sein, denn er ahnte ja nicht, daß sich in ihr eine ähnliche Wandlung vollzogen, wie in ihm selber. Licht und hell wurde es dabei in ihrer Seele, und der letzte Rest ihres Irrtums und ihres Trotzes fiel von ihr ab: Die Liebe und der Schmerz waren ihre Lehrmeister gewesen und alles Extreme hatten sie, fern voneinander, jeder für sich, um so nachhaltiger und überzeugter überwunden.

Freilich, je näher sie dem Ziele ihrer Fahrt kam, desto mehr erblaßten die freundlichen Bilder und desto lebhafter meldete sich die Unruhe wieder in ihr. Die Zähne schlugen ihr wie im Fieberfrost zusammen und ihre Nerven waren aufs äußerste in ihr angespannt.

Der Zug hatte kaum gehalten, als sie das Coupé verließ und dem Ausgang zustürmte. Sie warf sich in die nächste Droschke und nannte dem Kutscher mit lallender Stimme die Adresse. Und nun zog sie die Klingel, während ihr das Herz bis zum Halse hinauf klopfte. Das Dienstmädchen, das ihr öffnete, sah sie mit starren, großen Augen an wie eine übernatürliche, gespenstische Erscheinung. Ohne sich mit einer Frage aufzuhalten, durcheilte Susanne den Korridor. Ihr Instinkt führte sie den rechten Weg. Leise öffnete sie die Tür des Schlafzimmers. Der schwarz gekleideten, bescheidenen Frauengestalt, die sich bei ihrem Eintritt erhob, nickte sie grüßend zu, dann ging sie mit wankenden Schritten zum Bett. Er, der ihre Phantasie seit Stunden unablässig beschäftigt hatte, ruhte bleich, mit geschlossenen Augen zwischen den Kissen.

Da sank sie, unfähig sich länger aufrechtzuerhalten, in ihre Knie nieder und bemühte sich, das ungestüm hervorbrechende Schluchzen, das sich nicht mehr zurückdrängen ließ, hinter ihren Händen zu ersticken.


 << zurück weiter >>