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16

Die Cille war nicht weit mit denen gegangen, die plötzlich hinter der Clari-Marie die Stelle am Rottalgaden verlassen hatten. Mitten unter den andern blieb sie stehen, unbeholfen, so daß niemand merken sollte, auf wen sie harrte und daß es doch alle merkten. Die an ihr vorbei gingen, stießen einander an: »Du, auf den Jaun, ihren Buben, wartet sie, die Cille.« Ihr klopfte das Herz, das Blut stieg ihr auf; ihr Gesicht war heiß. Willkommen heißen mußte ihn doch einer, den Jaun – nach so langer Zeit!

Als die droben immer noch nicht kamen, tat sie Schritt für Schritt tiefer den Weg hinab. Endlich sah sie den Jaun mit dem Löwenwirt hinter ihr Herkommen. Der Huber war wie eine Klette, er ließ jenen auf dem ganzen Weg nicht los. Aber am Zieglerhaus hielt der Jaun inne, sagte, daß er später nach dem Gasthaus herüberkommen wolle, und kam von dem eifrigen Manne frei. Die Cille war in den Hausflur getreten; sie stand ganz hinten im Flur, damit keiner sie sehe. Als er eintrat, schien es einen Augenblick, als wollte das steife, unbeholfene Weib die Arme auswerfen und sie ihm um den Hals legen, aber dann streckte sie nur eine der glasigen Hände aus und sagte ein kurzes »Tag, Bub«. Nachher stand ihr in der weißen Hauteinsenkung unterhalb der Augen ein spärliches Naß.

Jaun drückte die ihm gebotene Hand. So wenig wie sie verstand er, zärtlich zu sein. Nur als sie sich umwendeten, um in die Stube zu treten, tätschelte er die Mutter mit einer unbeholfenen Armbewegung auf den Rücken. »So – so – wie geht es auch – euch allen?«

»Gut, – bah, gut –« sagte die Cille.

Da tat ihnen die Severina von innen die Stubentür auf. »Es war mir doch, daß Ihr es sein müßtet,« sagte sie. In der Stube fand die Cille einen Weg, dem Heimgekehrten die Liebe zu zeigen. Sie rückte ihm einen Stuhl zurecht, schob ihn, der mit der Severina sprach, an beiden Schultern ihn fassend, darauf, ging selber in die Küche, suchte und rumorte und brachte Eßzeug und stieg in den Keller und holte aus dem einzigen kleinen Faß Wein für ihn. Als der Jaun ganz hungrig zu essen begann, setzte sie sich an ihren Platz oben am Tisch, und die Severina rückte auf der Fensterbank hinauf, bis sie dem Jaun gegenübersaß. Beide Frauen stützten die Arme auf den Tisch und neigten die Köpfe vor, als dürften sie die Augen nicht von den Zügen des Heimgekehrten nehmen. Dem war wie in seinem Leben noch nie. Wenn er aufsah, fiel sein Blick auf die schlanken in dünnen Stoffärmeln wohl abgezeichneten Arme der Severina und auf ihr darüber hinauslugendes Gesicht. Er wurde rot und senkte die Augen eilig, aber wohl war ihm doch; er vergaß den Löwenwirt und sein Amt, und es war ihm, als sei er nur eben heimgelaufen – heim, dahin, wohin er gehörte.

Jetzt machte die Severina eine rasche Bewegung und stand auf. »Warum kommt sie nicht, die Base Clari-Marie?« sagte sie. »Die weiß wohl nicht, daß du hier bist. Ich muß sie gleich holen – gleich.«

Die Cille nahm die Arme vom Tisch, stand auf und setzte sich wieder, die Röte auf ihren Backen verschwand allmählich. Auf der Zunge hatte es ihr gelegen: »Bleib noch, Severina, laß noch einen Augenblick Frieden sein!«

Der Jaun aß weiter, als die Severina gegangen war, aber es mundete ihm nicht mehr, er würgte an den Bissen. Die Worte gingen beiden aus. Die Cille suchte nach etwas, was sie sagen könnte. »In den Löwen gehst jetzt dann? Gelt?« fragte sie endlich.

»Ja,« sagte Jaun. Dann standen sie wo vorher. Keines wußte weiter. Sie lauschten heimlich beide auf nahende Schritte.

Jetzt knarrten die Flurbretter, aber es war nur die Severina. Sie kam langsamer zurück, als sie gegangen war. Fast leise trat sie in die Stube. »Sie kommt, die Clari-Marie,« sagte sie, aber es war nicht mehr die freudige Hast von vorhin in ihrem Ton. Dann setzte sie sich wieder hinter den Tisch.

Der Jaun schob den Teller zurück. Eine ganze Weile sprach keines, dann hörten sie die Schritte, die so lange nicht hatten kommen wollen. Die Flurbretter knirschten. Auf den lautlosen Werkstattschuhen kam die Clari-Marie gegangen, schlarpend, langsam. Als sie durch die Tür trat, stand der Jaun auf.

»So! Also noch einmal ›Tag‹,« sagte sie im Hereinkommen. Wie zufällig schob sie die Hände unter die Kattunschürze. »Sitz doch,« sagte sie zu Jaun. Der ließ sich plump auf den Stuhl fallen, von dem er sich eben erhoben hatte. Die Clari-Marie setzte sich auf die Ofenbank, dort, wo ehemals der Chrisostomus, ihr Vater, gesessen hatte. Sie nestelte jetzt an der Schürze, die unrein war, und legte sie ab, nun saß sie in ihren: schlichten schwarzen Gewand.

»Kommt doch da herüber, Base Clari-Marie,« bat die Severina.

»Ich sitze gut da,« gab diese zurück. Da nahm sich der Jaun zusammen. »Ach,« sagte er mutig und fest, »seid jetzt nicht so, Base, habt doch Freude, daß ich da bin.«

Die Clari-Marie blickte ihn frei und ohne Zorn an. »Siehst, das ist jetzt so,« begann sie ganz ruhig. »Das habe ich dir immer zu wissen getan. Wenn du ein Doktor wirst, so ist deine und meine Freundschaft zu Ende. Da ist jetzt nichts mehr zu markten.«

»Aber warum? Eher stolz sein solltest! Was ist nicht geworden aus dem Bub!« fuhr die Cille jäh, in einer an der Stillen völlig fremden Erregung dazwischen. Die Clari-Marie warf ihr einen langen Blick zu. »Was er gelernt hat, das paßt nicht mehr zu mir,« sagte sie ganz ruhig, »und ich bin zu alt, ihm noch nachzulernen. Er zu neu – ich zu alt. So kommen wir halt nicht zusammen.« Als sie das, Wort für Wort überdenkend, gesagt hatte, stand sie auf, schob ihre bauschigen Röcke zurecht und näherte sich der Tür. »Und auch das,« fuhr sie fort, »zum falschen bist gegangen, Bub, zu dem im ›Löwen‹, dem Fremden! Der und einer, der's mit dem Dorf ehrlich meint, können nicht zusammengehen.« Sie legte die Hand auf die Klinke. Der Jaun hielt den Kopf gesenkt, und saß am Tisch, eckig, aufs Maul geschlagen, just wie er als Bub gesessen hatte. Er hatte kein Wort der Gegenrede. Schon halb im Flur wendete die Clari-Marie noch einmal das breite, farblose Gesicht. »Ich habe zu tun in der Werkstatt,« sagte sie, »noch eine Stunde vielleicht, nachher, wenn ich wieder hereinkomme, wäre es mir schon recht, wenn wir nicht mehr zusammenkämen. Das ist jetzt einmal so: Unsre Freundschaft ist in zwei Stücken.«

Die Clari-Marie wartete keine Antwort ab. Mit demselben schweren schlurfenden Schritt ging sie hinaus, mit dem sie gekommen war. Als die Haustür zufiel, stand der Jaun auf. Er suchte nach seinem Hut, den er aus einen Stuhl gelegt hatte. Der Kopf hing ihm auf die Brust; das Gesicht zuckte einen Augenblick, wie es dem Bub gezuckt hatte, wenn ihm das Flennen nahe war. »So will ich jetzt gehen,« sagte er.

Da stand die Cille neben ihm, lang, aufrecht, die Augen feucht. »Wenn du mich brauchst, auf mich kannst zählen,« sagte sie.

»Ja, ja, Dank,« sagte er, drückte ihr die Hand und lächelte selbst. Als er darauf der Severina die Hand zum Abschied hinstreckte, trat sie dicht an ihn heran, hatte glühende Backen und glänzende Augen. »Weißt,« sagte sie hastig und fast leise, »schlecht mußt doch nicht denken von der Base Clari-Marie. Nur nicht immer verstehen kann sie eines. Sie ist anders als alle andern. Aber eine gute ist sie doch! Wirst es schon sehen, wenn du Bescheid weißt im Dorf.« Sie hatte seine Hand gefaßt und drückte sie mit ihren beiden, als müßte sie ihn durch die Bewegung überzeugen. Er aber spürte nur den Druck der weichen Finger und das Herandrängen ihrer Gestalt. Das Blut stieg ihm zu Kopf. »Ade,« sagte er hastig und völlig verwirrt und ging.

Am andern Tag war im Isengrund ein Begräbnis. Jaun, der Doktor, stand am Fenster seiner Stube im »Löwen« und sah auf die Straße nieder, als sie mit dem Sarg von der Kirche her ins Dorf und dem Friedhof zu zogen, eine lange, schwarze Reihe von Männern und Weibern. Die Glocken klangen über sie hin, die Lüfte schwangen von den hellen, schwellenden und sinkenden Erzklängen. Sie begruben den Scharfegghüttler. Die vom Rat schritten hinter seinem Sarg, da er nähere Verwandte im Ort nicht hatte. In der ersten Reihe der Weiber, die dem Zuge der Männer folgten, ging die Clari-Marie. Es war ihm, als sei der jetzt der Gedanke im Kopf: In die Grube mußt fahren, Scharfegghüttler, daß keiner mehr lang zu fragen braucht, wie und wann du gestorben bist! Und er, der Jaun, hatte heute früh einen Bericht an die zuständige Polizeidirektion geschickt: »Pflicht meines Amtes als Arzt in hiesigem Ort bringe ich zur Kenntnis, daß die Leiche eines hierorts gestern tot aufgefundenen Bürgers, Tobias Wipfli, eine tiefe Schußwunde an der linken Schläfe aufgewiesen, alle Anzeichen auf fremde Gewalttat, nicht aber auf Selbstmord schließen lassen.«

Indessen zog der Zug unten weiter dorfein. Der Sarg und die vordersten der Leidtragenden verschwanden schon zwischen den Häusern. Nun setzten die Glocken aus. Die Schritte der Gräbtleute klangen dumpf herauf; das Murmeln der Betenden mischte sich damit; es gab ein Geräusch wie ein dumpfes Murren. Da war es dem Jaun, als murrten sie wider ihn. Der Trotz, der in der Haltung der Clari-Marie lag, schien plötzlich allen eigen zu sein. Mit störrischer Langsamkeit zogen sie unten vorbei. Der Jaun fühlte seine Kehle verschnürt. ›Gestern bist eingezogen, heute hast schon das ganze Dorf gegen dich!‹ Es war ihm übel zumut, wie einem nicht Uebertapferen am Vorabend der Schlacht. Fast wäre ihm lieb gewesen, daß er die Anzeige an die Polizei unterlassen hätte! Dennoch wußte er, daß er sie wieder versenden würde, wenn sie noch nicht abgegangen wäre. Pflichttreu war er immer gewesen. Sonst hätte er es nicht dahin gebracht in der Studienzeit von St. Felix, dahin, wo er jetzt stand.


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