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11

Die kleine Welle, die im Lebenssee derer vom Isengrund entstanden war, als die zwei Ueberzeitigen, der Chrisostomus Ziegler und sein Weib, gestorben waren, glättete sich wieder. Im Zieglerhaus kamen sie am längsten nicht ins Gleise. Dort lag ein paar Tage eine Schwüle auf den Inwohnern. Der Hansi und die Severina vergaßen das Schwatzen. Der Töni stand von den Mahlzeiten früher als gewöhnlich auf und rauchte seine Pfeife in der Werkstatt statt am Tisch in der Wohnstube. Zum Hansi meinte er: »Du, Bub, jetzt kann's denn wieder besser Wetter geben da bei euch, sonst, beim Eid, laufe ich davon.« Der Hansi tat, als höre er nicht. Er hing an der Clari-Marie und schwieg, weil er nicht wußte, mit was er sie verteidigen sollte. Daß sie an dem heimlichen Unfrieden schuld war, ließ sich nicht leugnen. Die Cille ging umher wie eine Geschlagene. Wenn sie meinte, allein zu sein, schoß ihr das spärliche Wasser in die Augen, wie das so war bei ihr, und sie würgte an ihrem heimlichen Kummer. Die Clari-Marie lebte ihr nicht zuleid, aber sie gab ihr nur die Worte, die sie mußte, daneben tat sie laut, mit einer hallenden Bestimmtheit, ihr Tagwerk, es war, als schäle sich aus der sonst so stillen, ängstlichen, zurückhaltenden Frau langsam eine andre, herrische heraus. Aber auch die Schwüle im Zieglerhaus löste sich allmählich. Die Dorfnot, die immer und wie vorher an die Tür der Clari-Marie klopfte und die auch die Cille stets mit hatte lindern helfen, half den Schwestern wieder zusammen.

Drei Tage nach dem Begräbnisse wagte die Severina eines Morgens beim Frühstück die Frage:

»So kommt er also gar nicht mehr heim, der Jaun?«

Das war nicht klug gefragt, aber die Neugier plagte die feine Severina, und bisher war keines im Hause darüber klar geworden, was im Tal unten mit dem Jaun, dem Buben, der schon so lange fort war, vorging. Die Frage war nicht klug.

»Nein, hier ins Haus kommt er nicht mehr, der Jaun,« gab die Clari-Marie zur Antwort.

Die Cille bekam einen roten Kopf und neigte sich tiefer über ihre Milch.

»Es ist schad,« sagte die Severina, »ich habe ihn gern, den Jaun.«

»Der wird wohl anders geworden sein in der Zeit,« warf der Hansi ein.

»Ein Herr,« sagte die Clari-Marie hart.

Dann standen sie vom Tisch auf.

Der Hansi stieg nach dem Estrich hinauf, als er herabkam, trug er ein schweres Beil auf der Schulter. »Ade,« rief er in die Küche hinein.

»Ade,« gaben die Cille und die Severina von dort zurück. Er verließ das Haus, schob drüben die Werkstattüre zurück und blickte hinein. Die Clari-Marie und der Toni standen an der Arbeit.

»Ich gehe jetzt, ade,« sagte der Hansi.

Die Clari-Marie sah ihn zerstreut an. »Wohin?« fragte sie.

»Heute ist doch Dienstag,« gab er zurück, »ich muß doch ins Holz mit dem Vater.«

»Jaso,« sagte die Clari-Marie. Dann trat sie hinter der Hobelbank hervor und zu ihm in die Tür. Sie zupfte ihm das blaue Ueberhemd am Halse zurecht. »So geh halt,« sagte sie und dann – gleichgültig – »schön Wetter ist heute,« stand neben ihm und schaute den Rothornweg hinauf, über den herab das Gold eines hellen Morgens quoll.

Der Hansi streckte ihr die Hand hin, die schwielig und breit und stark war und leuchtete sie mit den heiteren Augen nahe und fröhlich an. Sie nahm seine Hand. Dann ging er, und sie blieb unten am Weg stehen und sah ihm nach.

Mit den schweren Schritten derer vom Isengrund stieg er bergan, das war immer, als zwinge jeder eigensinnig und beharrlich widerspenstigen Grund unter die Füße, wo die zu steigen anhoben. Er trug hellblau gestricheltes Kattungewand, die Hose, die über die Wadenmuskeln straff gespannt saß, und das Stallhemd, das, in die Hose gepackt, sich fest um die schlanken Hüften legte. Der nackte Fuß steckte in Holzsandalen. Der braune Kopf war bloß, und die weiße Locke schien, als liege eine Lichtflamme auf dem vollen Haar. Er war breitschultrig geworden, und das Gesicht war jetzt fest und gesundfarbig. An den Schläfen und an der Oberlippe sproßte der blonde Flaum.

Höher und höher stieg er, jetzt erreichte er die Stelle, wo die haarscharfe Grenze zwischen dem Schatten des Talgrundes und dem Goldschein in der Höhe lief. Da sah er sich um. Warm umfloß es seine kräftige Gestalt. Er winkte hinab und jauchzte.

Die Clari-Marie stand noch immer dort; sie sah seine hellen Augen blitzen. Er aber konnte nicht wissen, daß in den ihren etwas wie Sehnsucht stand und daß hinter ihrer Stirn ein Gedanke arbeitete: ›Wirst mir auch verloren gehen wie – wie der Jaun?‹

*

Der Hansi setzte seinen Weg fort. Es wurde ihm warm, er öffnete das Hemd am Halse. Als er auf die Bergrippe trat, wo der Rottalgaden stand und der Weg nach seines Vaters Hütte hinüber abzweigte, stand drüben seine Mutter und rief ihm das »Tag« zu. Er grüßte zurück. Darauf schrie sie herüber: »Der Vater hat auswärts müssen, du sollst allein hinausgehen; es ist alles Holz angezeichnet, was geschlagen werden soll.«

»Gut,« gab er zurück; dann im Weiterklimmen fiel ihm etwas ein, was ihm das Blut ins Gesicht trieb: Nicht einmal herüberkommen hat sie dich lassen, die Mutter! Damit – damit sie dir nichts zu essen mitgeben muß! Er griff in die Hemdfalten; da steckte Brot und Käse, die ihm jeden Morgen bereit lagen, ehe er zur Arbeit ging. Das spendete die Clari-Marie; die andre aber, die eigne Mutter, war froh, daß sie keine Kinder mehr zu füttern hatte. Pfui!

Als er unter die Waldstämme trat, vergaß er den Groll. Der Wald duftete, der blaue Himmel sah hier und dort herab, leuchtend und hoch, und der Sonnenschein lag auf glänzenden Tannenästen. Manchmal stieg aus dem Kranz dunkler, goldübergossener Kronen ein grauer Felsturm, ein moosumsponnener Block und Flämmlein Lichtes brannten an ihm, wo er eine Glimmerschuppe trug. Allmählich lichtete sich der Wald, das Rothorn schimmerte durch die Bäume, mächtig, hoch, den fahlen Mantel seiner Gletscher wandelte die Sonne in ein silberbrennendes Meer. Drunten lagen die grünenden Alpweiden, weit streckte es sich über Berg und Berg. Der Hansi machte Halt, er streifte die Aermel seines Hemdes an den weißen, festen Armen hoch, legte die Kattunbluse unter einen Baum, das Eßzeug darauf; dann sah er sich um, eine Anzahl der nahen Tannen trugen weiße Schlagzeichen, das Harz floß aus ihnen; wer näher zusah, konnte des Rottalbauern Namenzeichen erkennen. Der Hansi stellte sich vor den nächsten, schwang einmal die Axt wie zur Probe, dann holte er weit aus, sausend fuhr sie in den Stamm. Schlag auf Schlag folgte, der junge Körper wand sich in schönem, gleichmäßigem Vor und Zurück; wenn ein Schlag saß, ächzte das Holz und fuhr jedesmal ein Laut über Hansis Lippen, der fast wie ein kurzes, frohes Lachen war, sein Gesicht rötete sich, auf der Stirn standen Schweißtropfen. Als die Tannenkrone zitterte und zu schwanken begann, hielt er inne. Langsam neigte sich der Stamm. Da legte der Hansi das Seil um ihn, das er um den Leib getragen hatte und zog. Ein Splittern und Krachen, die Nachbarbäume griffen mit hilfreichen Aesten nach dem stürzenden Genossen, der aber peitschte sie mit den seinen und fuhr zwischen ihnen hindurch zu Boden. Da äugten vom Alpsaume her ein paar Ziegen nach dem Holzer; der sah sie und lachte ob der neugierigen Gesellschaft; sie mochten von einer Weide herübergestrichen sein; er hatte sie vorher nicht bemerkt. Als er sich an das Entästen des Baumes machte, stand der Kehle-Gisler, der Lätz, bei den Ziegen, und sein Gesicht mit der langen Nase und dem weißschwarzen, langen, dünnen Spitzbart war kaum von den Ziegenköpfen zu unterscheiden. Nach geraumer Zeit erst erkannte ihn der Hansi, lachte laut auf und hielt in der Arbeit inne. »Bist du's?« fragte er hinüber.

Der Gisler lachte mit, daß die gelben Zähne breit aus dem Munde standen, dann brach er langsam samt seinen Geißen durch das Unterholz herein. »Tag,« sagte er.

»Tag,« gab der Hansi zurück. »Hütest?« fragte er.

»Ja,« sagte der Gisler und stützte sich auf den Haselstock, den er in der Hand hielt und an dem eine Peitschenschlinge befestigt war.

Der Hansi fuhr in seiner Arbeit fort, aber der Gisler setzte sich auf einen Moosfleck unter einer Tanne, zog eine Pfeife aus der fleckigen und stickigen, uralten Hose und stopfte sie. Die langen, dürren Beine steckte er ins Grünwerk des Bodens. Dornen stachen fröhlich durch den dünnen Hosenstoff, Gras und Blattwerk schmiegte sich an das armselige Gehgestell, auf dem einen erdgrauen Holzbodenschuh tummelten sich Ameisen, auf dem andern schwarzbraunen Fuß, wo dieser nackt aus dem Holzschuh trat, lag eine weiße Waldblüte fest in den Lederriemen geklemmt, lag da wie das erste Flöcklein Schnee auf dunkelm, gesprungenem Erdgrund. Die Ziegen nagten an den Büschen, da eine, dort eine, inzwischen kamen der Alte und der Bub in ein Gespräch, das so kurz und abgehackt klang wie Hansis Beilschläge.

»Bist am Sonntag mit einem Stadtherrn auf dem obern Tierstock gewesen, scheint's?« fragte jetzt der Hansi. Der Gisler schmauchte.

»Ja,« nickte er.

»Das ist ein böser Berg,« meinte der Hansi.

»Leicht ist er nicht,« gab der andre zurück. »Es kommt auch darauf an, wie man ihn anpackt.« In langen Pausen fuhr er weiter fort: »Wenn du einen mit dir hast, der das Klettern versteht und nicht Angst hat, kommst überall durch. – Der Herr vom letzten Sonntag ist schon einer gewesen, der gehen kann. – Aber nachgeben hat er doch müssen, wie es durch die Wildflühen hinaufgegangen ist.« Bei diesen Worten zog der Gisler die Zähne ein. Ein Ausdruck stiller Freude und verborgenen Stolzes lag in seinem Gesicht, in seinen Augen besonders. Hansi hielt inne; es zwang ihn etwas, daß er den Gisler ansehen mußte.

»Er ist dir nicht nachgekommen, meinst?« fragte er.

»Ja, ja,« sagte lachend und nickend der andre. Dann drehte er sich, sprang auf wie ein Junger und stieß einen eigentümlichen Lockruf aus. Der Hansi schlug die letzten Aeste vom gefällten Stamm, kahl und lang lag dieser da. Der Gisler lockte noch immer. Zweige knackten, nacheinander brachen die Ziegen, die sich unter den Stämmen verloren hatten, durch das niedere Reisig. »Lug, der Teufel, der Teufel ist wieder fort,« schimpfte der Gisler und knallte mit der Peitsche, dann ging er dem Waldrand zu, sah sich um, trat weiter in die Alpweide hinaus und spähte; seine Brauen standen wie Ecken, und unter ihnen fuhr ein Blick hinaus wie Feuerzüngeln. »Komm, sieh,« schrie er jetzt nach dem Hansi hinüber. Der legte die Axt weg und kam zu ihm.

»Sieh dort! Die hat beim Eid einen Gemsbock zum Vater gehabt und keinen Geißer, die! Alleweil vergeht sie sich, alleweil ist sie an jeder Stutzwand oben,« sagte der Gisler. Er wies westwärts, wo Wald und Alp wie abgeschnitten waren und ein schroffer Felskegel turmgleich in den Himmel hinauf stach. Auf seiner dem offenen Alpgrund zugewendeten Seite hingen da und dort grüne Grasbüschel aus dem rissigen, grauen Gestein, da war ein Band und dort eines, hoch in den leuchtenden Morgen hinaus hing vom Fels wie ein Fähnlein eine schwankende weiße Hauswurzdolde, und oben, noch höher, so hoch, daß einem das Genick weh tat, wenn man hinaufschaute, zuckte es golden und wie Feuer, als schmiedete einer die Sonnenspieße, die von allen Seiten auf den nackten Felskopf stachen. In der Mitte der senkrechten Wand, auf breiterem, grünem Sims stand eine weiße Ziege und meckerte, stand da, ging einmal vorwärts und einmal zurück und konnte nicht weiter.

»Hinauf kommt sie immer, der Teufel, der Teufel,« schalt halb lachend der Gisler, »aber zurück –«

»Solltest nicht glauben, daß es möglich wäre, daß eine da hinauf käme,« sagte der Hansi.

»Ich sage ja, von einer Gemse kommt sie her, die, eineweg.«

Er ging in den Wald zurück. »Wir müssen von hinten hinauf, von hinten ist er nicht so stutzig, der ›sonnig Kögel‹!« rief der Hansi ihm nach. »Kannst mich von oben herunter seilen.«

Da stand der Gisler schon wieder am Waldsaum. »Das kann ich allein, Bub,« sagte er. »Gibst mir dein Seil?« fragte er, hielt schon das dünne, feste Hanfseil in Händen und murmelte: »Es ist lang genug.« Eine Antwort wartete er nicht ab, ging zwischen Wald und Alphalde hin und hatte auf einmal einen seltsamen Schritt, groß, weit, daß die Holzschuhe nicht mehr klapperten und der ganze hagere Mensch wie aus angespannten Sehnen gebaut schien. Der Hansi ließ sich ins Gras nieder, breit, behäbig, als meinte er: »Gern sehen will ich, was jetzt werden will.«

Nach einer Weile kam der Gisler von hinten herum am Felskegel herangestiegen; einen Augenblick schien es, als schreite er auf den spitzen Tannengipfeln, die sich wie neidig und mit gereckten Hälsen neben der Felswand emporstreckten. Mit unheimlicher Schnelligkeit klomm er die Wand hinan, das Seil hatte er um den Leib gewunden, jetzt hackte er die Finger in einen Spalt, jetzt setzte er den runden Rand des plumpen Holzschuhs auf ein halbhandbreites Steingesims. Nicht einmal abgelegt hatte er sie, die Schuhe.

»Herrgott,« sagte der Hansi, stand auf und dehnte die Brust und hatte Herzklopfen, halb vor Freude, halb vor Angst. Als er es gesagt hatte, stand der Gisler schon bei seiner Ziege; er stieß einen kurzen Jauchzer aus. Dann legte er das Seil in einer Schlinge dem Tier um den Hals. Das andre Ende band er sich wieder um den Leib und maß die Höhe der Wand. Schwarz stand sie vor ihm auf. Mit derselben stillen, zähen und jähen Sicherheit, mit der er den ersten Weg überwunden hatte, klomm er den oberen Teil der Wand empor. Jetzt straffte sich das Seil.

»Ju – hu – huhu,« jauchzte der Gisler; der Hansi sah, wie er am Seil nestelte und dann auf der Platte des Felsens mit einem Ruck sich über den Rand hineinwarf. Einen Augenblick später tauchte dort sein seltsamer Kopf auf, das spärliche Seilende steckte ihm zwischen den Zähnen. Dann griffen seine Arme herab, die Ziege schwebte, am Halse angebunden und zappelnd, in der Luft; in wenigen Augenblicken hatte er sie oben bei sich und riß sie auf den Felsknauf hinauf, wie vorher sich selber.

»Herrgott,« sagte unten der Hansi noch einmal, dann ging er nach seinem Arbeitsplatz zurück, holte Brot und Käse aus der Tasche und machte sich ans Mittagsmahl. Er war noch nicht zu Ende, als der Gisler mit der Ziege bei ihm stand.

»Hinten herab ist der ›Kögel‹ weich wie ein Schlittweg, unten bist, bevor du's denkst,« sagte er.

»Du bist schon einer, an der jähen Wand da hinaufzugehen,« sagte der Hansi.

»Ja, gehen kann ich,« sagte der Gisler ganz schlicht, »das sagen die Stadtherren auch.« Dann schien ihm plötzlich ein Gedanke zu kommen. »Willst sehen, was sie mir schicken und schenken, die Stadtherren?« fragte er. Auf die Antwort wartete er nicht, lockte die Ziegen und stieg durch den hängenden Wald eine Strecke bergab. »Komm,« winkte er dem Hansi.

›Solang du Mittagszeit machst, kannst mitgehen,‹ dachte der Hansi, packte die Restbissen zusammen und schritt kauend und langsam dem Kehle-Gisler nach.


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