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X.

Kurze Zeit darauf fand einer der großen offiziellen Gesellschaftsabende statt, die der höchste Regierungsbeamte der Stadt im Winter zu geben pflegte und zu dem alle höheren amtlichen Persönlichkeiten mit ihren Familien geladen wurden. Da durfte man sich unter keinen Umständen ausschließen.

Nach dem Souper begann in einem der schönen großen Säle der geräumigen Amtswohnung des Präsidenten der Ball. Während des Soupers hatte das junge Ehepaar das stille geheime, intime genußvolle Spiel zweier Liebenden getrieben, die, zwar inmitten einer großen Menschenmenge und räumlich getrennt, dennoch nur füreinander Sinn und Augen haben und die, wenn sie auch durch die Regeln der Konvenienz gezwungen sind, sich mit anderen Menschen äußerlich zu beschäftigen, doch ihr Interesse ausschließlich einander zuwenden und unablässig in unauffälligem, geheimem, für andere Augen unbemerkbarem Verkehr stehen. Sie tranken einander diskret zu, suchten sich beständig mit den Blicken, lächelten einander an und gaben sich Zeichen, die alle dieselbe Empfindung und denselben Wunsch ausdrückten: »Wie öde, wie langweilig! Ach, wären wir doch erst wieder daheim!«

Nun endlich war auch dieses steife, gezwungene Nebeneinandersitzen mit uninteressanten fremden Menschen, dieses Wortemachen und Phrasendreschen, das man Konversation nennt, überstanden. Man konnte sich wieder freier bewegen, sich einander nähern, sich verstohlen die Hände drücken und aus nächster Nähe zärtlich in die Augen schauen. Und als der Tanz begann, zog Eugen Kamberg in froher Laune die Hand seiner kleinen Frau auf seinen Arm und führte sie in den Saal.

»Komm, Schatz!« flüsterte er ihr übermütig zu, preßte sie fest in seine Arme und wirbelte mit ihr in den Saal hinein. Und während des Tanzes wisperte er ihr allerlei verliebtes Zeug ins Ohr und streifte ab und zu ihre Wange mit seinen Lippen.

Freilich, dann trat wieder der konventionelle Teil des Abends in seine Rechte. Man mußte sich seufzend voneinander lösen, der Bürgermeister mußte sich mit einigen offiziellen Persönlichkeiten zeigen und ein paar Worte mit ihnen wechseln und hatte auch ein paar Pflichttänze zu erledigen, während die junge Frau Bürgermeister sich von anderen Herren, die sich dazu verpflichtet fühlten, im Tanze herumschwenken lassen mußte, obgleich sie das Recht, den Arm um sie zu legen, am liebsten nur ihrem Gatten gestattet hätte und es in ihrer frohen, liebesseligen Stimmung mit doppelt peinlichem Unbehagen empfand, so oft ein Fremder Arm in Arm mit ihr zum Tanze antrat.

Eben wurde ein neuer Walzer aufgespielt, als sie den Regierungsassessor von Wernitz auf sich zuschreiten sah. Ein heftiger Widerwillen packte sie. Unsympathisch war ihr der Elegant immer gewesen, der jeder koketten Frau, jedem hübschen jungen Mädchen die Cour machte und der die Liebe, die ihr etwas Hohes, Heiliges erschien, zum leichtfertigen, frivolen Spiel erniedrigte. Ihre Abneigung hatte sich aber zur flammenden Abscheu gesteigert, als ihr Adele Portig eines Tages intime Mitteilungen über den Don Juan gemacht hatte. Wie sie dahinter gekommen sei, daß zwischen dem Assessor und ihrer Schneiderin, einem auffallend hübschen, üppigen jungen Mädchen geheime Beziehungen bestanden und wie sie aus der Leichtsinnigen allerlei hochinteressante Geständnisse herausgebracht habe, von wilden Nächten, die in der luxuriösen Junggesellenwohnung des Assessors stattgefunden ...

In einem Zustand der Betäubung, förmlich erstarrt vor Überraschung und Entsetzen, hatte sie das alles mitangehört und als sie sich endlich zu einer abwehrenden, Einhalt gebietenden Geste aufgerafft, hatte sie schon genug vernommen, um von da ab bei dem bloßen Anblick des Lebemannes ein Grauen und ein fast körperliches Unbehagen zu empfinden. Soviel sie nur irgend konnte, war sie ihm aus dem Wege gegangen und wenn er dennoch gelegentlich das Wort an sie gerichtet, hatte sie sich furchtbar Gewalt antun müssen, um ihm nicht einfach den Rücken zu kehren. Doch nun, als er mit seinem süßlichen, selbstgefälligen Lächeln vor sie hintrat und seine auffordernde Verbeugung vor ihr machte, empörte sich ihre keusche, reine Natur bei dem Gedanken, sich von den Armen des Wüstlings umfassen zu lassen und ein so bezwingender Ekel packte sie, daß sie eine instinktiv ablehnende Bewegung machte.

»Ich bedaure«, kam es gleichzeitig von ihren verachtungsvoll zuckenden Lippen.

Er blickte sie erstaunt, fragend an.

»Gnädige Frau sind ermüdet?«

Sie nickte hochmütig, ohne eine weitere Erklärung für nötig zu halten. Der Abgewiesene biß sich ärgerlich auf die Lippen und zog sich tief verletzt zurück. Wenige Sekunden später trat ein anderer Tänzer vor sie hin und mechanisch, ohne sich des Verstoßes bewußt zu sein, den sie damit gegen die gesellschaftlichen Schicklichkeitsregeln beging, erhob sie sich zum Tanze.

Kaum hatte sich ihr Tänzer wieder von ihr verabschiedet, als ihr Gatte in sichtlicher Aufregung an ihren Stuhl herantrat.

»Aber liebste Susanne«, flüsterte er ihr zu. »Ich begreife dich nicht. Wie konntest du nur?«

»Was denn?«

»Du gibst Herrn von Wernitz einen Korb und tanzest gleich darauf demonstrativ mit einem anderen?«

Sie lächelte.

»Demonstrativ? Nein! Ich hatte nur keinen Grund, den Herrn zurückzuweisen.«

»Aber siehst du denn nicht ein, daß das für den Assessor ein Affront, eine unerhörte Beleidigung war?«

Susanne zuckte kühl mit den Achseln.

»Kann man denn diesen Herrn überhaupt beleidigen!«

Der Bürgermeister machte eine Bewegung der Ungeduld.

»Ich verstehe dich nicht, Susanne.«

Darauf machte er ihr ein Zeichen, sie erhob sich und sie promenierten in eines der anstoßenden, stilleren Gemächer.

Sie klärte ihn mit ein paar Worten über ihre Empfindungen und über das Motiv ihres Verhaltens auf.

»Ich hätte gewünscht,« stieß er ärgerlich hervor, »deine schöne Cousine hätte ihre pikanten Histörchen für sich behalten.«

»Meinst du etwa, es ist nicht wahr?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte er ausweichend. »Wenn man auch allerlei munkelt, öffentlich ist nichts bekannt. Jedenfalls haben wir nicht das Recht, den Assessor wegen unkontrollierbarer Geschichten offen zu brüskieren.«

»Aber ich – ich verachte ihn aus tiefster Seele.« »Schön! Das ist deine Privatsache. Aber keinesfalls durftest du ihm deine Verachtung in so sichtbarer, ostentativer Weise enthüllen.«

Sie sah ihn befremdet an.

»Warum durfte ich das nicht, Eugen? Er wird mich künftig verschonen und das kann mir nur angenehm sein.«

Er stieß hörbar, ärgerlich den Atem aus.

»Du sprichst naiv wie ein Kind. Wie denkst du dir denn das? Der Assessor hat sich bei mir beklagt, er fühlt sich beleidigt – mit Recht. Ich habe mich natürlich bemüht, ihn zu beruhigen und habe ihm gesagt, daß nur ein Mißverständnis vorliegen könne. Ich habe ihm versprochen, die Sache aufzuklären. Ich werde nun zu ihm gehen und ihn zugleich für dich um Entschuldigung bitten. Du seist von einem momentanen Schwindel heimgesucht gewesen, hättest ihn gar nicht erkannt und quasi ohne Bewußtsein gehandelt. Dann werde ich ihn zu dir bringen. Du wirst meine Erklärung bestätigen, und wenn er dich zu einem neuen Tanze auffordert, wirst du natürlich –«

Sie lockerte ihren Arm und unterbrach ihn empört. »Wie? Das verlangst du von mir, Eugen?«

Er zuckte mit den Achseln und drückte ihren Arm beschwichtigend wieder fester an sich.

»Ja, liebes Kind, darum wirst du wohl nicht herumkommen. Wie soll denn dein faux pas sonst wieder gutgemacht werden? Willst du es zum offnen Konflikt zwischen dem Assessor und uns treiben? Wie sollten wir ihm künftig in der Gesellschaft begegnen? Und mein amtlicher Verkehr mit ihm wäre ja unter diesen Umständen geradezu unmöglich.«

»Und deiner amtlichen Beziehungen wegen«, brach es aus ihr in flammendem Unwillen hervor, »soll ich mich vor einem Manne demütigen, der mir Widerwillen und Abscheu einflößt wie der gemeinste Verbrecher?!«

»Um Gottes willen!«

Er sah sich erschrocken, ängstlich um; ihre Stimme hatte in der Erregung einen lauteren Klang angenommen.

»Wir können uns jetzt nicht in die Frage vertiefen,« wisperte er zurück, »ob es in dem Privatleben des Herrn von Wernitz wirklich so häßliche Dinge gibt, wie man sich zuraunt. Klar ist vorläufig nur eins: wir schulden ihm eine Genugtuung.«

Er, machte eine Wendung und führte sie in die Richtung des Tanzsaales zurück. Zögernd, widerstrebend folgte sie ihm. An der Tür hielt sie ihre Schritte an und erhob den Blick bittend zu ihm.

»Muß es denn sein, Eugen?«

»Es muß.«

Da schien sich etwas in ihr aufzubäumen. Ein stiller Kampf vibrierte in ihrem blaß gewordenen Gesicht.

»Und wenn ich es nicht kann?«

Er sah ihr fest, fast drohend in die Augen.

»Du wirst es können. Ich bitte dich darum.«

Es klang nicht wie eine Bitte, sondern wie ein Befehl. Zugleich ergriff er ihre Hand, die sie zurückgezogen hatte und legte sie wieder auf seinen Arm und führte sie mit sanfter Gewalt in den Saal zu ihrem Platz. Noch einmal heftete er den Blick streng, zwingend auf sie.

»Du wirst wissen, was du mir schuldig bist.«

Sie stöhnte, erwiderte aber nichts. Er entfernte sich. Nach wenigen Minuten kam er mit Regierungsassessor von Wernitz zurück. Beide Herren zeigten lächelnde, verbindliche Mienen.

Es wickelte sich alles programmäßig ab. Herr Kamberg sprach ein paar einleitende, erklärende Worte: von der Hitze im Saal und der Ohnmachtsanwandlung, deren Opfer seine Gattin gewesen. Der Assessor drückte sein höfliches Bedauern aus, das Susanne bleich, die Lippen fest aufeinandergepreßt, mit dankendem Kopfnicken entgegennahm. Ja, als sich Herr von Wernitz erkundigte, ob sie sich jetzt wohler fühle, zwang sie sich sogar ein paar bejahende Worte ab.

»Dann darf ich die gnädige Frau also um diesen Tanz bitten?« fragte der Assessor, sich verneigend.

Sie zögerte; ihre Augenlider flirrten heftig, ihre Gesichtsfarbe wurde noch um eine Nuance blasser. Im nächsten Moment erhob sie sich unter dem Zwange der befehlenden, drohenden Blicke ihres Gatten. Die Hand, die sie auf den Arm des lächelnden Assessors legte, zitterte sichtlich. Sie sah noch, wie ihr Eugen jetzt zufrieden, freundlich zunickte, dann führte ihr Tänzer sie in die Reihe der sich zum Menuettwalzer Aufstellenden. Zum Glück war während des Tanzes keine Möglichkeit, eine Konversation zu führen und so hatte sie Zeit, das Weinen, das ihr würgend in der Kehle aufstieg, hinunterzukämpfen. Sie fühlte sich aufs tiefste gedemütigt; ein scharfer, schneidender Schmerz durchfuhr sie und es war ihr, als ob etwas in ihrer Seele zerrisse.

Erst als der Tanz vorüber war und Herr von Wernitz sie zu ihrem Sitz zurückführte, sprachen sie ein paar Worte miteinander. Sie beantwortete seine konventionellen Fragen und Bemerkungen mechanisch, automatisch, mit einer Stimme, die in ihrem eigenen Ohr wie die einer Fremden klang. Bald nachdem der Assessor sie verlassen hatte, kam ihr Gatte. Sie stand bei seiner Annäherung auf.

»Ich gehe nach Hause«, sagte sie und setzte sich sogleich, ohne seine Antwort abzuwarten, in Bewegung, so daß ihm nichts weiter übrigblieb, als ihr seinen Arm zu reichen und sie hinauszuführen. Im Wagen, der sie nach ihrer Wohnung führte, legte sie sich in ihre Ecke zurück und schloß die Augen und als er etwas zu ihr sagte, stellte sie sich schlafend. Ihre Hand, die er erfaßte und drückte, lag schwer, regungslos in der seinen.

In der Wohnung angekommen, ergriff er sie an beiden Händen und sah ihr forschend in die Augen.

»Bist du mir böse, Susanne?«

»Böse? Ich habe nur konstatiert,« erwiderte sie mit einer müden Stimme, »daß wir in unsern sittlichen Anschauungen weit auseinander gehen. Wie sollen wir in Zukunft miteinander leben?«

Eine tiefe Traurigkeit, eine verzweifelte Mutlosigkeit malte sich in ihren verstörten Mienen. Er schüttelte mit dem Kopf und lächelte.

»Aber Susanne,« erwiderte er in leichtem Ton, »sei doch vernünftig! Was ist denn groß geschehen? Du hast dich einer gesellschaftlichen Verpflichtung gebeugt. Das ist doch wahrhaftig keine so wichtige Sache. «

Sie sah ihn starr, mit unerschütterlichem Ernst an.

»Hältst du es wirklich für unwichtig, wenn ein Mann seine Frau zwingt, das sittliche Empfinden in sich zu ersticken und gegen ihre innerste Überzeugung zu handeln? Siehst du nicht ein, daß ich mich vor mir selber schämen muß, daß ich keine Achtung mehr vor mir haben kann?«

Ihre Stimme klang wie der Schmerzensschrei einer blutenden Seele. Ihre steinerne Ruhe hatte sie verlassen; sie zitterte am ganzen Körper; das Blut floß jäh in ihre bleichen Wangen zurück. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht; er betrachtete sie bestürzt, betroffen. Dann bewegte er wieder, als begriffe er sie nicht, Kopf und Schulter.

»Du bauschest eine Bagatelle über die Gebühr auf, Susanne. Deine Nerven sind augenblicklich zu erregt, deine Empfindungen zu exaltiert. Es würde zu nichts führen, heute noch weiter darüber zu sprechen. Morgen wirst du die Angelegenheit von selbst kühler betrachten.«

Sie nickte und er blieb im Zweifel, ob sie ihm zustimmte oder ob es eine »Gute Nacht« bedeuten sollte. Dann wandte sie sich und schritt zur Tür.

»Susanne!« rief er und tat ihr einen Schritt nach.

Sie drehte sich langsam herum. Er näherte sich ihr mit erhobenen Armen; seine Augen blickten bittend, lockend, zärtlich überredend.

»Na komm', sei gut, Suschen!«

Aber die Kraft seines Willens, der Zauber seiner überlegenen, hinreißenden Männlichkeit versagte diesmal. Ihre Mienen zeigten noch immer denselben unempfindlichen, düsteren, hoffnungslosen Ausdruck. Und in der nächsten Minute hatte sie das Zimmer verlassen.


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