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Am nächsten Morgen ratterte das Telephon bei Doktor Kürer. Er möchte umgehend zum Fürsten Hoheneck kommen. »Prinzeß Wanda ... Er hätte die Frage im selben Augenblick gern zurückgenommen.

»Nee ... Herr Gott doch ... die junge Fürstin, die kleene, is et doch.«

So sprach nur Frau Wittke. Im nächsten Augenblick war die Leitung abgestellt, so daß er keine Frage mehr stellen konnte.

Seinen ersten Besuch hatte er für heute eigentlich Tom King zugesagt. Eigene Daseinsinteressen knüpften ihn für eine Reihe von Tagen an den Erfolg dieses Mannes. Denn er kämpfte schwer in der Unbarmherzigkeit des Berliner Stroms. Dort aber irgendwo war ein Neuland aufgetaucht, in das Tom Kings starke Faust den einen oder anderen herüberzuziehen bereit war. Es hieß, daß ein erster Gynäkologe sich europamüde erklärt hätte. Der Mann stand trotz seiner Rieseneinnahmen vor dem Bankrott. Der unsinnige Luxus seiner Hausführung und seine nicht zu dämmende Spielleidenschaft mußten ihn früher oder später in die Flucht oder den Tod treiben. Und Doktor Kürer brachte nicht mit Unrecht diese Europamüdigkeit mit Tom King in Verbindung, der ihm selbst eines Abends den Vorschlag gemacht hatte, zusammen mit ein paar Kollegen, die er näher bezeichnen sollte, nach Kingstown zu kommen, »um ihnen Krankheit fernzuhalten.« Als Doktor Kürer lächelte, wiederholte Tom King den Vorschlag in Form eines festen und verlockenden Angebots. Doch mit der ausdrücklichen Bedingung, daß der Ausbruch einer Epidemie in Kingstown die sofortige Aufhebung aller Bezüge bedeuten würde.

»Wir wollen unsere Ärzte für unsere Gesundheit, nicht für unsere Krankheit bezahlen. Unsere Rechtsanwälte – für Vermeidung und nicht für Austragung von Rechtsstreitigkeiten.«

Darauf hatte Doktor Kürer gelacht. Aber war nachdenklich geworden ein paar Tage später. Denn ein Mann, der seinen Seltsamkeiten den Nachdruck einer nie dagewesenen körperlichen Kraft und ungezählter Millionen geben konnte – dieser Mann verdiente Beachtung.

Im Mantel, den Hut in der Hand, ließ Doktor Kürer sich mit dem Esplanade-Hotel verbinden und verlangte Herrn Direktor Stephens. Stephens hieß ebensowenig Stephens, wie Tom King King hieß. Zudem waren sie Vater und Sohn. Aber sie machten beide wenig Gebrauch von der nahen Verwandtschaft, verkehrten miteinander wie zwei Menschen, die aufeinander bauen, und von denen ein jeder die Höchstleistung des andern zu beanspruchen das Recht hat.

»Tag, Herr Direktor ... alles in Ordnung? Hier Doktor Kürer.«

»In Ordnung? Well – wollen sagen all right – das ist besser,« bellte es heiser in den Apparat hinein.

Und nach einer Pause, die so kurz war, daß sie nur einem Atemzuge gleichkam: »Was sagen Sie zu die Frechheit? Um nicht zu verlieren die Prämie von dem Schurken O'Bry, hat der Russe geschickt eine Ersatz von seinem Krankenbett, und während der Ersatzkerl hat geboxt mit Tom King und gespielt den toten Mann, ist der Russe lustig gestorben in seine Hotel. Ich bin die halbe Nacht auf den Beinen. Habe eine halbe Dutzend Zeugen gebracht zusammen und den Ersatzkerl gefunden – eine dreckige Artist ohne Engagement.«

»Das haben Sie fertiggebracht?«

»Ja, glauben Sie vielleicht, O'Bry hat gepachtet alle Phantasie allein?«

»Und Tom King?«

» Thank you. Sein schwedischer Masseur ist bei ihm. Und gerade habe ich wieder an die Luft gesetzt eine kleine Kleiderfetzen.«

Ein heiseres Lachen, das plötzlich abbrach. Ein Lachen, das nicht mal Lächeln weckte.

Doktor Kürer hing wieder an. Er empfand die eigene Bewertung, die sich in diesem Vertrauen zeigte, wie eine Ohrfeige. Wußte nur zu gut, daß sie alle sich zu Mitschuldigen machten, die sie aus Angst vor Geldverlusten zu öffentlichen Vertuschungsmanövern schwiegen. Aber – gegen den Strom schwimmen – wer durfte es sich heute erlauben? Der rasche Untergang derer, die es gewagt hatten, war ihm warnendes Beispiel. Er gehörte nicht zu denen, die sich zu ihrer Vergangenheit zurückschlichen, wenn sie sich an der Gegenwart wundstießen. Hatte dem vom Vater abgelegten Freiherrntitel keinen Augenblick nachgetrauert und kaum des Tod des Mannes beweint, der in skrupelloser Geschäftigkeit Namen und Vermögen eingebüßt und seiner Frau ein vorzeitiges Grab geschaufelt hatte. In irgendeinem Feldlazarett war ihm der Vater unter den Händen weggestorben, und das letzte Erkennen war gewiß die erste Freundlichkeit von ihm gewesen, an die er sich je erinnern konnte.

»Arzt bist du geworden? Na also – dann hat's ja keine Not.«

In einem Blutstrom rang sich das letzte Wort wie ein Schrei von den Lippen des Sterbenden.

Not –! Unter diesem Klang hatte der Gymnasiast, der Student, hatte der junge Mediziner das Leben einzufangen versucht. Und später, als er zurückkam vom Feld, da wehrte sich alles in ihm gegen die Drosselung einer Armut, der er nichts entgegenzusetzen vermochte als sein Wissen. Hatte die Skrupellosigkeit seines Vaters ihn um sein Vermögen gebracht, so mochte die eigene ihm wieder dazu verhelfen. Und er schloß sich dem langen Zuge jener an, die vom Zufall verlangen, was Stetigkeit ihnen versagt, dem Zuge jener, die ununterschiedlich aus jeder Schüssel essen, bis sie satt sind. Nur die Falten um seine Mundwinkel sprachen von seiner Überwindung; und sie wurden tiefer, je mehr er den Abstand fühlte, der sich aufgetan hatte zwischen der Welt, aus der er kam, und jener, in die sein eigenes Wollen ihn verpflanzt hatte.

Fürst Erasmus hatte noch seinen Großvater gekannt, darum stand dem Enkel sein Haus offen. Als Arzt sah Doktor Kürer bei dem Fürsten den zersetzenden Prozeß einer sich langsam vorbereitenden Paralyse. Als Wissenschaftler die Unsinnigkeit seiner Arbeit, als Mensch den Zusammenbruch unhaltbar werdender Verhältnisse. Und manchmal, ganz tief verborgen in seinem Innern, rührte sich ein atavistisch-sentimentales Hoffen – Helfer zu werden der Tochter, deren Heldenmut und schlackenloser Reinheit er in tiefer Verehrung gegenüberstand.

Sein sonst kühl beherrschtes Wesen war in ungewohntem Aufruhr, als er hastig, mit großen Schritten, der Tiergartenstraße zuschritt.

Der Fürst war noch unrasiert und hatte seine Lederjoppe an; doch versuchte er, Haltung zu bewahren und die zerflatternden Gedanken zu sammeln.

»Also ... meine Frau ... das heißt ... ja nun Agathe ... sie ist krank. Gestern Ohnmacht ... ja ... heute Fieber, Schüttelfrost. Phantasiert ... Die gute Frau von drüben« – er zeigte mit dem Kopf nach der Villa – »hat sie ... ja also ...« Er schwieg plötzlich in völliger Ratlosigkeit.

»Ich werde ja gleich sehen, Durchlaucht. Dürfte ich nur bitten, mich zu führen.«

»Gewiß ja ... oder nein, sie wird unruhig, wenn ich ... aber die Anna – Frau Wittke will ich sagen – ja, die hat um eine Pflegerin telephoniert, eine Schwester.«

Er ging zur Tür des Laboratoriums. »Wanda!«

Niemand antwortete.

»Wanda!« rief er lauter.

»Bemühen Sie sich nicht, Durchlaucht, ich werde schon selbst finden.«

Doktor Kürer stieg rasch die Treppe hinauf, die knarrte unter seinem schnellen Tritt.

In einem Korbsessel des dielenartigen kleinen Vorraums saß Wanda Hoheneck. Stumpf und wirr lag ihr Haar um den feinen Kopf. Sie war noch in dem gleichen Kleid wie am gestrigen Abend. Ihre sonst so blanken, leuchtenden Augen lagen tief in dunkler Umrandung. Sie erhob sich nicht. Zeigte nur mit dem Kopf auf eine der Türen.

»Dort liegt sie.«

Als wäre sie schon tot. Abgetan.

»Können Sie mir nicht sagen –«

Er brach ab, da er das starre, bleiche Gesicht sah.

»Ich komme gleich zurück.«

Ihm war es, als bohrten sich ihre Augen ihm nach durch die Tür.

Aus dem Halbdunkel des Krankenzimmers trat ihm Frau Wittke entgegen. »Nu is sie jlicklich eingeschlafen.«

Wanda hatte sich von ihrem Sessel erhoben. Sie stand jetzt wie losgelöst von allem Gegenständlichen in der kahlen, grauen Helle. Sie dachte: Wenn sie stirbt, bin ich schuld daran. Aber sie empfand nichts dabei. Es waren Worte, die sich zu einem Satz formten – nichts anderes. Wie es nur Worte gewesen, die an ihr Ohr gedrungen waren, als sie Anna Wittkes aufgeregtes Flüstern in dieser furchtbaren Nacht gehört.

Gewaltsam mußte sie sich zurückerinnern an das, was gewesen, nachdem sie allein geblieben war am dunklen Rande des Tiergartens. Sie begriff noch immer nicht, wie sie den richtigen Weg zurückgefunden hatte, den Eingang durch das Pförtchen des gußeisernen Tores. Sie fühlte nur jetzt wieder lähmend, herzbeklemmend den Schreck, der das Blut in ihr zum Stocken brachte, als sie die Tür des kleinen Hauses offen fand, als sie zwei kleine, nackte Füße hineingleiten sah in das spärliche Licht des Flurs, die Zehen nach oben, als der Wirbelwind einen absatzlosen Samtschuh ihr über den Hof entgegenfegte und dann – in dem gelblichen Lichtausschnitt der Tür – Anna Wittkes rundes Gesicht erschien und zwei Arme aus den kurzen Ärmeln einer blauen Flanelljacke sie mit großen, hastigen Bewegungen heranwinkten.

Da war sie vorgestürzt. Hatte im Hauseingang Agathe erblickt, der Länge nach hingestreckt. Ohne Bewußtsein, den schlanken Körper kaum bedeckt vom schwarzen Abendmantel, den noch weißer Schneegrieß säumte und der weitauseinanderklappte über dem dünnen Nachtkleid.

»Wie ick jerade noch 'n bißcken Ordnung mache bei mir und zum Fenster 'rausgucke, da seh' ick doch Licht bei Sie im Labratorium. Und die Tür steht sperrangelweit uff. Und wie ick mir so wundere, da seh' ick, wie die Fürstin 'rauskommt, so wie sie jetzt daliegt, und über'n Hof jeht wie so 'ne Nachtwandlerin. Nanu, denk' ick, und eins, zwei, drei, 'runter. Wie sie nun jerade mit der Hand nach der Torklinke langte, da hab' ick sie von hinten gepackt, und da is sie mir gleich in de Arme hängen jeblieben, und dann hat sie auch gleich wirr zu reden angefangen, ›Bruder‹ jerufen, egal immer ›Bruder‹, und hat mir nicht erkannt und mir wegstoßen wollen – bis sie dann still jeworden is und ick sie habe 'reinschleppen können. Aber daß Sie mit 'n Umschlagtuch den Kerl, den Tom King, 'rausbejleitet haben, Fräulein Prinzeß, un weeß Gott wie lange –«

»Es war notwendig,« sagte Wanda.

Notwendig! ... so empfand sie es auch jetzt. Und stand da – fühllos, ohne Reue. Ohne Scham. Wälzte hundert Fragen in ihrem Hirn. Aber keine, die mit Agathe zusammenhing oder mit dem Vater, mit dem Haus. Ihre Augen tasteten die geschlossenen Türen ab, als suche sie jene, hinter der ihr eigenes Zimmer lag. Ging dann darauf zu, mit leichtem Schwanken und vorgestreckten Armen. Drückte die Klinke nieder, starrte gerade aus, ohne das leiseste Erkennen all des so lang Vertrauten, spürte plötzlich einen Duft – den Duft ihrer Seife oder auch der weißen Laboratoriumsschürze, die da hing, und warf sich diesem Duft entgegen, als dem einzigen, was ihr noch Zusammenhang bot mit ihr selbst.

Sie schloß die Tür ab – zweimal. Rüttelte an ihr, blickte sich um, als suche sie eine Stange, und warf sich dann, da nichts ihr geeignet schien, sie mehr noch abzuscheiden von der Umwelt, auf das unberührte Bett, wobei sie das Kissen über ihr Gesicht zog – weil die Augenlider ihr nicht Dunkel genug gaben. – –

Unten schritt währenddessen Fürst Erasmus durch die Zimmer. Die Türen standen alle weit auf, und die heute nachlässiger noch als sonst geheizten Öfen gaben keine Wärme.

Graugrün war sein Gesicht. Angst flackerte in seinen Augen. Unrast ließ ihn an den Möbeln rücken, an allen Gegenständen. Er fand das Laboratorium unaufgeräumt, die Stühle verschoben, die peinliche Anordnung auf dem langen Mitteltisch zerstört, Glassplitter auf dem Boden – einen ätzenden Geruch in der Luft. Und das Schränkchen weit geöffnet.

Die »Frau von drüben« regierte plötzlich in seinem Haus. Fragte nicht. Was geschah – geschah nach ihrem Willen. Sein Morgentee stand unberührt auf dem Schreibtisch. Niemand hatte an einen gedeckten Tisch oder später an Abräumen gedacht. Nur einmal war die Frau ihm entgegengestürzt auf die halbe Treppe, als er zu Agathe hatte hinauf wollen.

»Bleiben Sie man unten, Durchlaucht! Das is nischt für Sie. Das is Weibersache.«

Zugleich hörte er gellendes Singen, banges Rufen.

Da jagte er die Treppe hinunter. Stand in seinem Zimmer, hielt die Hände an die Ohren. Lauschte wieder. Hörte oder bildete sich ein zu hören: »Mein Bruder ...« Er fiel in irgendeinen Sessel. Sah den Xaver Sternfeld, wie er vor ihm gestanden und ihn gefragt hatte: »Das kann wohl noch lange dauern, bis du ... Nicht von ihm war die Frage gekommen. Agathe hatte gefragt durch ihn, den sie als Bruder empfunden und erkannt. Und Verzweiflung hatte sie gepackt, da sie sich wieder allein mit ihm, der ihr Gatte war, gesehen, dem unbestimmten Zeitmaß ausgeliefert. Darum rief sie den Xaver. Und jeder Ruf war eine Anklage gegen ihn, der ihre Notlage selbständig ausgenützt, ihre blühende Jugend an sein kümmerliches Schattendasein gefesselt hatte.

Er ging ins Laboratorium. An der Wand, nahe dem Fenster, stand Agathens Tisch mit der Schreibmaschine. Er riß den Schub heraus, die beschriebenen Blätter, die Zahlentabellen. Er suchte nach Streichhölzern, entzündete eine Spiritusflamme. Alles Blut war ihm ins Gehirn geschossen, hämmerte in seinen Ohren, gab seinem Blick die Unsicherheit der Trunkenen. Mit zittrigen Strichen reihte er Worte auf ein Blatt Papier und Zahlen.

Dauer 3 Stunden 25 Min.
Zahlung M. 35 000.–
Vierbasische Phosphorsäure 200° Celsius
Souper M. 250.–

Brütend saß er auf dem Fenstersims, den Bleistift zwischen den Fingern, die klamm wurden von der eindringenden Kälte, die ihn quälte, ohne ihm zum Bewußtsein zu kommen. Plötzlich zuckte er zusammen. Es war ihm, als hätte ihn jemand gerufen: »Fürst!« Und noch einmal: »Fürst!« Da sprang er auf, verneigte sich: »Jawohl!«

Seine erstarrte Hand fuhr unter die Lederjoppe, tastete die Wärme seiner Brust ab, riß an seinem Hemd. Und diese Bewegung hatte für ihn etwas seltsam Vertrautes, Beruhigendes. Und er beugte sich vor, lauschte, sehnte es herbei, das: »Fürst, lauf' dorthin«, »Fürst, bring' mir das.«

Ein verlorenes Paradies dünkte ihn die qualvolle Zeit des Krieges, der Gefangenschaft. Denn was auch gewesen – Gegenwart war es. Jetzt aber ...? An versunkenen Jahrhunderten schleppte er, an Zukunftshoffnungen – an sich selbst. Er stöhnte auf, weil er die Bürde körperlich zu spüren meinte. War denn niemand, der ihm helfen konnte, niemand, der mit ihm trug?

Doch – Wanda, die Mitträgerin seines Namens, seines Wissens. Die letzte Hoheneck, die edelste, letzte Blüte des alten Geschlechts. Seine Wimpern feuchteten sich vor stolzer Genugtuung.

Wie klein hatte Xaver Sternfeld vor ihm gestanden! So fern abgerückt von allem Ehrwürdigen, Überlieferten! War gekommen – ungebeten, unerwartet – hatte in den zwei kurzen Tagen allen gefährlichen Reiz seines Reichtums aufflimmern lassen vor ihr, deren Blut den Bruder erkannt haben mußte.

Er aber, ein Greis diesem Jungen gegenüber, hatte nichts als Haltung zeigen können, nachsichtiges Zurechtweisen. Hatte Worte – große Worte als Abstand zwischen sich und ihn gelegt und nur gepeinigt aufgeschrien, da dieser Junge das Liebste, was er besaß, von ihm hatte fortreißen wollen wie etwas, das man sich ausborgt für kurze Zeit zu freundlichem Spaß. Hatte die Fürstin Hoheneck dem geborenen Fräulein Stumper als arme Verwandte bringen wollen.

Wie das fraß, wie das brannte! ...

»Zweihundert Grad ... zweihundert Grad.«

Er raste mit dem beschriebenen Zettel auf und ab, ohne zu wissen, daß er es tat. Vielleicht war das Schlafmittel, das er gestern abend genommen hatte, zu stark gewesen und hatte ihm die Gedanken verwirrt. Vielleicht auch hatte der Schreck ihn überwältigt. Er fühlte, daß der Wille ihm nicht gehorchte. Daß sein Körper, unabhängig von seinen Gedanken, sich fortbewegte; und zittrige Angst rieselte ihm den Rücken entlang.

Wenn er die Arbeit nicht fortsetzen konnte – die Arbeit, auf deren Erfolg er die Zukunft Agathens aufzubauen hoffte? Ein erster Zweifel kam ihm – bohrte sich ihm schmerzhaft ins Gehirn. An seinen Schläfen perlte es naß, und er blieb stehen wie angewurzelt. Da fiel ihm abermals die Tochter ein. Wie durfte er fürchten, da sie da war! Jünger, stärker als er.

Ein krampfhaftes Lächeln riß an seinem Mund. Agathe sollte fortan keinen anderen anrufen als ihn. Sollte wissen, was es hieß, Fürstin zu sein. Mochte der Umbau des Dresdner Palais unvollendet bleiben – bewohnbare Räume gab es auch jetzt schon genug.

Er stürzte in sein Zimmer an seinen Schreibtisch, schloß die Lade auf, drückte auf eine Geheimfeder, stapelte Papiere vor sich auf, zog eine Stahlkassette aus der Tiefe der dunklen Einbuchtung, zählte Scheine, Papiere, die er keiner Bank anvertraut hatte, damit auch Wanda nicht erfuhr, was noch sein war, ihn nicht abbrachte von seinem Wollen mit praktischen Erwägungen, sie, die sein Haus führte mit der unbeugsamen Sparsamkeit einer geizigen Hausfrau.

Rote Blumen wollte er kaufen für das Geld ... duftlose rote Blumen, und eine Stunde Jugend trinken aus goldgekapselten, eisgekühlten Flaschen! ...

Seine Arme streckten sich, und sein alter, feiner Kopf bettete sich in schmerzlicher Wollust auf all die eng aneinander gepreßten Blätter, von denen Bilder aufstiegen von unsagbarer Süße und jauchzender Freude.

Da schlug eine Stimme an sein Ohr. »Durchlaucht ...«

Und dann ein zweites Mal, in plötzlicher Anteilnahme:

»Durchlaucht, Sie brauchen nicht zu verzweifeln.«

»Jaso ... verzeihen Sie, lieber Doktor.«

Und hastig, kunterbunt schob Fürst Erasmus Scheine und Papier in das dunkle Fach, stand da in leisem Zittern wie ein ertappter Dieb, mit einem unbegreiflichen, höflichen Lächeln um den schmalen Mund und einem flehenden Ausdruck in den Augen, der um Schonung bat, um Lüge, wenn es nötig war.

»Aber ja ... das kriegen wir noch, Durchlaucht. Eine starke seelische Erregung, eine heftige Erkältung. Lungenentzündung vielleicht. Am Nachmittag komme ich wieder. Bei guter Pflege kein Grund zu ernster Besorgnis. In dem Alter wird viel überwunden.«

Doktor Kürer holte seinen Rezeptblock heraus, schraubte den Füllfederhalter auf. Seine kleinen energischen Schriftzüge fuhren diesmal unsicher über das Blatt, seine tiefliegenden, hellen Augen unter starken Brauen blickten noch härter als sonst. »Der Wintergarten-Bummel scheint den Damen nicht bekommen zu sein. So ein erstes Schneegestöber hat seine Tücken.«

»Meine Tochter auch?«

»Nerven ... Gewiß, Durchlaucht ... Nur Nerven.«

Wieder lag Hilflosigkeit über dem alten Mann und das Flackernde im Blick. Aber auch die alte Würde – der Panzer seiner Kaste.

»Gewiß habe ich den Damen zuviel zugemutet in letzter Zeit. Vielleicht auch war meine Tochter wissenschaftlich nicht immer einverstanden mit mir – fügte sich nur ... ja. Das greift Nerven an. Sie soll künftig selbständig arbeiten dürfen. Hauptsache jetzt meine Frau. Sie muß gesund werden, Doktor – muß!« Und weil die Vorstellung eines plötzlichen, möglichen Todes ihm den Atem abschnitt, fiel er kraftlos in seinen Sessel.

Ein schwelender, unangenehmer Geruch verbreitete sich im Zimmer.

»Was ist denn dort los?«

Doktor Kürer war mit einem Satz im Laboratorium. Über der Spiritusflamme hing ein offenes Kesselchen, rot glühend und über und über von Ruß geschwärzt. Der Fürst hatte vergessen, es mit Wasser zu füllen. Doktor Kürer löschte die Flamme, goß von dem Inhalt der Wasserflasche in den Kessel, daß es laut aufzischte. Auf dem Tisch lag ein beschriebener Zettel

Dauer 3 Stunden 25 Min.
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in kaum leserlicher Schrift. Sinnlosigkeit, die nach System rang. Wenn Wanda den Zettel fand?

Und nun sah er sie vor sich, wie sie vor Tom King niedergestürzt war. Da – die Scherben des Glasröhrchens lagen noch auf dem Boden, und das Flaschenschränkchen stand weit offen. Wenn es so stand hier, dann –

Er blickte sich um. Griff aus der ihm wohlbekannten Reihe zwei Flaschen heraus, mit starkem Gift und ließ sie in seiner Manteltasche verschwinden, zugleich mit dem Zettel. Dann schloß er das Schränkchen ab und ging zurück in das Arbeitszimmer.

Fürst Erasmus hatte den Arm auf die Lehne seines Sessels gestützt und die Augen mit seiner schlanken Greisenhand beschattet. Ein Tropfen blinkte zwischen zwei seiner Finger auf.

Da legte Doktor Kürer den Schlüssel stumm auf den Schreibtisch nieder und ging leise aus dem Zimmer. Im Flur stieß er mit Anna Wittke zusammen, die der Pflegerin die Handtasche abnahm. Und obwohl sie noch immer in der blauen Flanelljacke war, sprühten doch an ihren Fingern die kostbaren Steine, die sie der Verliebtheit ihres Eheherrn verdankte, und die für sie das einzig schätzenswerte Wahrzeichen seines Reichtums bildeten.

Doktor Kürer faßte nach dieser beringten Hand und hielt sie fest in der seinen.

»Ich verlaß mich auf Sie.«

»Nu, Sie werden nich!«

Sie lachte ihn freundlich an und schüttelte seine Rechte, die ihr früher so manches kleine Trinkgeld auf diesem selben Flur zugesteckt hatte.

Er hatte die Prinzeß Wanda nicht genannt. Aber wie es um ihn stand – in solchen Dingen kannte sie sich aus, die Anna Wittke.

* * *


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