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Es war in Bukarest. Tom King hatte wieder einmal einen seiner ganz großen Abende, als er in den Ring der Arena trat. Geschmeidig, fast spielerisch waren seine tänzelnden Schritte, seine Schläge flogen leicht, wie von einem Billardqueue abgeschnellte Kugeln. Er lachte zu seinen Pflegern auf in den kurzen Pausen, mit blitzenden Zähnen, ließ die Muskeln seines vollendet schönen Körpers spielen gleich einem wohlgeölten, präzisen Mechanismus, lehnte die Erfrischungen ab mit einem übermütigen, jungenhaften Achselzucken und sandte einen spöttischen, herausfordernden Blick zur Eckloge hinauf, wo seine Frau saß im grünen Samtkleid, mit dem Hermelinkragen um die schmalen Schultern.

Beim Schlagen des Gongs federte er auf seinen Gegner zu, pirouettierte mit seinen unförmigen Handschuhen dem rumänischen Koloß im Gesicht herum, mit einer Delikatesse, die den Blutsturz, den er verursachte, fast erkünstelt scheinen ließ. Dann, als langweilte ihn das Spiel, streckte er mit einem kurzen Stoß gegen die Schlagader den Rumänen zu Boden, daß er liegen blieb, regungslos, ohne Atem fast, und die verzweifelten Zufächlungen seiner Pfleger es nicht vermochten, ihn nach der zugestandenen Frist aus der Betäubung zu erwecken.

Der Schrei nach einem Arzt durchgellte den Raum. Eine Panik bemächtigte sich der Zuschauer, die sich in Kreischen, Brüllen, Pfeifen, Klatschen Luft zu machen suchte. Ein paar Herren traten in den Ring, darunter anwesende Ärzte. Tom King ließ sich von Bob die Handschuhe aufbinden.

»Halloh ... Doktor Kürer ... how are you? Ich freue mich, Sie zu sehen.«

Doktor Kürer sah Tom King ins Auge. »Es ist das zweitemal, daß ich einem tragischen Ausgang beiwohnte, Mister King, den Sie verursacht haben.«

Aber in diesem Augenblick erhob sich der Besiegte. Blutüberströmt und taumelnd, » Fait rien ... bons camarades quand même.« Und er streckte Tom King seine noch behandschuhten Fäuste hin.

Das Haus raste. Doktor Kürer sah, wie die zwei Männer, Sieger und Besiegter, mit ineinander verschränkten Armen sich verneigten, wie einer den anderen vorschob in huldigender Anerkennung der Vorzüge des anderen.

Tom King ließ sich den blütenweißen Bademantel umhängen. Es war stets seine Koketterie gewesen, ihn ohne Blutspuren aus dem Ring hinauszutragen.

Wenn er ein zweites Mal wiederkam, erschien er in Schwarz. Seine leuchtende weiße Haut, die Vollendung seines Körperbaus steigerten seinen Erfolg ins Unermeßliche. Und heute sonnte er sich in ihm. Weil Hochspannung in ihm war. Weil ihm schien, als hätte er ihr, der einzigen Frau, die ihn je erfüllt hatte und zu der [Zeile fehlt im Buch] flogen war wie noch nie zuvor, den spielenden, strahlenden Sieg zu danken. Und weil es ihm ein Spaß war sondergleichen, daß Doktor Kürer diesem Sieg beiwohnen mußte, gerade er, dieser vorsichtige, brave, moderne Philister. Wenn er Wanda haben wollte – heute noch ... bitte ... Seine Augen suchten Wanda. Jetzt war sie nicht mehr da. Vielleicht weil sie Doktor Kürer erkannt hatte? Um so besser. Ihn verlangte plötzlich nach einem Zusammensein mit diesem Mann, der ihn kannte von früher, der so viele gekannt hatte aus Berlin ... der vielleicht Nachrichten hatte von drüben ... von ihr ... von ...

»Warten Sie auf mich, Doktor ... hören Sie ... wir wollen irgendwohin gehen. Plaudern. Mein Vater ist verreist ... ich bin allein.«

Eine Dringlichkeit war in Tom Kings Stimme – so ungewohnt, daß Doktor Kürer sagte: »Gut ... wenn Sie wollen. Aber dann rate ich Ihnen, bei mir. Die Bukarester umlagern heute nacht jedes bessere Lokal, weil sie hoffen, Sie auf ihrem Rücken heimtragen zu dürfen. Ich lasse meinen Wagen in die Autogarage fahren. Dort steigen Sie ein. Ich warte im Wagen auf Sie. Wiedersehen.«

In Doktor Kürers Speisezimmer war der Tisch gedeckt.

»Ich habe keinen Hunger,« sagte Tom King. Und schenkte sich gleich darauf Wein ein.

»Halloh, Mister King, nicht mehr Temperenzler?«

Sie saßen einander gegenüber. Sie sprachen von dem und jenem, wie Menschen sprechen, die Wesentliches noch tastend ausschalten. Doktor Kürer wagte sich als erster mit einem Ruck vor. »Ihrer Frau Gemahlin geht es gut?« fragte er scheinbar gelassen.

Tom King tat, als hätte er die Frage nicht gehört.

»Mein Alter ist nach Kingstown gefahren, wissen Sie das?«

»So.« Doktor Kürer zerlegte anatomisch genau das kalte Huhn. »Da wird Mister Stephens wohl etliches Neues erfahren ...«

»Vielleicht nur das ... was Sie schon wissen? Sie erhalten ja wohl Nachrichten – von drüben?« Wieder griff Tom King nach der Flasche.

»Sie etwa nicht, Mister King? Vermutlich mehr als ich. Herr Michael zeichnete mich allerdings nur zeitweilig durch einen beigefügten Gruß aus.«

»Also von ihr ..., von ihr direkt?«

Doktor Kürer blickte interessiert auf. »Von ihr? Ach, Sie meinen von der Bildhauerin?« Es klang unsagbar nebensächlich.

»Von ... ja ... von ihr.« Tom King brachte den Namen nicht über die Lippen. Sein Blut kochte. Wenn der Doktor jetzt nicht sprach – er mordete ihn.

Doktor Kürer mischte Salz und Pfeffer auf seinem Teller, tropfte langsam Öl hinzu. Nickte gleichgültig.

»Von ihr auch. Aber ich habe dort auch andere Quellen. Die vielleicht zuverlässiger sind in ihren Berichten als die einer schönen Frau. Noch ein Stück Pastete, Mister King? Eine Spezialität meiner Köchin, ich kann sie empfehlen. Denn wenn ich auch keinen Koch habe wie Herr Michael ... oder soll man schon sagen: Seine Majestät, Michael der Erste?« Doktor Kürer lachte ein leises, trockenes Lachen.

»Sie machen Witze, Doktor Kürer, wie es Berliner Art ist. Ich habe auf Tatsächliches gerechnet –« Tom King merkte es nicht, daß die Gabel sich zwischen seinen Fingern zu einem formlosen Klumpen gebogen hatte. Doktor Kürer übersah es.

»Tatsächliches wollen Sie, Mister King? Politisch?«

»Noch hat Kingstown keine Stimme in der Politik,« warf Tom King heftig ein.

»Doch ... doch ... Sie unterschätzen Kingstown. Unterschätzen die Persönlichkeiten, die Sie selbst hinübergebracht haben. Nur natürlich entwindet sich das Geschöpf seinem Schöpfer ... das liegt in der Natur der Dinge. Die Lage ist folgende: Herr Michael macht krampfhafte Anstrengungen, Ria Roma ein Königreich zu Füßen zu legen, indessen andere Kräfte dran arbeiten, Kingstown einer bestehenden südamerikanischen Republik anzugliedern. Wenn es Sie interessiert, Mister King, kann ich Ihnen ja etliche kleine Schilderungen vorlesen, die ein ehemaliger Berliner Kollege mir von dort aus zukommen läßt. Sie sind phantastisch wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht. Ein Weltverbesserer, der seine Ausfahrten mit diesem Fräulein vorher austrommeln läßt; der einmal bei Landesverweisung verbietet, daß sich ein Mensch auf den Straßen zeigt, durch die er zu fahren beabsichtigt, ein andermal Spalier bestellt! Der zweihundert bewaffnete Neger vor den Eingängen seines Tempels aufstellt – in dem ein okkulter Gottesdienst abgehalten wird, bei dem Ria Roma, von rosa Dämpfen umwallt ...«

»Sie lügen,« schrie Tom King auf. »Sie lügen.« Sein Stuhl war irgendwohin mitten ins Zimmer geflogen – er selbst stand da, an allen Gliedern zitternd, mit verzerrten Zügen – ein Koloß, der zusammenzubrechen drohte, den ein Lufthauch umblasen konnte.

Doktor Kürer legte langsam Gabel und Messer aus der Hand, schüttelte den Kopf, stand auf. »Ich lüge nicht. Ich kann Ihnen die Briefe zeigen ...«

Er ging auf eine Tür zu.

Da hörte er einen Fall, hörte ein Schluchzen, ein schauerliches, brüllendes Schluchzen, ein Stöhnen, wie wenn einem Menschen die Eingeweide aus dem Leibe gerissen würden. Tom King lag mit dem Gesicht auf dem Boden, verbiß sich in den Teppich, den dicken Smyrnateppich, riß mit den Zähnen, den Händen Fetzen heraus, brüllte wie ein wildes Tier:

»Michael! Ria Roma! Michael! Ria Roma!«

Er stieß die Namen heraus, kaum erkennbar, als formten sie sich ihm von selbst – ohne sein Wissen in der Kehle ... Dann plötzlich wurde er still. Ganz still.

Doktor Kürer beugte sich über ihn. Wußte nicht, war es Ohnmacht, war es Schlaf. Ließ ihn liegen. Rückte einen Sessel heran. Bis wieder einzelne Laute sich von Tom Kings Lippen lösten. Tierische Laute erst. Dann Worte sich formten, zu Sätzen wurden ... Bekenntnisse, Anklagen, Racheschwüre.

Darum also hatte Michael so sehr auf seiner Heirat bestanden ... darum! Hatte ihm das Märchen des Weltenherrschers aufgebunden, dem er ein Reich bereithielt. Darum hatte er in ihm den Gedanken an seine Mission immer wieder gestärkt, aufgeblasen wie einen Riesenballon. Darum durfte er, Tom King, erst kommen mit dem Sohn im Arm, dem Erben. Und nun hatte er eine unfruchtbare Frau und von den Weibern, die er mitführte von Stadt zu Stadt, hatte keine, keine einzige bisher ihm auch nur eine Aussicht geschenkt – ein Hoffen – –

»Die Sie mitführen ... wieso mitführen?« Doktor Kürers Stimme klang plötzlich scharf, wie es sein Seziermesser sein mochte. Dabei schnellte er von seinem Stuhl hoch, stieß den Riesen, der noch immer am Boden lag, mit dem Fuß an. »Und wo ist Ihre Frau indessen, Mister King?«

»Mit ... immer mit ... Mir auf dem Nacken, mir an den Fersen ... Immer da ... da ... wo ich bin ... ich!«

Tom King lallte es, stöhnte es hinaus wie ein Trunkener. Hob plötzlich den Oberkörper, stemmte sich mit den Händen gegen den Boden, wendete Doktor Kürer sein bleiches, erschöpftes, schweißbedecktes Gesicht zu, bohrte sich ihm mit den Blicken in die Augen.

»Hören Sie mich an ... Doktor ... Vielleicht ist meine Frau ein Krüppel wie Michael – aber ich! Fassen Sie mich an ... Stahl ... Eisen ... kein Mann ist so stark wie ich ... keiner ... Unbesiegt bin ich ... unbesiegt – immer noch. Wer kommt mir gleich ... wer? ... Und ich sollte einer Frau kein Kind geben können?«

Doktor Kürer saß wieder. Umspannte sein Knie mit den Händen, warf den Kopf zurück und blickte dem jungen Athleten eisernruhig ins Gesicht, während er langsam, deutlich und leise sagte: »Grade diese Überpotenzierung der Kraft – mag sie geistig oder körperlich sein – führt im Laufe der Jahre zur Unfruchtbarkeit. Ich glaube, daß dies bei Ihnen der Fall ist. Der übliche, typische klinische Fall. Ein Schulbeispiel – –«

Es war ganz still in dem schön und ruhig eingerichteten Zimmer des jungen Arztes, der nichts mehr wußte von den Bitternissen des Lebenskampfes, der sicher und fest den Weg des Aufstieges emporschritt. Und der jetzt vielleicht seit langer, langer Zeit zum erstenmal etwas wie Glück empfand, da er einen niedergeworfen, der ihm die Frau genommen, entwürdigt, in den Schmutz getreten hatte, die er als Weib von allen Menschen am höchsten verehrte. Ob er sich noch einmal erholte? In zehn Tagen ... zehn Monaten, zehn Jahren, das sollte ihm gleich sein. Aber jetzt ... jetzt war er, Doktor Kürer, der Stärkere. Hatte seine Revanche genommen für das, was ihm einst geschehen war.

»Es tut mir leid, Mister King, aber ich muß noch zu einer schwierigen Geburt. Wenn Sie meinen Wagen benützen wollen. Ich muß sowieso an Ihrem Hotel vorüber.«

»Ja ... danke,« murmelte Tom King. Stand auf. Brachte seinen Anzug in Ordnung, seine Krawatte. Ganz schlaff waren seine Finger.

»So ... nun aber rasch.« Beinahe freundschaftlich faßte Doktor Kürer den jungen Riesen unter den Arm. Sie gingen Seite an Seite die Treppe hinunter. Im hellen Mondlicht der stillen Straße wartete der Wagen vor dem Hauseingang. Tom King fühlte, daß ein Lufthauch ihn abermals zu Boden werfen könnte. Aber Doktor Kürer stützte ihn ... ihn – Tom King! Furchtbar dünkte es ihn, neben Doktor Kürer im Wagen zu sitzen. Mechanisch murmelte er: »Bitte, Doktor, nach Ihnen.«

»Nach Ihnen, Mister King,« kam es höflich zurück. –

Als Tom King den Hotelsalon betrat, der sein und Wandas Schlafzimmer trennte, erhob sich die Winter aus der Tiefe eines Sessels. Sie hatte ein olivfarbiges Samtkleid an. Der große Hut mit dem Schleier und Wandas Hermelinkragen lagen auf dem Tisch. »Die gnädige Frau hat mich an ihrer Stelle zum Match geschickt, damit Sie sich nicht beunruhigen, Mister King, wenn Sie sie nicht auf ihrem Platz finden.«

Er ging mit flüchtigem Nicken an ihr vorbei auf die Tür seines Zimmers zu. Kaum hörte er, was sie sagte. Nur eins drang in sein Bewußtsein: »Damit er sich nicht beunruhige!« Beunruhigen ... um Wanda beunruhigen! Er winkte ab – erschöpft, seiner Glieder kaum noch mächtig. »Gut ... ja ... Und ich wollte noch sagen ... ich muß morgen mit dem ersten Frühzug verreisen. Ich kann noch nicht sagen, wann ich zurückkomme. Mrs. King soll nicht warten auf mich. Ich bleibe vielleicht ein paar Wochen fort – vielleicht ein paar Monate.«

Ein leiser Schrei kam von der anderen Tür. Er wendete sich um, langsam wie ein Nachtwandler. Wanda stand da – weißer im Gesicht als ihr weißer Schlafrock. »Wohin willst du, Tom?«

»Ich habe etwas vor, Wanda, etwas sehr Wichtiges.«

Er sprach nicht unfreundlich, aber so, als sagte er es eigentlich nicht zu ihr – als dürfte sie es nur mithören. »Ich denke, du löst das Reisepersonal einstweilen auf, da kann Bob dir helfen ... der Trainer. Bob,« rief er plötzlich, »Bob!«

»Bob ist noch nicht da,« sagte die Winter und zog leise die Tür hinter sich zu.

»Nicht da ... So.« Es war das erste Mal, daß Bob nicht da war, wenn sein Herr heimkehrte.

»Ich denke, Bob geht von selbst. Mister Bob! Diener findet man genug. Aber so ein prima Boxer ... Trainer soll machen, was er will ... Ich setze aus ... Ich habe etwas vor.« Seine Zunge gehorchte ihm immer schwerer.

»Was hast du vor, Tom?« Todesangst lag in Wandas Stimme. Sie stand jetzt vor ihm – sah plötzlich ganz zart und hilflos aus, zerknitterte ein Zeitungsblatt in der Hand.

»Tom ... in einem Paket alter Zeitungen fand ich die Nachricht, daß mein Vater –« Sie würgte ein aufsteigendes Schluchzen hinunter. »Jetzt hab' ich nun wirklich niemand mehr – nichts mehr. Nicht einmal die Hoffnung auf Aussöhnung, Verständigung. Gestern noch, heute, bis vor wenigen Stunden, Tom, war noch alles möglich ... diese Möglichkeit, Tom, die war Leben. Jetzt aber ... Tom, kannst du mich verstehen? Tröste mich, sage mir ein Wort, Tom.« Sie drängte sich an ihn in eisigem Erschauern vor der finsteren Macht des Unwiederbringlichen.

»Laß mich,« sagte er rauh. »Laß mich – – ich muß nach Kingstown. Und jetzt brauche ich Geld ... Geld ... Keinen Eisenbahnzug, keine Dienerschaft. Geld brauche ich.«

»Ich werde alles entlassen, alles verkaufen,« sagte sie entschlossen. Es war ihr ja nichts Neues. Alles wiederholte sich im Leben.

Er nickte.

»Aber wenn ich fertig bin hier – dann komme ich nach – –«

»Nicht nötig. Wenn ich morgen fahre ... geradenwegs fahre ... so treffe ich Stephens noch drüben an. Der dad und ich ... wir zwei ... wir brauchen niemand.«

»Du hast Kontrakte, Tom.« Es war ein schwacher, letzter, lächerlicher Versuch.

»Zahle Abstandsgelder oder verschiebe die Termine. Oder nein, das wird Stephens machen. Nur für die nächsten Wochen mußt du das alles in Ordnung bringen. Vielleicht schicke ich dir auch gleich Mr. Quick zur Hilfe. Ich weiß noch nichts, kann noch nichts sagen. Deine Adresse: am besten wohl deine Bank in Berlin. Damit du nicht gebunden bist.«

»Tom! Tom!«

Sie warf sich ihm an die Brust, umklammerte ihn.

Behutsam löste er sich von ihr, ließ sie aus seinen Armen in den Sessel gleiten. Sie warf den Kopf zurück, hielt die Augen geschlossen. Ein Zeitungsblatt raschelte unter seinen Füßen. Er hob es auf. Die fettgedruckte Überschrift fiel ihm in die Augen, und seine Blicke blieben hängen.

»Tragisches Ende eines Gelehrten. Als Opfer seiner Wissenschaft ist Fürst Erasmus von Hohen-Steineck, der unter dem Namen E. Stein in der Vorkriegszeit einige hochverdienstvolle Werke geschrieben, in seinem Laboratorium in der Tiergartenstraße von einem plötzlichen und gewaltsamen Tod ereilt worden. Seit vielen Jahren beschäftigte er sich mit dem Problem der Gewinnung eines neuen Leucht- und Brennstoffes, der die Kohle ersetzen sollte. Er hat der Erreichung dieses idealen Zieles sein großes Vermögen restlos hingegeben und lebte mit seiner jungen, schönen Frau, die ihm eine treue Assistentin war, in den bescheidensten Verhältnissen. Es heißt, daß traurige Ereignisse innerhalb seines engsten Familienkreises seine durch Arbeit überreizten Nerven aufs schwerste erschüttert hätten. Seine Frau blieb ihm bis zuletzt eine liebevolle Pflegerin, und es ist wie ein Wunder, daß sie nicht ebenfalls das Opfer des unheilvoll verlaufenen nächtlichen Experiments geworden ist, durch das auch das kleine Gartenhaus, das das Ehepaar bewohnte, zum Teil zerstört wurde. Dem Vernehmen nach soll die sterbliche und jetzt gänzlich unkenntliche Hülle des so tragisch ums Leben Gekommenen nach Dresden übergeführt werden, wo sie, seinem ausdrücklichen, noch kurz vor seinem Tode niedergeschriebenen Wunsch entsprechend, nicht in der Familiengruft, sondern in einer kürzlich erworbenen Grabstätte beigesetzt wird. Mit dem Fürsten ist nicht nur ein altes, stolzes Geschlecht erloschen, sondern wird auch eine Weltanschauung zu Grabe getragen.«

» I'm sorry indeed ...« Es klang so hölzern. Und doch begriff er Wanda. Stellte sich, wenn auch noch unklar, vor, was sie litt. Aber was konnte er tun? Vielleicht gab es noch eins: sie auf die Frau verweisen, die eines Blutes war mit ihm?

Zaghaft tat er es, mit einer Stimme, die noch rauh und belegt war: »Da die Frau deines Vaters lebt – bist du nicht allein. Es soll mir lieb sein, wenn ich euch in Frieden zusammen weiß.«

Da stand sie auf. Sah ihm lange ins Gesicht, suchte in ihm Agathens Züge, fand sie nicht mehr. Wußte nur, daß es ein Almosen war aus fremder Tasche, das er ihr zuwarf. Ihr Stolz erwachte. Als Bettlerin, Almosenempfängerin durfte er sie nicht sehen, wenn er ihr letztes Bild mitnahm auf die lange Reise. Alles, was an Kraft in ihr war, riß sie noch einmal zusammen: »Leb' wohl, Tom, und bringe dich wieder.«

Sie fand eine letzte freie stolze Bewegung, da sie ihm die Hand reichte. Ohne Druck ließ er sie aus der seinen gleiten, aber dann strich er ihr mit den Fingerspitzen über das Haar: »Das war ein gutes Wort ... good by, dear

Sie nickte ihm noch einmal zu, die Hände um eine Stuhllehne gekrampft. Sie stand sehr gerade, ein tapferes Lächeln auf den Lippen, die Augen verschleiert. Stand da – lange noch, nachdem die Tür sich hinter ihm zugetan. Eine Tür – eine dünne, schmale Bretterwand, die zwei Menschenleben voneinander schied.

Im Schlafzimmer rührte die Winter indes einen starken Schlaftrunk in das Glas Wasser, das auf Wandas Nachttisch stand.

Und als Wanda am nächsten Mittag erst erwachte, war Tom King seit vielen Stunden bereits auf dem Wege nach Kingstown.

* * *


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