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21

Das Gericht säumte diesmal nicht. Am nächsten Tag führten die Landjäger den Furrer und sein Weib wieder nach Altstadt hinab. Der Furrer tobte und fluchte. »Gott verdamm' mich, muß ich es denn allemal gewesen sein, wenn etwas geschieht!« Sein Weib ging mit spitzen, bleichen Zügen teilnahmlos neben ihm.

Mit finsteren Mienen standen die vom Isengrund in den Gassen. »Er ist es! Sicher ist er's!« murrte da einer und dort einer. Dagegen lehnten sich andre wenige auf. »Erwiesen ist es nicht, daß er's ist, noch lange nicht! Sie haben ihm auch nichts nachweisen können das letztemal!« Ein Weib ließ verlauten: »Bei dem ›Lätz‹ könnten sie auch einmal anklopfen, das könnten sie; es ist dann noch lange nicht gewiß, ob der nicht etwas weiß davon!«

Plötzlich fanden sich einige, die das Wort weitertrugen. Ein Feuerlein war es noch kaum, dann wurde es zur Lohe. Der Kehle-Gisler hatte zu lange ganz außer allem dem gelebt, was des Dorfes Alltag war. Einige waren im Isengrund, die an dem blutarmen Menschen noch immer etwas zu beneiden fanden. Die stach die Mißgunst, daß er ohne sie auskam, allein seiner Wege ging; sie waren die ersten, zu schreien: »Warum soll der's nicht sein, der Halbwilde! Der so gut wie der Furrer!«

Das Geschrei war laut genug, daß es zu den Ohren der Behörden im Tal kam. Beamte kamen wieder nach dem Isengrund, horchten da und dort hin, fragten da und dort aus. Ein und der andre Bauer zuckte die Achseln, wenn sie ihn fragten: »Warum soll es der nicht sein können, der Lätz? Er ist halb verdreht im Kopf!«

Einer der Beamten kam zur Clari-Marie. Was sie halte von dem Kehle-Gisler, fragte er. Ihr Gesicht blieb unbeweglich. »Keinen Glauben hat er, der ›Lätz‹,« sagte sie kurz. »Wer keinen Glauben hat, hat keine Furcht vor dem ewigen Gericht! Jetzt könnt ihr's ausrechnen, ob ich es für möglich halte, daß der Lätz schuld hat.«

Ein paar Tage vergingen. Die Zeit für den neuen Prozeß wurde festgesetzt. Am Tag, bevor dieser begann, fingen zwei Landjäger den Kehle-Gisler im Wald und brachten ihn dorthin, wo der Furrer und sein Weib schon saßen.

»Jetzt haben sie den ›Lätz‹ geholt,« erzählten die vom Isengrund. Das Volk war aus Rand und Band. Niemand arbeitete mehr. Unter den Türen und auf der Straße standen sie beieinander, erregt, wild, dabei heimlich dahin und dorthin horchend, als könnte jeder Augenblick Neues bringen. Im »Löwen« reisten sechs Damen ab, die den ganzen Sommer hatten bleiben wollen. »In dem Nest, wo Totschlag an der Tagesordnung sei, blieben sie nicht länger!« Der Huber, der Wirt, trat zum Doktor, zum Jaun, als er die sechs verabschiedet hatte. Er war bleich vor Zorn.

»Das Geschäft verdirbt es mir, das Unglück,« schalt er.

»Das ganze Dorf wird es treffen,« sagte der Jaun still. Dann blickte er durch die Tür, an der sie standen, ins Freie. Die Sonne schien, alles lag still und leuchtend und groß. »Heimat, schöne,« fuhr es dem Jaun durch den Sinn, »auftun haben sie dich wollen, daß viele sehen, wie schön du bist, und zu geht die Tür. Es wird bald stiller sein da oben, als es je gewesen ist!« Und dem Jaun war, als kämen Wolken vor die Sonne und es würde dunkel im Tal und nächtig und tot.

Am Abend dieses Tages kam Hansi, der Taglöhner, von der Arbeit heim, die ihn weit ins Tal hinein, fast an den Fuß des Wildifirns geführt hatte. Dort ließ ein Bauer einen Wildbach verbauen, und der Hansi tat die schwere Arbeit allein. Der Bub war gesucht am Ort, Arme wie er hatte keiner, und keiner so zähe Freude am Schaffen. Den Rock über der Schulter, den kleinen Blechkessel in der Linken, in dem er das Essen mitnahm, kam der Hansi ins Dorf gegangen. Er stieg daher wie einer, der, die Waffe geschultert, aus sieghaftem Streit kommt. Immer hatte er ein solch freies, mannhaftes Schreiten, den Kopf trug er gerade, daß der helle Blick der Augen frei ausflog, jedem recht und ehrlich ins Gesicht, der des Wegs entgegenkam.

Bei den ersten Häusern des Dorfes hörte der Hansi die Neuigkeit: »Den ›Lätz‹ haben sie geholt! Weißt es schon?« Da zündete eine Blutlohe dem Bub übers Gesicht. »Und das –« fing er einen Satz an; dem Claudi, dem Mädchen, hatte er nachfragen wollen. Dann reute es ihn, und er ging mit großen, zornigen Schritten hinweg, die stehen lassend, die ihn mit »Hast gehört?« und »Weißt schon?« noch festhalten wollten. Mit denselben großen Schritten ging er bis ans Zieglerhaus. Dessen Türe aber tat er bedächtig auf, so, als überfiele ihn plötzlich ein grübelndes Sinnen. Als er in den halbdunkeln Flur trat, hing er gedankenlos den Rock an einen Nagel, stellte das Blechkesselchen in die Küche und grüßte just so gedankenlos die Severina, die dort hantierte. In der Stube saß der Töni allein in einer Ecke und sog an der Pfeife. »Guten Abend,« sagte der Hansi und ließ sich am Tisch nieder; schwer, als sei er müde, saß er ab, saß zusammengebückt und vor sich hinblickend da, sagte ein »Ja« oder »Nein«, wenn der Töni etwas fragte, und sagte es halb in sich hinein, so daß der Schwerhörige nicht wußte, was er gesagt hatte.

»Wo ist die Base Clari-Marie?« fragte Hansi auf einmal den Knecht, laut diesmal.

Weggerufen sei sie worden zu einer, die in den Wochen lag, berichtete der Töni.

»Den Kehle-Gisler haben sie geholt, scheint's?« fragte der Bub wieder.

Die Severina trat just unter die Tür, als er dies sagte. »Ja, ja,« sagte sie und war weiß über das ganze, schmale Gesicht. »Jesus, meinst, kann es der sein, Hansi?«

»Der nicht! Der sicher nicht!« fuhr der Hansi auf. »Eine Schande ist es und ein Spott, den einzusperren.«

Die Severina kam näher zu ihm. Ihre großen Augen glitzerten seltsam aus dem zarten Rund des Gesichts. Sie zitterte. »Und der Vater und die Mutter!« stieß sie hervor. »Nicht auf die Straße mag ich mehr gehen!«

Der Hansi sah verstaunt zu Boden.

»Ist es dir nicht auch so, du?« fuhr die Severina in abgebrochenen Sätzen weiter. »Der Vater und die Mutter vor Gericht – schon zum zweitenmal! Jesses, die Schande! Die Schande!«

Sie legte hilflos die Hand über die Augen; sie wurde ihr naß von Tränen. Der Hansi sprach noch immer kein Wort. Die Severina stand jetzt dicht bei ihm, sah mit den erschreckten Augen zuerst ihn an und dann den Töni und stotterte: »Etwas ist – alleweil – muß ich es denken – heute und gestern und – alle die Tage her: wenn sie stürben, der Vater und die Mutter, ich könnte nicht einmal flennen! Mir ist – Sünde ist es vielleicht –, es ist immer, als hätten wir keine andre Mutter als die Base Clari-Marie.«

Der Töni, der aufmerksam die Pfeife aus dem Munde genommen hatte und aufgestanden war, trat näher. »Bist auch länger um die Clari-Marie herum als um deine Leute, du,« sagte er, »und gut ist es, daß das bist.« Das letztere brummte er in seinen dünnen, kurzen, schneeweißen Bart.

Der Hansi hatte beide Ellbogen auf seine festen Knie gestemmt; er ballte die Fäuste, vielleicht im Spiel, aber es war dennoch, als arbeite etwas in ihm, das er mühsam in sich selbst zerdrücke. Jetzt stand er auf und sah durchs Fenster. »Bald Nacht ist es,« sagte er. Unruhe trieb ihn dann hin und her, jetzt in den Flur und vor die Haustür, jetzt in die Stube zurück. Zum Essen, das die Severina auftrug, setzte er sich nicht. »Ich kann jetzt nicht essen,« gab er zurück.

Eben da kam die Clari-Marie von ihrem Gang zurück. Sie hatte einen Zug der Ermattung im Gesicht; es war, als furchten sich allmählich tiefere Striche in ihr volles, festes Gesicht. Als sie das Tuch abnahm und es nahe der Stelle, wo der Töni saß, an die Wand hing, sagte sie zu dem: »Das ist kein Spaß mit dem Gerig seiner Frau, mit der Tilde. Immer so schwer hat es die.« Als sie sich niedersetzte, seufzte sie: »Es geht mir auch nicht mehr so leicht wie früher, auch älter wird man und spürt es mehr selber, was andre durchmachen müssen.«

Der Hansi stand an einer Wand und sah auf sie nieder. Er war rot im Gesicht, zweimal setzte er zum Sprechen an. Die Severina, die am Tisch saß, sah ihn an. »Warum issest nicht? So komm doch!« wandte sie sich an ihn. Da griff er nach seinem Filz, den er auf den Ofen gelegt hatte. »Ich gehe dann fort, die Nacht,« sagte er; halb drehte er sich nach der Clari-Marie um dabei.

Diese richtete sich ein wenig auf, arglos. »Was?« sagte sie, »fort? – Wohin fort?«

»Das geht ja eigentlich keinen etwas an,« trotzte der Hansi und zerknüllte den Filz in der Hand. Erst der zornige Ton seiner Stimme weckte die Clari-Marie.

»Was kommt dich an, Bub?« fragte sie; im Augenblicke war ihr alle Stärke wiedergegeben.

Dem Hansi färbten sich die Backen noch höher. »Meint Ihr, ich lasse jetzt das arme Mädchen allein oben im Wald, das Claudi, das nicht weiß, was sie mit dem Vater anfangen, das keinen hat, zu dem es laufen kann: ›Komm, rat mir! Komm, hilf mir!‹« Er beugte den starken Oberkörper ein wenig vor; ein sonderbares Gemisch von Scheu und Herausforderung lag in seiner Haltung.

»Tu den Hut weg! Komm und iß!« sagte die Clari-Marie barsch. Sie stand auf, rückte die Stühle zum Tisch und setzte sich selber vor ihren Teller, als sei ein Widerspruch nicht möglich gegen das, was sie gesagt hatte.

»Warum habt Ihr ihn einstecken lassen, den Gisler,« brach der Hansi los. Er stand hinter ihr und ballte die Fäuste im Zorn. »Ihr seid schuld, Ihr – Ihr könnt ja was Ihr wollt da oben im Isengrund, Ihr seid schuld, daß sie den Gisler geholt haben!«

Die Clari-Marie griff nach der Schüssel. »Recht hast, ich bin mit schuld daran,« sagte sie gleichgültig. Es schien noch immer, als glaube sie nicht an des Buben Ernst.

»Was hat er Euch zuleid getan?« fuhr der Hansi wieder aus.

Da blickte sie über die Schulter zurück, ruhig, fast lächelnd. »Du – komm jetzt essen, gelt?« sagte sie mit leisem Spott.

Er trat vor, so daß er ihr ins Gesicht sah, und stülpte den Hut auf. »Ade,« sagte er, jetzt weiß vor Erregung. »Ihr werdet nicht glauben, daß ich nur spaße.« Damit drehte er sich ab und ging der Tür zu.

»Hansi,« riefen die Clari-Marie und die Severina in einem Atem, nur daß die Stimme des Mädchens wie ein kurzes Läuten war, und das Wort der Truttmannin kurz, fast keuchend von ihren Lippen brach. Der Hansi drehte sich in der Tür. Da stand die Clari-Marie auf, langsam; fest und breit und würdig stand sie da. In ihrem Blick lag Kraft, in jedem Wort lag Kraft; das war immer dieselbe Clari-Marie, die so manchem über die schwerste Stunde, selbst über die Sterbestunde half. »So weit bist mit dem Mädchen?« sagte sie streng.

»Weit?« entgegnete er, »wie weit? Mit dem Gisler bin ich gut Freund, das ist wahr. Und mit der Claudi auch, wenn Ihr wollt. Manchmal ist sie bei mir gewesen, wenn ich geholzt habe in der Nähe. Aber – sie ist fast noch ein Kind, ist sie, die Claudi, und – bah –«

Er brach ab. Seine Augen leuchteten hell und gerade in die der Clari-Marie. Die sah, daß er ihr nichts verbarg. »Ade,« sagte er noch einmal und faßte die Klinke, aber er wendete sich noch und bot ihr die Hand hin. »Es ist mir leid,« sagte er mit rauher Herzlichkeit. »Ich weiß nicht, warum ich mit allen Streit haben muß. Mit dem Vater und der Mutter zuerst, und jetzt mit Euch! Und mit Euch habe ich nicht gern Streit!«

Seine Stimme klang weich. Die Clari-Marie sah auf seine Hand nieder und nahm sie nicht. Jetzt ging er wirklich. Da trat sie einen Schritt vor. »Bub,« stieß sie heraus. Aber er war schon im Flur und verließ das Haus. Die Severina glitt an der Clari-Marie vorüber und eilte ihm nach. Die Truttmannin wendete sich in die Stube zurück. Ihr Gesicht war unverändert, es konnte keiner lesen, was in ihr vorging, nie konnte einer darin lesen. Der Töni saß noch am Tisch, den Löffel in der Hand. »Meinst, läuft er wirklich da hinauf, der Bub?« sagte er.

Die Clari-Marie gab keinen Bescheid. Sie setzte sich, aß still und langsam ihre Mahlzeit, sie aß nie viel, aß auch jetzt nicht weniger. Und doch schrie es in ihr: Merkst es, Clari-Marie, wieder ist einer gegangen, immer ärmer wirst – du – immer ärmer!

Die Severina kam nach einer Weile zurück. Sie hatte nasse Augen. »Er ist gegangen,« sagte sie.

Die Clari-Marie sah sie, wie schon einmal, mit jenem sonderbaren Blick an, als wollte sie sagen: Willst nicht auch gehen, du? Da kam es wie ein Sturm über das Mädchen. Es ließ sich auf die Fensterbank fallen, der Clari-Marie gegenüber. Die schlanken Arme warf es über den Tisch und streckte die Hände halb hilflos, halb wiederum wie mitleidig nach jener hin. »Base,« schluchzte es. »Base!«

Halb widerstrebend kam die eine glasige Hand der Frau ihr entgegen, sie legte sich um die hageren Finger der Severina; aber die Clari-Marie sprach nicht. Die Severina flennte. Durch die Tränen, die ihr über die Wangen rollten, blickten die schönen Augen erschreckt und verwirrt. »Ich weiß nicht, Base,« stammelte sie unter dem Schluchzen, das ihre ganze schmächtige Gestalt erschütterte. »Es geht so viel jetzt, so viel allerlei. Es ist so schwere Zeit jetzt.« Sie bückte sich vollends über ihre Arme und weinte heißer. Die Clari-Marie sah über sie hin, wortlos, nur voll Sinnens, sie vergaß die Hand zu lösen, die die Severina mit ihren Tränen netzte.

Der Töni saß wieder in seiner Ecke. Er hatte mit halb schläfrigen Augen zugesehen, dann die Pfeife gestopft. Nun rauchte er, blinzelte und nickte dazwischen. Bald kam ihn der Schlaf an.

*

Der Hansi stieg den Rottalweg hinan. Anfangs war er mühsam und schwer ausgeschritten; es war, als hielten ihn Arme fest, solange er noch die Nähe des Dorfes spürte. Nun standen die Häuser und Hütten schon tief im dunkeln Grund. Wo er jetzt anhielt und zurückblickte, war es hell. Der Mond kam im Osten herauf, weiß und herrlich stand er dort über den schwarzen Bergen. Die Felsrippen unter ihm und die Tannen, die mit dunkeln Aesten in seine Lichtflut hinauflangten, hatten silberne Säume. Das alles war fern. Der See, den man nicht sah, lag breit dazwischen; über den: Tale, in dessen Tiefe er ruhte, spann ein durchsichtiger Glast geheimnisvoll; dem Hansi war, als sähe er eine Brücke aus Silberfäden hangen von den jenseitigen Bergen herüber zum Isengrundfels, auf dem die Kirche stand.

Die Kirche stand auch im Licht. Sie schimmerte weiß herauf und still und schien dem Hansi schöner und heiliger von außen als inwendig, wo die Isengrunder aus den Knien rutschten und die Frömmsten sein wollten. Er war nicht wohl zu sprechen auf die vom Isengrund! Jetzt wendete er sich ab und stieg mit freien Schritten weiter. Es war hell und kühl, und er hatte nichts zu tragen, nichts auf den Schultern, nichts im Herzen; was in dem weh getan hatte, zwang die Jugend nieder. Der Sinn war ihm zu hell zum Trauern. Der Gaden des Vaters stand jetzt über ihm; drüben, dunkel und düster, stand die Rottalhütte. Er sah hinüber und faltete die Stirn. Wie die Schrunde zwischen Hütte und Gaden war ein Riß zwischen Vater und Mutter und ihm selber. Gar nicht hinsehen mochte er! Nichts zu tun mehr hatte er mit dem Haus dort, nichts mehr mit – mit den zweien, denen es gehörte!

Als er den Gaden hinter sich hatte, warf der Wald seinen Schatten auf seinen Weg herab. Ueber den Wipfeln der Tannen lag jetzt das Mondlicht. Es zündete hinan und hinan, wie über ein Meer, das sich leise rührte. Neigen und Steigen! Der Wind wehte in der Höhe, der Wald rauschte. Das war, als wüchse das Meer und schlüge an die mächtige Felswand, die höher oben aus dem Walde aufragte. Etwas wie Andacht überkam den Hansi, als er in den Wald hineinging. Der war schön und feierlich, schöner noch und feierlicher als vorhin die leuchtende Kirche im Grund. Er mußte fast den Hut vom Kopfe nehmen. So feierlich war der Wald!

Dann wurde es wieder hell. Er war am Hang talein geklettert. Jetzt trat er in die »Kehle«, wo oben dem Gisler sein Unterschlupf stand. Erst im Hinaustreten fiel es ihm ein: Ja, was willst jetzt eigentlich? Recht und gut war es: die Claudi saß gottserdenallein da oben in der armseligen Heimstatt! Recht und gut war es ferner, daß er da hinaufwollte, damit das »Buckeli«, das arme Ding, einen hatte, einen einzigen Menschen, der zu ihm stand! Aber Augen würde sie doch machen, die Claudi, wenn er daherkam in aller Nacht! Sie hatten immer Freundschaft gehalten, sie beide! Wie hatten sie zusammen da oben im Wald manchmal gelacht und einander herumgejagt und dann wieder still gesessen beieinander, friedlich, wie er mit der Schwester, der Severina, nie saß. Aber – da herauf zu kommen in der Nacht und zu sagen: Du, bei dir bleiben will ich jetzt, weil er fort ist, der Vater! Dazu hatte er eigentlich kein Recht!

Er blieb stehen, sah die »Kehle« an und spürte unter der Weste ein Klopfen: Willst umkehren? fiel es ihm ein. Das war ein törichter Gedanke, nun zog es ihn erst recht wie mit Seilen hinauf! Das Herzklopfen ließ nicht nach, aber er stieg höher durch die »Kehle« hinauf. Schon sah er das Fensterchen leuchten, mit dem die Kehlehütte zum Himmel aufsah und in das der Mond sein ganzes weißes, blendendes Feuer warf. Er erstieg den Rand der Schrunde und stand neben der Hütte in der vollen Mondhelle; nun sah er auch einen roten Schein in die weiße Klarheit fließen; es war, als mündete ein trübes Bächlein in einen lauteren, stillen See. Durch die Spalten an der Hüttentür floß der Lichtschein heraus.

Der Hansi schlich näher. Die Lottertür lehnte vor dem Eingang, aber wenn er sich bückte, konnte er durch eine Spalte sehen, die so breit war, seinen Kopf durchzulassen. Richtig! Da saß die Claudi an dem wackligen Tisch, hatte ein Petrollicht vor sich und sah in ein Büchlein; wie ein Gebetbüchlein sah das aus. Das Licht war nicht stark genug, den höhlenartigen Raum hell zu machen, aber auf den braunen Scheitel der Claudi zündete es, auf die am Hinterkopfe aufgesteckten Zöpfe; es leuchtete auf den Hals, der so braun war wie ehemals beim Kinde, und nun sie aufsah, warf es seinen roten Schein in das just so braune Gesicht mit der zierlichen Nase und dem kleinen, fröhlichen Munde.

Die Claudi sah jetzt um sich, in alle Ecken blickte sie, auch nach der Tür, und als der Hansi die tiefliegenden klugen Augen auf diese gerichtet sah, war ihm, sie müsse ihn sehen, wie er durch den Spalt guckte. Angst stand in den Augen; es war deutlich zu sehen, daß sie sich fürchtete. Sie seufzte tief auf, preßte dann plötzlich beide Hände an die Ohren, wie um etwas nicht hören zu müssen, was sie erschreckte; dann neigte sie sich wieder tiefer über das Buch, die kleine Gestalt in fadenscheinigem schwarzen Gewand mit dem hohen, krummen Rücken duckte sich zusammen, als gäbe das Sichkleinmachen ihr mehr Sicherheit.

Dem Hansi tat draußen vor Mitleid das Herz weh; aber er wagte noch immer nicht hineinzugehen, weil er meinte, die Claudi müßte aufschreien vor Schrecken. Endlich hob er das Türbrett weg; die Schnüre, die es sonst hielten, waren nicht einmal eingelegt. So geräuschlos hob er es weg, daß die Claudi erst aufblickte, als seine Gestalt zwischen den Türpfosten stand.

»Jesses, mein Gott,« stammelte sie da, fuhr vom Stuhl auf und wurde ganz weiß. Die Augen glänzten und waren groß vor Furcht. Mit der einen festen, braunen kleinen Hand hielt sie sich am Stuhl.

»Erschrick nicht,« sagte der Hansi. »Ich bin es nur.«

»Jesses, mein Gott, bin ich erschrocken,« sagte die Claudi, lächelte und schnaufte tief; über die gesunden Backen tiefen zwei Tränen.

»Guten Abend,« sagte der Hansi, wendete sich dann und befestigte die Tür. »Frisch hast es bei Gott da herinnen, du,« sagte er, näher tretend, »du hättest die Tür besser zumachen sollen.«

Die Claudi setzte sich wieder dorthin, wo sie vorher gesessen hatte; die Knie zitterten ihr noch. »Ich habe mich halt nicht getraut,« gab sie zur Antwort. Dazu lachte sie. Der Hansi setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.

»Ich bin doch schon manchmal allein gewesen,« fuhr sie fort. »Aber heute, weil der Vater – im – im Zuchthaus ist, weil ihm alle bös wollen, mein Gott – ich habe so Angst gehabt.« Ihr Gesicht wurde wieder ernst, trüb dann, das Weinen zuckte noch immer um die Mundwinkel.

»Ich bleibe jetzt schon da,« sagte der Hansi, legte dabei den schweren Arm breit über den Tisch und nahm der Claudi Hand in die seine; es war gerade, als ob ein großes Tier eine Maus verschluckte, als die runde Hand des Mädchens in der Arbeitstatze des Hansi unterging. Einen Augenblick blieb es ganz still. Sie hörten den Wind an der Hütte pfeifen. Das Mondfensterlein glitzerte auf sie nieder.

»Gelt – gelt – jetzt haben sie das dem Vater auch noch zuleid getan,« sagte da die Claudi leise.

»Ja,« gab er zurück.

»Sein Leben lang haben sie ihm nichts als zuleid gelebt da oben,« klagte sie weiter.

»Die Kaiben,« fluchte der Hansi.

»Weil – weil – sie meinen immer, daß er nicht recht sei im Kopf! Er tut halt so! Schon manchmal habe ich ihm zugeredet. Er ist deswegen doch gescheiter als mancher andre unten im Dorf.«

»Natürlich ist er,« bestätigte der Hansi. So sprachen sie eine Weile zusammen, eines ein Wort, dann das andre wieder eines! So der Hansi: »Meine Alten sitzen auch unten.« Das sprach er verbissen, knurrig. Die Claudi nickte gedankenvoll. Nach einer Weile sah sie auf und sagte leise: »Mein Vater ist es nicht gewesen!«

»Das weiß ich,« gab der Hansi zurück. Dann wurde er blutrot; ihn würgte etwas. Jetzt solltest auch sagen, der deine sei es nicht, durchfuhr es ihn. Und um die Welt brachte er das Wort nicht heraus.

»Meinst wohl, wann lassen sie ihn wieder los, den Vater?« fragte die Claudi. Er fuhr fast zusammen. »Ja,« sagte er, »nicht so bald, denke ich. Es geht immer lang – so ein Prozeß.«

Sie sah mit trüben Augen auf den Tisch nieder. Ein Schauer durchlief ihre Gestalt.

»Frierst?« fragte der Hansi. Er legte auch die andre Hand auf den Tisch und streichelte die der Claudi, die noch immer in der seinen lag. »Frierst?« fragte er noch einmal; die Stimme zitterte ihm und klang sorglich und mitleidig.

»Nein,« sagte das Mädchen, sah ihn an und wurde rot und sah schnell wieder auf den Tisch hinab. Was brauchte der Hansi ihr die Hand so zu drücken! Da kam er um den Tisch herum zu ihr.

»Komm, wir setzen uns an den Herd hinüber,« sagte er. Sie stand willig auf und ging mit ihm in den Stubenhintergrund, der wie ein Schlupfwinkel war. Dort ließen sie sich auf den Strohsack nieder, der in der Wärme des Herdes lag, hockten ein paar Minuten nahe beieinander und schnauften nicht recht frei. Endlich legte der Bub den Arm um die Schulter der Claudi. »Komm, kannst da schlafen.« So zog er sie an sich, daß ihr Kopf an seine Brust zu liegen kam. Sie sperrte sich ein wenig, aber weil sie in seinen Armen so verloren war, wie vorhin ihre Hand in seiner Tatze, gab sie nach und lag mausestill. Beide blickten durchs Mondfenster hinaus, lange und zufrieden. Weiß der Himmel, kein Wunsch war in ihnen.

»Ich bleibe jetzt immer da,« sagte einmal ganz ruhig und aus seiner großen Zufriedenheit heraus der Hansi. Die Claudi mußte ihn dafür ansehen. Sie nestelte sich an ihn; mit der Wange kam sie an seine zu liegen. »O du,« sagte sie nur und ganz leise.

»Ich will dich heiraten,« sagte der Hansi.

Da kam ihr Arm langsam um seinen Hals geschlichen. »Du bist ein Lieber,« sagte sie ihm ins Ohr.

Eng beieinander saßen sie jetzt. »Auf dem Taglohn verdiene ich ganz schön,« sagte der Hansi. Und später: »In Bauen drüben heiraten wir, im Isengrund will ich nicht.«

Die Claudi sagte nichts mehr und fragte nichts mehr. Sie saß nur nahe bei dem, der auf einmal ihr gehörte, und machte die Augen zu: Welt, jetzt fall ein! Der, der Hansi, der trägt Sorge zu mir!


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