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2

Die Clari-Marie war zum zweitenmal aus der Scharfegghütte zurück. Sie hatte nach der Wöchnerin gesehen, der sie in der Nacht beigestanden. Nun ging es an den Abend. Das Rothorn brannte im Feuer, das ihm den Namen gegeben, und der Widerschein der Spätglut, die es umlohte, zündete durch die staubigen Fenster der Werkstatt, in der kurze Zeit der Truttmann, der Schreiner, Meister gewesen war. Der Toni stand an der Hobelbank und arbeitete an einem eingespannten Holzstück, daß ihm der dünne, graue Bocksbart zitterte und eine feuchte Röte sein Gesicht färbte. Die Clari-Marie nahm gehobelte Bretter aus einer Ecke und maß. Dann griff sie nach der Säge und ging an die Arbeit; schwer hielt die feste, feiste Hand das Brett niedergedrückt, und in schwerem, langsamem Hin und Her wiegte der Körper, als sie die Bretter schnitt.

»Ich habe es gleich gewußt,« sprach sie zwischenhinein und nach dem Töni hinüber, »so spät wie die Wipflin hat eine nicht gut Kinder haben.«

»Bringst sie durch, Frau?« fragte der Töni.

»Sie wohl!« gab sie kurz zurück.

Dann arbeiteten sie eine Weile schweigend. Ein paarmal klang das Geräusch von Schritten durch die halboffene Werkstattür herein, wenn jemand über den Rothornweg hinauf oder hinunter stieg. Die beiden Arbeitenden achteten nicht darauf, der Lärm ihrer Werkzeuge übertönte ihnen auch das Nahen eines Knaben, der eine ganze Weile in der Tür stand, bis die Clari-Marie zufällig auf und nach ihm hinsah.

»Bist schon lang da?« fragte sie.

Der Bub sah sie scheu an, dann sagte er eine scharf eingelernte Rede her, der er gern ledig wurde: »Der Vater ist krank; so arg Stechen hat er in der Brust! Ob Ihr ihm nichts wüßtet?«

»So – Stechen?« sagte die Clari-Marie. Sie stand aufrecht, die Säge im halbdurchsägten Brett. »Ist er schon lang so?« fragte sie dann.

»Seit gestern,« antwortete der Bub.

»So soll er ins Bett liegen, daß er warm hat; und geben will ich dir etwas.« Damit ließ sie die Arbeit und ging mit dem Buben nach dem Hause hinüber. Sie kam bald zurück, nahm die Säge wieder auf und schaffte weiter. Nach einer Weile rief sie den Töni: »Komm, hilf!«

Er trat hinzu, und sie stellten Brettlein und Brettlein zusammen. Als sie mit Nageln fertig waren, stand ein weißer Kindersarg auf dem Werktisch. Die Clari-Marie sah nach einem der Fenster, nachdenklich und lang, als sähe sie etwas, was den Blick fesselte. Einmal war es, als liege in ihren grauen, durchdringenden Augen ein Ausdruck von Angst; aber es ging blitzschnell vorüber. Noch aus ihrem Nachsinnen heraus und halb für sich sagte sie: »Auf die Welt gebracht habe ich das Kind, getauft habe ich's, weil es für den Pfarrer zu spät gewesen ist, und in die Kiste lege ich's. Es ist fast zu viel für einen Menschen, an einem andern zu tun.«

Just da stand der Scharfegghüttler in der Tür, der Wipfli. Er war noch in dem verschlissenen Gewand, in dem er vor einer Stunde vom Strahlen heimgekommen sein mochte, um sein Weib im Bett, sein Neugeborenes tot zu finden.

»Das ist für meines, denke ich,« sagte er und deutete nach dem Sarg hinüber; in seinem holzbraunen, harten Gesicht mit dem zerfetzten Braunbart zuckte es. Die Clari-Marie nickte. Dann trat sie zu ihm.

»Du kommst wegen dem Tee für die Frau?« fragte sie.

»Ja,« gab er langsam und schwerfällig Bescheid. Dann schritten sie zusammen hinaus, der Wipfli mit schwerem Gang, bei dem der harte Bergschuh mit dem Absatz auf den Boden schlug und die Fußballe nachklatschte, so daß ein Geräusch wie Mühlenradklappern entstand. Die Clari-Marie verschwand im Haus, der Strahler wartete vor der Tür. Als sie zurückkam, reichte sie ihm ein Päckchen.

»Gib ihr fleißig davon, wenn sie durstig ist in der Nacht! Morgen komme ich wieder,« sagte sie.

»Ja, danke!«

Er drehte sich halb ab. Es plagte ihn etwas, das nicht auf die Zunge wollte. »Eine Gute bist, Clari-Marie!« brachte er dann heraus, »die Frau kann nicht rühmen genug.«

»Ja – ja – es ist schon recht,« sagte sie beschwichtigend. Sie tat einen Schritt nach der Werkstatt, der andre einen am Wege aufwärts.

»Daß ich gerade habe fort sein müssen! Ich habe gedacht, daß noch Zeit sei,« sprach er von dort.

»Du hättest doch nicht helfen können,« gab sie zurück.

Da rückte auch er wieder den Hut, als ob sie eine Fremde wäre. Im Gehen aber wandte er sich noch einmal. »Der Herr, der mit dem Jacki auf dem Rothorn gewesen ist, kommt auch noch zu dir,« sagte er.

»Der?« fragte sie.

»Ja, er hat sich weh getan, scheint's, und will etwas haben von dir.«

Der Wipfli ging. Die Clari-Marie sprach ein paar Worte durch die Werkstatt hinein und trat nachher ins Wohnhaus zurück. Nicht lange darauf kamen Jakob Jacki, der Führer, und der Städter den Rothornweg herab gestiegen. Kirchhofer stützte sich schwer auf die Schulter seines Begleiters und hinkte, sein Gesicht war bleich vor Schmerz, der dunkelbraune Bart schien fast schwarz dagegen.

»Jetzt sind wir da,« sagte Jacki, als sie oberhalb des Zieglerhauses einen Augenblick innehielten, damit der Verunglückte verschnaufe.

»Es läge mir fast mehr an, gleich bis zum Gasthaus weiterzuhumpeln,« sagte Kirchhofer; aber als sie an der Haustür der Clari-Marie standen, traten sie doch hinein. Der Flur war leer und still, so gingen sie bis an die Stube vor und pochten. Ein »Ja« antwortete. Sie traten ein und fanden die Cille am Nähtisch sitzen. Am Ofen hockten die beiden Alten; sie fuhren aus einem schläfrigen Dahindämmern auf, als sie fremde Stimmen hörten. Der Ziegler war halb blind; seine Stimme klang voll zitternder Neugier in die ersten Worte, die die Männer mit der Cille wechselten: »Ja – ja – wer ist jetzt das – wer ist –?«

Jacki, der Führer, zog einen Stuhl vom Tisch und rückte ihn Kirchhofer hin.

»Wo ist die Clari-Marie?« fragte er.

»Das ist der Jacki, lug, der Jacki,« murmelte der Alte am Ofen. Sein Weib ächzte: »Jere-ja – der Jacki! Wie geht es dir, Jacki?«

Den Männern gingen die Worte verloren; die Cille war nach der Tür gegangen, die Schwester zu rufen; aber diese trat just herein, als sie nach der Klinke faßte.

»Tag,« sagte sie, kurz wie am Morgen.

Kirchhofer entgegnete ein paar höfliche Worte.

»Er hat sich den Fuß verstaucht, eben der Herr,« sprach Jacki dazwischen. »Er muß im Dorf bleiben die Nacht. Du – du – wirst ihm schon etwas wissen.«

»Habt Ihr Bleiwasser im Haus oder dergleichen?« fragte Kirchhofer. Er legte den Fuß auf einen Stuhl und löste Schuh und Strumpf; vor Schmerz verbiß er die Zähne. »Ich bin ein Apotheker,« lachte er dann mit grimmigem Scherz, »und gehe um Salben betteln.«

Die Clari-Marie trat heran und betrachtete den stark geschwollenen Fuß. Sie hielt die Arme kreuzweise übereinander geschlagen. »Verstaucht ist manchmal schlimmer als gebrochen,« sagte sie. Dann ging sie und kam nach kurzer Weile mit Verbandzeug und einer Flüssigkeit wieder.

»Wer ist jetzt das, der redet?« fragte eben der neugierige Alte und meinte den Städter.

Die Clari-Marie hatte den Schein eines Lächelns um ihren Mund: »Ein Fremder ist der,« sprach sie nach dem Vater hin. Dann begann sie ein Tuch mit der Flüssigkeit zu netzen, schlang es um den Fuß, ein andres darüber. Sie griff fest zu, wie mit Männerfäusten.

»Herrgott,« stöhnte Kirchhofer einmal.

Als sie fertig war, wandte sie sich zu Jacki: »Hol die Tragbahre vom Lirer-Jost; es soll einer tragen helfen; gehen kann er nicht zum ›Löwen‹.«

Jacki stand vom Stuhl auf, auf dem er Platz genommen hatte, und ging hinaus. Noch aber hielt er die Klinke der Stubentür, als die Haustür mit einem Stoß aufflog und etwas hereintaumelte. Zuerst war es, als fliege nur ein Korb, von einem Fußtritt getroffen, herein, schwere Moosstreustücke rollten über den Boden.

»He-he!« sagte die Clari-Marie, aber die Cille war mit ein paar großen Schritten neben dem Korb, unter dem ein schwarzer Kopf sichtbar wurde. Ein Aechzen wurde laut; die Cille faßte zu; es war, als zitterten ihr die hageren Hände, und sie war kreideweiß. Als auch die Clari-Marie mit angriff, richteten sie den Jaun, den Buben, auf, der unter der Korblast zusammengebrochen war.

»Bah,« sagte die Cille, »er ist halt nichts für solche Arbeit, der Bub.« Die Lippen zuckten ihr. Ihre Worte klangen mehr scheu als zornig. Mit einem roten Sacktuch fuhr sie dem Knaben über die schweißnasse Stirn, an der eine blaue Beule sich zu zeigen begann, dort, wo er mit dem Kopf auf den Boden geschlagen. Die Clari-Marie raffte die Moosstücke in den Korb, umspannte die schwere Last mit beiden Armen und trug sie ohne Mühe nach dem Estrich, wo das Moos zum Trocknen aufgeschichtet wurde. Als sie zurückkam, saß der Jaun am Tisch, noch immer weiß im Gesicht, die dunkeln Augen, die einen sonderbar leeren Blick hatten, schauten ziellos da- und dorthin. Kirchhofer richtete dann und wann ein Wort an ihn; dann gab er einsilbige Antworten und hatte einen Ausdruck von Unbehagen im Gesicht; er scheute den Fremden.

»Geht's besser?« fragte ihn die Clari-Marie. Dann trat sie zum Schrank, goß etwas in ein Glas, ging hinaus und brachte das Glas mit Wasser gefüllt zurück. »Da, trink,« sagte sie.

»Dank,« sagte Jaun.

Die Clari-Marie wandte sich dem Ofen zu, wo die Zieglerin dem Alten neben ihr an die Schulter gesunken war und schlief. Sie ging hin, hob sie auf und trug sie nach der Nebenstube. Der Städter sah ihr nach, sah sie nachher zurückkommen und ein- und ausgehend hantieren und erstaunte über die Kraft und Sicherheit, die klare Bewußtheit, mit der sie alles tat, wie sie mit festem Griff zufaßte und überallhin mit raschen, harten Tritten trat. Alles im Hause schien sich ihr schweigend unterzuordnen; selbst der geschwätzige, halbblinde Alte wurde still wie ein gehorsames Kind, sobald sie in seine Nähe kam. Indessen trank Jaun sein Glas leer; dabei lief ein Schauer durch seine hagere, eckige Gestalt, plötzlich warf er die Arme auf den Tisch und grub den Kopf hinein; er flennte. Die Cille hatte wieder das seltsame Zittern um den Mund; sie gab sich Mühe, an ihrer Näharbeit weiterzuwerken, als ob nichts sie bedrängte.

»Was hast?« fragte Kirchhofer den Buben.

Der gab lange keinen Bescheid. Erst auf ein abermaliges: »Rede, was hast?« stieß er hervor: »Gottlos schwer ist es gewesen.«

»Er ist nichts für schwere Arbeit,« wiederholte die Cille, »er ist nur ein Schwacher.«

»So paßt er nicht in das Wildland herauf,« meinte Kirchhofer.

Die Cille horchte auf, sie schien etwas auf der Zunge zu haben, aber die Clari-Marie trat hinzu, da war es, als duckte sie sich und schwieg. Erst als jene die Stube abermals verließ, sagte die Cille: »Zum Lernen, so als Schreiber oder so, wäre er ein guter. Der Lehrer hat ihn immer gerühmt, auch der Pfarrherr.«

Kirchhofer hatte nur halb hingehorcht. »Schickt ihn in eine Stadt,« sagte er leichthin, »da kommt er eher weiter.«

Die Cille sah ihn groß an. Sie konnte nicht sprechen, denn durch Haustür und Flur kamen Jacki und zwei Männer mit einer Bahre gegangen; aber ihre schwarzen Augen behielten einen sinnenden Ausdruck. Einmal, als Kirchhofer schon auf der Bahre lag, trat sie mit einer jähen Bewegung auf ihn zu, als ob sie etwas fragen wollte. Aber die Clari-Marie stand neben ihr; wie erschreckt sah sie diese von der Seite an und trat zurück.

»Nehmt das mit und macht Ueberschläge die Nacht,« sagte die Clari-Marie zu Kirchhofer und reichte ihm das Fläschchen, das sie bei seiner Ankunft benutzt hatte.

Er dankte. Nun hoben ihn die Männer auf.

»Geht er jetzt, der aus der Stadt?« fragte der Ziegler vom Ofen herüber und streckte den Hals. Jaun hob den Kopf und sah aus den noch feuchten verstaunten Augen den Männern nach, die mit der Bahre Stube und Haus verließen, während die Clari-Marie die Tür für sie offen hielt.

Eine Viertelstunde später saß Kirchhofer in der Wirtsstube des Gasthauses, hatte den kranken Fuß auf einem Stuhle liegen und aß ein Abendbrot. Jost Trachsel, der Löwenwirt, stand bei ihm und plauderte:

»Ja – ja – das ist schon eine, die Clari-Marie! Wenn wir die nicht hätten im Isengrund! Sie ist keine von den Lauten, aber was sie im stillen tut, das zählt mehr, als wenn sie es laut täte. Sie weiß mehr als der beste Doktor. Wenn einer einem Kranken helfen kann, kann sie. Unsre Weiber reden von ihr wie von einem Engel. Mut zu machen weiß sie ihnen in ihrer schweren Stunde – so – so sonderbar Mut; das liegt so in ihrer Art, weil sie selber vor nichts Angst hat. Die Kinder auf der Straße küssen ihr die Hand wie dem Pfarrer; aber sie hat es nicht gern; sie will nicht, daß man sie herausstreicht! Aber – ja – die Kinder – es sind manche im Dorf, die sind elend gewesen, ohne Leben in sich, fast schon tot bevor sie auf die Welt kamen, und sie hat sie doch durchgebracht. Und dann die Armen! Das letzte Hemd gäbe sie vom Leibe, wenn die Not es will. Es ist, als ob sie kein Elend sehen könnte. Sie arbeitet sich krumm, Tag und Nacht, aber im Hause hat sie nicht mehr, als sie alle Tage braucht, alles andre gibt sie her. Aber recht muß einer sein, wenn sie sich seiner annehmen soll. Sie ist eine Fromme, ist sie, die Clari-Marie; wenn einer nicht sauber ist ums Lendenstück und er will etwas von ihr, kann es leicht sein, daß sie ihn stehen läßt: »Wenn dir der Herrgott nicht mehr helfen will, kann ich's auch nicht!«

Kirchhofer beugte sich über seinen Fuß und legte einen neuen Umschlag darauf. »Das versteht sie einmal, die Truttmannin,« sagte er, den Fuß betrachtend, »die Geschwulst läßt schon nach.«

Er schloß den Verband mit einer Nadel. Der Wirt ließ sich bei ihm am Tisch nieder.

»Einen schwachen Buben hat sie da, die Truttmannin,« begann Kirchhofer die Unterhaltung von neuem.

»Ja,« sagte der Wirt. Dann strich er sich über das spärliche Haar, senkte den roten großen Kopf und lachte leise in den Tisch hinein. »Er gehört nicht ihr, der Bub,« tuschelte er wie einer, der ein Geheimnis erzählt. Kirchhofer schaute auf. Trachsel kniff das linke Auge ein, sein feistes Gesicht zeigte einen Ausdruck halb des Hohns, halb der Wichtigkeit. »Der gehört der andern, der Cille,« sagte er.

»So – o –« sagte Kirchhofer; vieles kam ihm ins Gedächtnis zurück, was ihm an dem alten Mädchen aufgefallen war.

»Es ist lang her,« fuhr der Wirt fort, »man redet jetzt nicht mehr davon im Dorf, der Clari-Marie halber schon nicht.«


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