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Ueber die vom Isengrund ging die Zeit hin. Unsichtbar kam das gerollt wie ein mächtiges Rad, unsichtbar rollte es davon, und nur, was zurückblieb, war zu sehen: hochgeschoben einer dort, der sonst im Kot und in der Armut der Straße gesessen, gequetscht und verwundet ein andrer, den das Rad im Rollen gefaßt, tot der Dritte, still, voll ewiger Geduld, mochte nun nahen und gehen, was wollte.

Den Löwenwirt, den Dickwanst, der an sich selber schwerer trug als an seines Schicksals Tagen, hatte es emporgehoben und hatte ihn auf einen Sack voll Geld gesetzt. Sein Gasthaus war das einzige am Ort, und wer im Tal handelte und wandelte, stieg zur Rast oder doch zu einem Trunke bei ihm ab. Weil aber nicht nur sein Geldsack, sondern auch sein Leib zunahm, und eine angeborene Bequemlichkeit in eine mächtige Faulheit ausartete, weil zudem seine beiden Buben nicht Lust zum Geschäfte hatten, sondern – eine Seltenheit an einem vom Isengrund – in die Welt hinausstrebten, so suchte der Löwenwirt seit einiger Zeit nach einem Liebhaber für sein Geschäft, suchte aber gemächlich und nur mit halbem Ernst, denn er war dabei wie die Schnecke, die die Fühlhörner ausstreckt. Stößt sie an, so zieht sie sie eilig zurück, und vor jedem ernsthaften Käufer verzog sich Jost Trachsel, der Wirt, in sein Schneckenhaus, eine hohe Kaufsummeforderung.

Außer dem Löwenwirt hatte das Glück im Isengrund keinen besonders angestrichen, auch den Rottalbauern nicht und sein Weib; die mühten sich und schacherten und heimsten langsam, langsam ein. Ein paar Tote hatte die Clari-Marie in ihre vier Bretter gebettet, sss, sss ging die Säge des Töni täglich in ihrer Werkstatt, sie hatte die Bretter geschnitten, die die Clari-Marie für das letzte Haus der Strahlegghüttlerin fügte, derselben, deren einziges, spätes Kind sie empfangen und nicht am Leben zu erhalten vermocht hatte. Das Weib hatte gekränkelt seither, dann war sie gestorben. Claudi, das Buckeli, hatte ihr abgewartet, niemand sonst, denn das Buckeli war dem Strahlerweibe die nächste Nachbarin oben am Berg, wo die Hütten verstreut und verloren stehen, und das Buckeli war eines von denen, die die rollende Zeit wachsen ließ, daß sie langsam an die Grenze kommen, wo das Kindsein aufhört.

Einen schönen, festen Sarg aus starkem, gesundem Holz hatte die Clari-Marie gefügt für die schöne, feste, starke und gesunde Frau, die dem Jakob Jacki, dem Wildhüter, starb, mitten im Leben wie vom Blitz erschlagen, von einem Fieber in einer Nacht hingerafft. Und – seltsam – der Strahlegghüttler sowohl wie der Jacki, der Hüter, als sie, Hut in Händen, am Totenbett ihrer Weiber gestanden hatten, am Bett einer Dulderin jener, dieser am Lager einer jäh Gefällten, hatten den trüben Blick von den bleichen Zügen der Gestorbenen genommen und auf die Clari-Marie gerichtet, die für die Tote in der Stube zu tun hatte. Sie hatten barhaupt mit derselben Andacht das lebende wie das tote Weib angesehen, weil ihnen im zähen, rauhen Leibe das nicht leicht weich werdende Herz zitterte vor Staunen und Wundern, wie die da – die Clari-Marie – einem Menschen, der in den letzten Nöten lag, über die Brücke zu helfen wußte, den fürchterlichen Steg aus dem Leben zum Tod. Mit den Händen stützte sie die Hände der Kranken, und dazu stand sie selber stark und aufrecht am Bett und betete immer, und wenn sie auch immer dieselben vorgeschriebenen Formeln sagte, so war es doch, als spräche sie Worte, die so stark und aufrecht waren, wie sie selbst. So stand sie neben den Sterbenden, daß es immer war, als nähme sie die größere Last des Sterbens auf sich. Mit einem Lächeln, das sagte: es ist nicht so schwer, starben die beiden Weiber. Das Lächeln war das Verdienst der Clari-Marie; sie hatte eine wundersame Gabe, in den bittersten Nöten zu helfen.

So war der Tod im Isengrund hinter die geraten, deren Zeit noch nicht aufgezehrt war; andre, die wie faules und aus lang vergangenen Herbsten zurückgebliebenes Laub waren, konnten nicht sterben. Der Ziegler-Chrisostomus und sein Weib lebten noch immer. Aber sie saßen nicht mehr am Ofen, sie hatten sich noch ein Stück weiter hinaus aus dem Leben der andern verkrochen. In der großen Kammer neben der Wohnstube standen drei Schlafstellen, zwei so von der einen kahlen Wand in den tannenen Boden hinaus, daß ein schmaler Gang zwischen ihnen war, die dritte von ihnen entfernt in der Fensterecke. In den zwei nebeneinander stehenden Betten lagen der Chrisostomus und sein Weib, das letztere vergraben in rotbedruckten Decken und Kissen. Ein Büschel weißes, wirres Haar war zwischen dem Bettzeug sichtbar, und eine dünne Stimme kam manchmal aus den Kissen: Jere-ja! jere-ja! Das war das Ganze, was der Chrisostomus noch von seinem Weibe hatte, war die ganze Antwort, die er bekam, wenn er sich auf seinem Bett aufrichtete und aus Langeweile nach dem andern hinüberschwatzte, wo die Anni lag. Der Chrisostomus war noch ein stattlicher Schloßbau im Vergleich zu der Ruine, die sein Weib vorstellte. Zweimal des Tages kam für ihn eine große Stunde, da streifte er die Schafwollhose an, die neben seinem Bette lag, und die Clari-Marie kam herein, band ihm ein dickes Tuch kreuzweise um den Oberkörper und setzte ihn am Bettrand zurecht. Dann kramte er die Pfeife aus der Tasche, stopfte sie, und die Clari-Marie zündete sie an. Da aber diese, die vielgeschäftige, nicht immer genau die Stunde einzuhalten vermochte, da überdies der Ziegler in dem steinalten Leib noch viel junge Ungeduld hatte, geschah es, daß er oft in die Hose schon viel und viel zu früh fuhr, sich einen Platz am Bette erarbeitete und da hockte, wartend auf das, was noch sein Glück war. Er lebte noch grausam gern, saß auf dem Bettrand und qualmte und tuschelte in sich hinein, während sein Weib vom Nachbarbett her eifriger ihm zur Begleitung ihr »Jere-ja« jammerte.

Die Clari-Marie, wenn sie in die Kammer der Alten trat, hatte jedesmal die drollige Empfindung, daß sie zu Kindern gehe, lachte innerlich, daß das Leben sich wendete und aus dem Kinde die Mutter für Mutter und Vater geworden war, genoß aber wiederum unbewußt jene sonnenscheinartige Freude, die die Mutter in der Nähe ihrer spielenden Kinder ankommt, und hatte so in dem Dasein der Alten etwas in ihrem Leben, was die Cille, die weniger ihrer Pflege sich widmete, nicht empfand und was wie ein Glück war.

Seit mehr denn einem Jahre teilte die Clari-Marie auch nachts die Kammer der Alten; die im Isengrund schrieben es allein ihrem Wissen und ihrer Heilkunst zu, daß die zwei grabreifen Menschen immer und immer noch lebten.

Die rollende Zeit brachte auch Nachricht vom Jaun ins Zieglerhaus, nicht allzu häufige, denn Jaun stand im Joch schwerer Arbeit, und die Zieglerschwestern waren nicht schreibselig und gaben ihm nicht Anlaß, allzu spärlichen Schreibens sich schuldig zu fühlen. Nachricht war gekommen, daß er noch immer über die Maßen gern zu St. Felix sitze und nicht weniger gern im Haus des Apothekers weile, dieser wiederum aber und seine Familie, insbesondere jedoch Kirchhofer, der Aeltere, eine seltsame Anhänglichkeit an den hatten, der als ein unbeholfener Bergbub zu ihnen gekommen war. Zwischen den Zeilen des Jaun vermochten selbst die zwei ungelehrten Frauen, die Clari-Marie und die Cille, zu lesen, daß sein Durst nach allerlei Wissen und Können, das lange nicht mehr zum Stand eines Bergbauern paßte, immer noch mächtiger wurde; wenn sie diese Briefe las, bekam die Cille ein Herzbangen und engen Atem, die Clari-Marie aber faltete die Stirne, sagte lange nichts, bis sie eines Tages die Hand schwer auf einen Brief legte, der eben gekommen war, und in strengem Ton, zur Cille gewendet, begann: »Es ist Zeit, daß er heimkommt, der Jaun. Er wird wohl stark genug sein jetzt, daß er die Bergluft verträgt.« In den letzten Worten zitterte der Spott. Die Cille hatte keine Antwort, aber die andre fuhr fort:

»Und dann – er braucht nicht auf den Taglohn zu gehen hier, er kann hier eine Handlung einrichten mit allerlei Zeug, wie sie es in St. Felix in der Apotheke feil halten. In der kleinen Hinterstube kann er das. Du gibst etwas daran und ich gebe etwas daran. Was er zum Leben braucht, verdient er damit; mehr hat er nicht nötig. Kannst ihm schreiben, wie wir es im Sinne haben.«

Die Cille sagte dazu nicht viel, aber sie schrieb, und das Herz wurde ihr nicht leichter dabei. Dann kam die Antwort, nicht vom Jaun – von Kirchhofer, dem Jungen. Der schrieb fast zornig. Sie sollten sich nicht in den Weg stellen, wenn der Jaun auf der Wanderschaft nach dem Glück sei, sein rastloser Fleiß verdiene einen andern Lohn als eine Krämermühsal in einem Nest wie Isengrund. Sie sollten sich's wohl überlegen, ob sie es verantworten könnten, des Buben Unglück gewollt zu haben.

Auch dieser Brief machte der Cille Herzklopfen, machte ihr den armen, nicht an vieles Denken gewöhnten Kopf müde und dumpf und jagte ihr eine Unruhe in die Glieder, die sie tagelang nicht verließ. Die Clari-Marie schwieg, sah nur die Cille immer so sonderbar an, als früge sie: Weißt nicht, was du jetzt zu tun hast? Wollte diese aber ihre Meinung wissen, blickte sie an ihr vorbei und sagte: »Tue, was du willst! Was ich denke, weißt du.« End' aller Enden blieb der Brief unbeantwortet, und in St. Felix taten sie, als sei ein Bescheid nicht nötig. Der Jaun blieb, wo er war.

Nun löste das Frühjahr den Winter ab, einen, der grimm gehaust hatte und dessen Schneewuchten, unter denen er die vom Isengrund beinahe erstickt, noch in schweren Ueberresten in allen Felslöchern, an jedem Schattenfleck, an den Hängen und über den Bergkämmen lagen. Da trug der Briefträger den Ziegler-Schwestern einen Brief vom Jaun ins Haus, der herzlich und ungestüm war und in der noch halb winterlichen Stube hauste wie der Föhn im Schneetal.

»Jetzt kann ich es euch sagen,« schrieb der Jaun, »ich habe das Examen gemacht. Mit dem neuen Semester beziehe ich die Universität!« In dem Satz waren zwei Worte, die die Ziegler-Schwestern nicht verstanden: Semester und Universität. Aber den Jubel verstanden sie, der durch des Jaun ganzen Brief klang; es war fast, als stände jener vor ihnen in der Stube und erzählte und jauchzte dazwischen und erzählte wieder mit zwanzig »denket« und »höret« und »wisset«. Was anfangs unklar war, das klärte ihnen die Fortsetzung des Briefes auf. Da stand »Medizin werde ich studieren! Ein Doktor werde ich, Base Clari-Marie, ein Doktor, wie Ihr einer seid, nur einer, wißt Ihr, der ein bißchen mehr lernen muß! Der alte Herr hilft mir, der alte Herr Kirchhofer! Wie soll ich es ihm einmal vergelten! Das ist einer, der alte Herr! Stolz ist er, daß ich es so weit gebracht habe, und – ich verdiene auch selber etwas mit dem, was ich mithelfe in der Apotheke, aber nachher, wenn ich die Universität bezogen habe, wird das nicht mehr angehen. Aber später zahle ich ihm alles zurück, dem alten Herrn! Beim Eid tu' ich es! Und freuet euch, Mutter und Clari-Marie. Ihr sollt es gut bekommen, wenn ich einmal ein Doktor bin. Sie verdienen viel Geld, die Doktoren.«

Die Clari-Marie und die Cille standen inmitten der Stube, steif, wie an einen Fleck gebannt, der Cille hing der Kopf auf die Brust, die Clari-Marie sah geradeaus und hatte ein Wetterleuchten in den Augen. Sie hatten beide den Brief gelesen und lasen auch den Zettel noch, der dabei lag und der die festen, klaren Schriftzüge eines bedächtigen alten Mannes trug. »Ja, ihr zwei Frauen da oben im Berg,« schrieb der alte Herr Kirchhofer unter anderm, »euch wünsche ich Glück zu dem Buben, dem Jaun. Seit er hier ist, hat er keine Minute eines einzigen Tages müßig vorbeigehen lassen. Er ist nicht fett und nicht rotbackig geworden; aber er bringt etwas zuwege, was mehr wert ist, als Speck ansetzen. Sein Studium wird euch nichts kosten; ich habe das mit meinem Sohne abgemacht, und Jaun vergilt es reichlich durch seine Treue und Anhänglichkeit und seinen Fleiß. Seit langem habe ich mich auf den Augenblick gefreut, da ich euch die Freude ins Haus melden könnte. Wäre ich noch der junge Springer wie zu der Zeit, da ich in einer Woche zweimal auf euer Rothorn stieg, wäre ich wahrhaftig selber zu euch hinaufgekommen, damit ich euch hätte sagen können, was für einen braven, stillen Menschen ihr aufgezogen habt.«

Die Cille hielt diesen Zettel in Händen, die Clari-Marie hatte zwischen den harten Fingern den Brief des Jaun, und er knisterte sonderbar. In der Nebenstube schliefen die Alten; das Arbeiten des Gesellen scholl aus der Werkstatt herüber.

»Nun?« sagte die Clari-Marie, sie strich die spärlichen, glatten Haare am Scheitel noch glatter, ihre Hand zitterte ein wenig.

»Ich, ich – will ihn holen,« sagte die Cille.

»Gut,« gab die Clari-Marie zurück. »Sag ihm, er soll noch heim kommen, solange er kann.« Während sie das sagte, ging sie schon nach der Tür, aber sie sprach so, als wären ihre Worte Nägel und sie stünde in der Werkstatt, einen Nagel um den andern – pang – mit schwerem Hammer in ein Brett zu schlagen. Vielleicht trafen die Worte die Cille wie Nägel. Sie blickte halb auf und der Schwester nach. Die wendete sich in der Tür. »Hätten wir ihn nicht gehen lassen, in die Stadt – zu – zu dem Volk!« sagte sie.

»Eben ja,« sagte die Cille. Sie tat einen Schritt vorwärts, hob die dürren Arme halb auf, als wollte sie sie vors Gesicht schlagen, ein Flennen sprengte ihr den herben Mund, aber im nächsten Augenblick war es, als reue sie alles oder als besinne sie sich. Sie nahm den Schürzenzipfel, fuhr sich hart ins eine, dann ins andre Auge; dann starrte sie die Tür an, durch die die Schwester hinausgegangen war, und starrte und sann, sann und starrte und war nicht sicher, ob es falsch gewesen war, daß der Jaun in die Stadt gekommen. Aber, daß sie hinab mußte zu ihm, wußte sie.

An dem Morgen klang das Werkeisen schärfer als sonst von der Werkstatt herüber; die Clari-Marie half bei der Arbeit, und sie schlug und sägte und schlug und sägte den Groll in sich tot. Aber als der Hansi und die Severina, jener vom Taglohn, diese aus der Schule, heimkamen, sahen sie doch noch wie scheu und von der Seite in das breite Gesicht der Truttmannin, und über dem Essen fragte die feine Severina, deren schlanke Gestalt sich streckte und rundete, mit ängstlichem Blick: »Seid Ihr zornig, Base Clari-Marie?«

»Nein,« sagte diese und sprach mit dem Töni und mit dem jungen Volk wie alle Tage, es war nur, daß ihre Stimme spröd war und die Worte kurz und scharf tönten, wie wenn Stück um Stück von einer Glasscheibe gebrochen wird. Die Cille saß mit schmalen Lippen, wortkarg und bedrückt am Tischende.


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