Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

Nun hatte auch Wien seinen großen internationalen Boxmatch. Die Sensation bildete der Kampf zwischen O'Bry und Tom King. Abermals sollte um die Weltmeisterschaft gekämpft werden – mit einem Preis von fünf Millionen Kronen.

Gleißend fiel das Sonnengold eines hellen Maitages auf den wundervollen Männerkörper, der sich aus den Falten eines schwarzen Mantels löste. Zwanzigtausend Paar Hände schlugen aneinander, huldigten diesem Wunderwerk der Natur, das ohne Gleichen war. Nachlässig fast drückte Tom King die eigenen, über die Gelenke hinaus weiß umwickelten Hände zur Begrüßung.

Daß hinter ihm O'Bry im roten Mantel mit goldgelben Kanten einherschritt, rascher als es der Anstand erlaubte, und wie immer in dem Bestreben, sich mit einzurollen in den frenetischen Willkomm, der einem Schöneren als ihm und bisher Gewaltigeren galt – das schien Tom King nicht zu beachten. Kaum daß er Notiz genommen hatte von ihm, als sei er Luft, gegen die er anrennen sollte, oder ein Prinzip, das er umwerfen mußte.

Erst als Tom Kings Blicke auf den wulstigen Körper des Australiers fielen, dem die schwarzen Haarzotteln das Aussehen eines Halbtieres gaben, da erst fühlte er etwas wie Zorn in sich aufsteigen – einen Zorn, in dem neben dem Erinnern an die Niedrigkeit seines Gegners das Bewußtsein sich Bahn brach von zeitlichen Zusammenhängen zwischen dem ersten Auftauchen dieses braunen, wulstigen Leibes und Ereignissen, die sein Leben in zwangvolle Bahnen getrieben. Und, unhörbar für andere, dröhnend nur für sein eigenes, inneres Ohr, knirschte er hinter aneinandergepreßten Zähnen die immer gleichen alten Worte: »Wenn ich ihn halte ... wenn ich ihn halte!«

Am Fuß der breitangelegten Treppe, die vom Ring zu einem schmalen, freigehaltenen Gang herabführte – der auf ein Rondell zulief mit den lose gezimmerten Garderobenverschlägen – saß Steffi Stumper, unübersehbar in ihrem grellroten Foulardkleid mit dem weißen Hut auf dem verwegen frisierten Haar. Sie lächelte, grüßte, winkte nach allen Seiten. Sie wußte, was jetzt in Tom King vorging. Daß er im Niedergang war seit der Heimreise von Amerika und der Ankunft in Bremerhaven, wo man den eine Stunde vorher verstorbenen Mr. Stephens als Leiche an Land transportiert hatte. Sie wußte, daß Tom Kings Form zur Zeit nicht die beste war, daß er durch Temperament und innere Entladungen erreichen mußte, was er früher fast spielend in klassischer Ruhe gewann.

Im Ring waren die Pfleger um die beiden Kämpfer beschäftigt mit ihren letzten Vorbereitungen, die mehr einem die Spannung erhöhenden, retardierenden Moment für das Publikum dienten als wirklichem Bedürfnis der Kämpfer.

Bob, Toms ehemaliger Diener, der Sieger geblieben war über den Australier Mac Dunk im Leichtgewichtsboxkampf, hatte Tom King, der ihm zerstreut und freundlich die Hand gedrückt, um Erlaubnis gebeten, mit unter seinen Pflegern zu sein. »Wie früher, Mister King.« Es war die einzige Anspielung, die er machte, und er reichte gleichzeitig Tom King die Zitronenschale, als wollte er es verhüten, daß eine rauhe Antwort kam. Denn nach wie vor war die Bewunderung groß in Bob für den unbesiegbaren Weltmeister, der ihm so lange Herr und Herrscher gewesen war.

Tom King lag lässig zurückgelehnt im Winkel der zwei am Pfeiler befestigten Seilreihen und ließ die Blicke unbeteiligt über die Logen schweifen. Viele waren gekommen, die er kannte. Aus vielen Städten hatten sie sich zusammengefunden, die sich den Muskeln seiner Arme anvertrauten, die den morgigen Inhalt ihrer Brieftaschen nach der Spannkraft seiner Sehnen abtaxierten, die jedes Fäserchen seiner Haut durch ihre Augengläser auf seine Widerstandskraft prüften, die in ihm nicht den Adel einer kunstvoll geschulten Kraft sahen, sondern eine menschliche Mechanik.

Und weiter schweiften Tom Kings Blicke ... mit jenem übersichtigen Ausdruck, der kein Ziel erkennen läßt. Dort, in der Loge, das kleine Gesicht – es war die Frau, die dem Namen nach seine Gattin war, Wanda Hoheneck, Mrs. King, wie sie selbst sich nannte. In tiefes Schwarz gehüllt saß sie da, vor sich auf der Brüstung den seidenen Pompadour mit der silbernen Schließe und die Schildpattlorgnette mit langem Stiel. Aber sie benutzte sie nicht. Wie in einem Dunstkreis schweren Nachdenkens saß sie, reglos, wie es ihre Art war.

Länger als auf den übrigen blieben Tom Kings Blicke an dem blonden, bleichen Gesicht hängen. War es etwas wie Bedauern, das in ihm aufstieg, war es Reue, war es Staunen, daß er nicht erkannt hatte, was sich barg hinter der Unbeweglichkeit dieser starren Frauenzüge, war es ein letztes Auflehnen gegen einen Zwang, dem zu entfliehen sein einziges Bestreben gewesen seit Stephens' Tod? War es die Frage, die brennende, lähmende, immer wiederkehrende Frage: »Wozu?« die sich einem schweren Nebel gleich über ihn senkte? Er stand plötzlich ruckartig, als müßte er unsichtbare Ketten durchbrechen, vom Stuhl auf.

» Wait,« flüsterte Bob. Aber im selben Augenblick erklang der dumpfe Glockenschlag vom Richtertisch her.

Erste Runde.

Ein unbewegtes Lächeln flog über Tom Kings Gesicht. Seine Haut bekam den rosigen Glanz von Perlmutter. Er warf den Kopf zurück, grüßte mit den Augen den schönsten Maitag Wiens, die Sonne.

Ein neuer Ausbruch begeisterten Empfangs durchtoste die Luft ...

Fünf Runden waren vorüber. Wanda kannte jeden Griff, jeden Schlag, bemaß aus der Stellung der Beine, der Deckung der Arme, ob Tom King nur den Schwinger anwenden würde oder den Uppercut, ob er auf den Magen zielte oder das Herz. Wer hatte nur gesagt, wer das unsinnige Gerücht verbreitet, er sei nicht in Form? Lästermäuler, gemeine Spekulanten, die auch ihren Namen mitbenutzten, um ihm einen Thron zu bauen oder ein Schaffot. Unbesiegbar war er ... blieb er! Und wenn sie sein Bild so hinübernahm in die Ewigkeit – in das Dunkel – das Nichts ... dann mochten sie doch alle über sie selbst sagen, was sie wollten. Sie wußte – ihr Leben war Erfüllung gewesen, weil sie sich selbst die Treue gehalten und bis zum letzten Atemzug dem einen Menschen nur angehört hatte, an dessen gottähnliche Kraft sie glaubte, und der allein vermochte neu aufzubauen, was ohne sein Verschulden in Trümmer gegangen war.

So ähnlich hatte sie es ihm geschrieben – mit nur wenigen Worten. Und diese Worte hatte er in seiner Garderobe vorgefunden und gelesen. Die Winter hatte es ihr gesagt: Gelesen. Mit ruhigem, ernstem Gesicht gelesen. Und das kleine Blatt zerrissen – langsam, versonnen – mit einem Lächeln, wie es Kinder haben in der Wiege.

Sechste Runde.

O'Bry führte Schläge, die zum Dazwischentreten des Schiedsrichters Veranlassung gaben. Er lachte, fletschte seine goldplombierten Zähne, fletschte sie wie ein böses, wildes Tier, warf ein unverständliches Schimpfwort in den Ring.

Die nassen Männerleiber rannten einander an. Die Planken dröhnten unter den wuchtigen Sprüngen. O'Brys buschiger Kopf schien von einem Kinnschlag wie baumelnd zwischen den Schultern zu hängen. Da – ein Stoß, den Tom King nicht zeitig parieren konnte, und er flog wie ein Streichholz gegen die Seile, daß sie fast die schweren Pflöcke umrissen.

»Wollen wir nicht gehen, gnädige Frau?« fragte die Winter, die neben ihrer Herrin saß.

»Nein,« sagte Wanda und nahm den seidenen Pompadour mit der silbernen Schließe von der Brüstung. »Nein.« Es war kein Trotz in ihrer Stimme, nur die letzte kalte Ruhe, die unabänderlichem Entschluß vorangeht.

Da sank Johanna Winters Kopf tief herab auf ihre Brust, und das erregte und sofort wieder verebbende Brausen einer zum äußersten gespannten Erwartung schlug über den beiden schwarzen Gestalten zusammen wie eine häuserhohe Woge.

War es die achte Runde oder die neunte? In der sinnlosen Erregung, die wie ein Flammenmeer knisternd und prasselnd emporlohte, unterschied man nur einzelne laute Ausrufe: »Sitzenbleiben« – »Ruhe« – »Aufhören« – »Weiter.« Gleich einem roten Strom floß das blutgefärbte Wasser über die Planken. Nichts Menschliches war mehr an den kämpfenden Ungetümen, die eigenes Blut mit dem des anderen vermischten. Trommelnd folgten die Schläge gegen Stirn und Nase und Mund, so heftig, als wäre das lebende Gesicht der Punching Ball des täglichen Trainings, so rasch, daß sie kaum noch zu unterscheiden, kaum noch auf ihre Gültigkeit zu prüfen waren ...

Und dann – ein einziger Aufschrei aus Tausenden von Kehlen – fiel Tom King in die Knie.

In der Luft stand heißes Zittern von dem Atem der Menschen. Mit jauchzendem Triller schwang sich ein Vogel in die blaßblaue Luft.

Der Herzschlag der Menge setzte aus. Der Schiedsrichter zählte.

»Eins ... zwei ... drei ... vier ... fünf ...,« zählte der Schiedsrichter unter dem Wehen weißer Tücher.

»Auf ... Tom ... auf ... faß ihn ...«

Steffi Stumper stand auf ihrem Stuhl, schrie heiser, sinnlos – wie man einem Hund zuschreit: »Faß ihn ...«

»Ruhe ... Sitzenbleiben ... Aufhören ... Weiter.«

»Sechs, sieben...,« rief der Schiedsrichter laut.

Da sprang Tom King auf die Füße. Wie eine Blutsäule stand er da. Ungeheuerlich – unkenntlich ... noch röter von der Abendglut der Sonne, die ihn umlohte. »O'Bry ... Tom King ... King ... Bry ...,« toste es aus der Luft auf sie herab. Da – lähmendes Entsetzen.

Tom King hatte O'Brys gedrungene, mächtige Gestalt mit beiden Armen umklammert. Wie in einem Schraubstock hielt er sie, und seine Zähne hakten sich ein ... tief ... zermalmend in die Schulter seines Gegners.

»Pfui ...! Pfui ...! Gemeinheit ...! Pfui King!«

»Raus ..., Schluß!«

Die Pfleger schütteten gefüllte Wassereimer über die Kämpfer, wie es Brauch ist, wenn sich Hunde ineinander verbissen haben, schlugen mit Fäusten auf Tom King ein, bis er endlich abließ. Bis er dastand mit bluttriefendem Mund, irrem Blick und wankenden Knien. Dastand – und nicht einmal das Handtuch nahm, das einer ihm reichte. Stand – als warte er auf etwas. Auf die Stille – die totengleiche Stille, die einsetzen mußte, wie sie auf dem Richtplatz einzusetzen pflegt bei Verkündung des Urteils. Und die Stille trat ein – einer Starre gleich –, die das eben noch brüllende, rasende, tosende Menschenmeer, den rotglühenden Abendhimmel, das zitternde Laub an den fernen Bäumen einspann wie unter einer luftleeren, gigantischen Glocke.

Der Schiedsrichter trat vor.

Tom King stand noch immer da – weder besiegt noch unbesiegt – ein entseelter Koloß – einer, den ein Wort endgültig, jetzt wirklich endgültig abtun sollte. Und wieder zog ein Lächeln über sein Gesicht – ein Lächeln, das grauenhaft wirkte in all dem Blut, das seinen Körper besudelte.

Seine Augen starrten geradeaus – und etwas wie ein erlösendes Aufatmen hob seine mächtige Brust.

Wie in einer letzten Vision erblickte er Wanda. Nicht die schwarzgekleidete Frau mit dem totenblassen Gesicht, die, an der Logenbrüstung stehend, in rascher, zielsicherer Bewegung die Mündung einer Pistole auf ihn richtete – sondern die Wanda im weißen, duftenden Brautschleier unter der glitzernden Krone, die ihn gefragt hatte: »Wirst du mich lieb haben, Tom?«

Und ihm war – als verstünde er plötzlich in diesem letzten Augenblick seines Lebens, was das war: »lieb haben.«

» Dear,« murmelte er. » Dear ...!«

Dann schlug er – mitten ins Herz getroffen – mit dem Gesicht auf die blutgeröteten Planken des Ringes.

*

Eine Stunde später bereits brachte das neue Sportblatt »Die Fanfare« die Meldung, daß der Entscheidungsboxkampf um die Weltmeisterschaft zwischen O'Bry und Tom King auf tragische Weise geendet, indem Tom King, kurz vor seiner Disqualifikation, von seiner Gattin, einer geborenen Prinzessin Hoheneck, die die Ehre ihres Gatten gefährdet sah, erschossen worden sei. Mit einer zweiten Kugel habe sie ihrem eigenen Leben im nächsten Augenblick ein Ziel gesetzt.


 << zurück