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10

Die Totenstube im Zieglerhause war voller barmherziger Seelen. Das halbe Dorf saß da und betete. Die Stube war schön geschmückt, eine Menge Kerzen brannten rund um die zwei Betten. Die Rottalbäuerin saß in ihrem schwarzschäbigen Sonntagsstaat da, und die Pfarrmagd saß neben ihr, auch der Furrer stand Hut in Hand, stammelnd, in einer Ecke, in einer andern lehnten nebeneinander der Hansi, im neuen weißen Hemd und Feiertagsgewand, blond und breit, und die Severina. Nur die Clari-Marie maß in der Werkstatt mit dem Töni Sargbretter zurecht.

»Ganz gleich müssen sie werden,« sagte die Clari-Marie. »Nimm dieses Holz hier, das harte, saubere,« sprach sie gleich darauf und zog eine Anzahl aneinander gelehnte Bretter aus einer Ecke. Der Töni schob die staubige Kappe aufs linke Ohr und schlarpte zu ihr hin. »Ja,« sagte er und nickte, »ja.« Aber die Arbeit schien ihm Bedenken zu machen.

»Such das neue Beschläg hervor, das schwere, versilberte,« befahl sie wieder.

»Ihr habt es dem Fabrikanten zurückschicken wollen,« warf der Töni ein.

»Jetzt brauchen wir's!« sagte sie.

Der Töni tuschelte in sich hinein, strich mit der Hand über die feuchte Stirn und legte langsam Hand an die Bretter.

»Der Hansi kann zum Maler-Toni gehen; morgen früh kann der kommen, bis dahin sind wir fertig.«

»Wie ich bis morgen fertig werde, weiß der Teufel.«

»Meinst etwa nicht?« sagte die Clari-Marie, die schon unter der Türe stand. »Wenn wir zu zweien arbeiten, wird es wohl rücken.« Sie schob das schwarze Tüchlein zurecht, das sie um den Hals gebunden trug, drehte sich ab und ging. Der Töni schnaufte schwer, spuckte und ging an die Arbeit. –

In der Stube sprachen sie von der Cille. Ob sie es schon wüßte? Ob sie in der Nacht zurückkäme?

»Ich habe ihr berichtet,« sagte die Clari-Marie, die eben eintrat.

»So wird es der Jaun auch wissen?« fragte eine der neugierigsten unter den Weibern.

»Sie bringt ihn mit,« gab die Clari-Marie zur Antwort. Sie trat zu den Betten der Toten, stand vor jedem eine ganze Weile still und betete. Der rote Kerzenschein umhüllte ihre schwarze, schwere Gestalt wie ein scheiniger Mantel, und messerscharf zeichneten sich die Ränder ihres Profils gegen den roten Schein. Aus den Reihen der andern fuhr manchmal ein Blick zu ihr hinüber, scheu, als müßte einer fragen: He, du dort, wann gehst wieder?

Sie blieb nicht lange. »Ich muß dem Töni helfen gehen,« sagte sie leise zur Pfarrmagd, als sie die Stube wieder verließ; dem Hansi winkte sie, daß er mitkomme. Dann schickte sie diesen zum Maler. Sie selber ging nach der Werkstatt hinüber. Der Regen fiel noch immer; in braunen Lachen stand das Wasser zwischen Haus und Werkstatt, die Dächer troffen; in den Lüften war rieselndes, ödes, einschläferndes Geräusch. Und die Nacht kam; es dunkelte rasch, als ob eine Riesenhand über das Bergdorf griffe: da, zugedeckt bist!

Diese ganze Nacht hindurch war im Zieglerhaus ein ewiges Aus und Ein; es war kaum einer und eine im Dorf von denen, die gesunde Glieder hatten, die den verstorbenen Hundertjährigen nicht die Ehre antaten, am Totenbett zu beten. Zuweilen kam die Clari-Marie aus der Werkstatt herüber, sie sagte nicht viel dabei, mit kurzen Schritten trat sie an die zwei Betten, betete und ging wieder. In der Werkstatt stand sie nachher wieder stundenlang an der Hobelbank. Neben ihr arbeiteten der Töni und der Hansi; sie hobelten und hämmerten und maßen. Ihre Oberkörper neigten und hoben sich. Kurz, zitterig, mühsam sich aufrichtend bewegte sich der des Töni; zuweilen ächzte der Alte. Der runde, breite Rücken der Clari-Marie beugte sich schwerfällig langsam, aber ihr Hobel schnitt wuchtig; an ihren Handgelenken standen die Sehnen dick heraus. Der Hansi arbeitete, als hätte er eine Feder im Rückgrat. »Seht Ihr, Base, wie es rückt,« sagte er, wenn er Brett zu Brett legte. Seine Augen glänzten dabei, als wäre heller Morgen statt nachtschlafender Zeit.

Am Morgen standen zwei fertige Särge mit Zierleisten und feinem schimmernden Beschläg auf dem Werktisch. Der Maler-Toni strich sie an und zog einen feinen Lack über die Farbe. Als sie fertig waren, riß der Toni die Werkstattür auf und ließ mit dem regengrauen Morgen die Schulkinder in die Werkstatt schauen, die gekommen waren, nach Ortssitte bei den Toten ein »Vaterunser« zu sagen, ehe sie zum Unterricht gingen. »Jesses, wie schön,« entfuhr es dem ersten, der die Totenbäume sah. »Jesses, wie schön,« durchlief es die ganze kleine Schar, aber die Clari-Marie kam, schnitt das Kinderhäuflein, das vor ihr auseinanderwich, mitten entzwei und hieß den Töni und den Maler anfassen. »Tragt die Särge in die Stube,« sagte sie.

Als sie mit dem ersten aus der Tür traten, schloß sie diese. »Zum Großtun sind sie nicht da, die Totenbäume,« sagte sie, »nur denen zu Ehren, die hineinzuliegen kommen.« Dabei sah sie weder die Sargträger noch die Schulkinder an; so wußten sie nicht, zu wem sie gesprochen hatte; aber die Kinder und die Männer waren kleinlaut nachher.

In der Totenkammer ließ die Clari-Marie die Särge niedersetzen, dann faßte sie selber an und legte die Toten hinein.

Das Beten und Ab- und Zulaufen der Dörfler dauerte bis zum Abend. Als es dunkel wurde, kam der Pfarrherr wieder, der schon mehrmals dagewesen war. Er kam würdig durch die Tür hereingeschoben, nahm, was er an demselben Tage schon dreimal getan hatte, die Hand der Clari-Marie, die eben an ihm vorbeigehen wollte, blinzte sie mit feuchten Aeuglein zutraulich an und sagte, was er schon dreimal gesagt hatte: »Mußt es halt ertragen, Clari-Marie, weil es Gottes Wille ist.«

Die Clari-Marie löste ihre Hände aus den seinen; nachher war es dem Hochwürdigen, als könnte er seine Worte, von ihr abgefallen, am Boden zusammenlesen. Er trat zu seiner Magd und sprach mit ihr, dem Rottalbauern und andern von der Cille. »Jetzt ist sie immer noch nicht da,« wendete sich die Viktorine zur Clari-Marie; ihr feistes Gesicht schimmerte rot vor Fett und Zorn.

»Das Begräbnis wird sie hoffentlich nicht versäumen, die Cille,« entrüstete sich der Hochwürdige.

Die Clari-Marie zuckte die Schultern.

Bald nachher verließ die Verwandtschaft und Freundschaft das Haus. Nur zwei Betweiber hockten die letzte Nacht bei den Toten.

Am frühen Morgen kamen die Gemeindeältesten und trugen die Särge auf den behördlichen Achseln zur Kirche und Grube. Den Rothornweg hinunter und die Dorfgasse entlang wälzte sich eine dunkle Schlange von Menschen, Männer und Weiber. Der Regen hatte aufgehört, aber die Straße war verschwemmt und durchweicht, die schweren Schuhe der Dahinstampfenden machten ein klatschendes Geräusch. Der Himmel hing herab wie ein graues, wassergetränktes Tuch, von dem jeden Augenblick ein Guß, die Poren sprengend, niederschießen kann. Im Leichenzug flennte keines so laut wie sonst, nur die Trine und die Viktorine, die zuvorderst im Weiberzuge und nebeneinander gingen, hatten rote Nasen und Augen und drückten die Sacktücher fleißig ins Gesicht. Die Clari-Marie und die Severina, die hinter ihnen schritten, hatten bleiche Gesichter, dabei war das strenge der breitschultrigen Truttmannin krankhaft gelb und das des blutjungen Mädchens durchsichtig wie schönes, klarweißes Wachs. Die Cille war nicht im Zuge.

Von der »Gräbt« kamen die Leidtragenden im Knäuel zurück, saßen nachher in der Wohnstube im Zieglerhaus beim Leichenschmaus, aßen und tranken und lachten. Die Rottalbäuerin wartete den richtigen Augenblick ab und fing an in der Nebenkammer nach Erbbarem zu stöbern. Die Clari-Marie wurde mitten im Leichenmahl zu einem kranken Weibe weggeholt.

Als sie zurückkam und vom Altdorf her dem Hause zuschritt, sah sie, noch ehe sie die paar Schritte am Rothornweg hinauftat, die Cille daherkommen. Diese kam, wie sie ausgegangen war, im schwarzen Staat, stützte sich auf den großen Schirm und hatte nicht große Eile, obwohl sie lange Schritte machte, so daß der Oberkörper hin und her pendelte. Die Clari-Marie sah scharf hinüber, setzte die Lippen zusammen, und ihre Brauen rückten näher aneinander. Langsam ging sie gaßauf, hielt auf der Schwelle des Zieglerhauses an und sah nach der Cille zurück, die unten in die Gasse einbog. Dann legte sie die Hand auf den Türdrücker, aber als sie die Stimmen der Tafelnden aus der Stube schallen hörte, blieb sie stehen und ließ die Cille herankommen.

Das trübe, graue Tageslicht war nicht stark genug, die Gasse hell zu machen, es lag ein traurig stimmendes Düster über dem steilen, steinigen Weg, und darin standen die zwei schwarzgekleideten Frauen, oben die Truttmannin, ein paar Schritte unterhalb der Haustür, noch verschnaufend, die Cille.

»Tag,« sagte diese, sie blickte der Schwester mit einem fremden Mut gerade ins Gesicht, so als habe sie sich lange auf die Stunde vorbereitet und gestärkt.

»Wo ist der Jaun?« fragte die Clari-Marie. Beide standen nun am Hause und sprachen halblaut, mit einer langsamen Hast, als drängte es sie, das Wichtige zu besprechen, ehe ein dritter sich einmengte.

»Er ist unten. Noch in St. Felix ist er,« gab die Cille Bescheid. Die andre blieb stehen, sagte nichts, nur über ihre breite Stirn war ein eigentümlich wolkiger Schein gebreitet, von dem sich nicht sagen ließ, woher er kam, und in ihrer ganzen Haltung lag ein ungeduldiges: »Nun, sprich weiter.«

»Die Gräbt – ist – ist sie schon gewesen?« fragte die Cille; dabei fuhr sie sich mit der Hand unter die Augen und strich mit einem Finger eine Träne weg, eine, wie sie zu ihr paßte, kurz, herb wie sie selber.

»Ja, warum bist nicht gekommen? Ich habe dir doch berichtet,« sagte die Clari-Marie.

»Ich bin nicht weggekommen,« gab die andre zurück. »Zuerst wollte ich gehen; und da war das grausame Wetter, und sie ließen mich nicht. Und dann sagten sie, daß es nun doch zu spät sei, und dann – ich muß es selber sagen – es wäre zu spät gewesen, und – der Jaun – hat mich behalten wollen, und – dann – lebendig hätte ich sie doch nicht mehr gesehen, den Vater und die Mutter – und –«

Wieder fuhr sie sich unter die Augen, preßte auch die Lippen zusammen und schluckte, als würge sie einen schweren Bissen hinunter.

»Ja, und wann kommt er, der Jaun?« fragte die Clari-Marie mit ihrer scharfen Stimme. Da hob die Cille den Kopf, der ihr vornüber gesunken war, und sah die Schwester an wie zu Anfang mit etwas wie Mut und Trotz.

»Er kommt nicht,« sagte sie.

»Was?« fragte die andre.

»Er – ich – wir, ich und du haben uns das alles ganz anders und ganz falsch vorgestellt. Er – ich muß selber sagen – es wäre eine Sünde, ihm jetzt im Wege zu sein.«

»So?« An den scharfen Backenknochen der Clari-Marie war ein Wallen des Blutes, auf einmal standen ihr zwei braunrote Flecken im Gesicht. Die Augen bekamen einen eignen Glanz, ihre Brust fing an zu arbeiten. Die Cille ihr gegenüber verlor gleichermaßen die Ruhe, auch ihr stieg das Blut langsam zu Kopf; keine von beiden konnte verleugnen, daß ein Sturm in ihrem Innern anhob, beide packte es langsam, aber mächtig, und in der Art, wie ihr halblautes Reden hastiger wurde, verriet sich deutlich, wie die Erregung sie meisterte.

»Sie haben ihm den Kopf verdreht, dem Bub, in St. Felix,« sagte die Clari-Marie.

»Nein,« gab die Cille zurück, »der hat es gut da unten wie noch nie in seinem Leben.«

»Und du hast dir den Kopf auch verdrehen lassen.«

»Du mir den Gefallen und gehe eines Tages selber hinunter und laß dir erklären –«

»Ich wollte, daß ich müßte!«

»Aber jetzt im Ernst – –«

»So hast es denen zugegeben, daß er dort bleiben kann, der Jaun?«

»Ja. Er hat es jetzt einmal in sich, daß er ein Studierter werden will und kann.«

»Ein Studierter!« die Clari-Marie lachte halb.

»Ein Doktor,« sagte die Cille.

»Dann bleibt er also in der Stadt?«

»Hier oder doch im Kanton will er doktern, wenn er einmal darf.«

»Hier aber nicht,« sagte die Clari-Marie.

»Nicht?«

»Nicht, solange ich etwas zu sagen habe!«

Jetzt sah die Cille der andern wieder in die Augen, erstaunt, zornig, heimlich voll Angst. Der Zorn wurde Herr. Sie krampfte die dürren Hände um den Schirm. »Meinst, er könnte dich ausstechen?« fragte sie. Als es heraus war, erschrak sie selber über die Worte. Die Clari-Marie sagte kein Wort, es lief nur ganz sichtbar ein fahler Schein über ihr Gesicht, als erkalte sie innerlich. Dann drückte sie auf die Klinke und trat ins Haus.

Die Cille folgte ihr. In der Stube hob ein großes Fragen und Schwatzen an, als die Cille hereinkam. Die Clari-Marie ließ sich dort erst sehen, als jene schon unter den Gästen am Tisch saß und dahin und dorthin Rede stand.

Und just hinter der Clari-Marie, als diese, einen frostigen Zug im Gesicht, sich an den Tisch zu den andern stellte, kamen die Kinder des kranken Weibes hereingestoben, die sie schon einmal weggeholt hatten. »Ihr sollt gleich kommen, Clari-Marie. Es ist wieder schlimmer mit der Mutter.«

Die Clari-Marie stand einen Augenblick, als hörte sie nicht. Sie sah mit ihren schwarzen Augen die Cille an, fast als fragte sie: »he, du, was sagst?« Die Cille wurde rot, das altgewohnte Ducken kam sie an.

»So kommet doch,« drängten die Kinder, der Knabe zog die Clari-Marie am Rock, die Tränen schossen ihm aus den Augen.

Die Clari-Marie sah mit einem seltsamen, leuchtenden Blick über den Tisch hin. »Ich muß wohl,« sagte sie, »solange er noch nicht hier ist, der andre, der Doktor!« Es rann wie ein Zittern über ihre starke Gestalt, und die Stimme klang voll Hohn. Dann ließ sie sich von dem Buben hinausziehen.

Die Gäste sahen einander an. »Was hat sie jetzt?« fragte eine Frau.

»Warum ist sie jetzt so im Zorn?« erkundigte sich der Rottalbauer. Da stand die Cille vom Tisch auf, ganz bleich, mit von innerer Qual verzerrtem Gesicht. Die Arme hingen ihr lang herab. Jetzt hob sie sie ein wenig.

»Er – er will Doktor werden, der Jaun,« sagte sie mit bebenden Lippen »und sie ist nicht zufrieden, die Clari-Marie.«


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