Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

 

Daß die Gräfin Sternfeld der Tochter von der Flora Berger zehnmal am Tag sagen würde: »Komm' Herzerl, darfst mir ein Busserl geben« und der Papa Sternfeld ohne vorherige Ankündigungen sich selbst bemühte und es so den ganzen Tag Busserln regnete auf Agathes seidiges, braunes Haar, ihre braunen, jetzt wieder strahlenden Augen, auf ihre durchsichtigen Wangen und die sich immer lebhafter färbenden Lippen – das hätte einer den gräflichen Herrschaften voraussagen sollen! Und wenn sie jetzt einen Brief bekamen von ihrem Buben, der immer »Handbusserln« schickte, da waren sie der Steffi beinahe dankbar, daß sie noch »Sperenzeln« machte und die Scheidung nicht so schnell vorwärtsgehen wollte. Denn wenn sie dem Buben auch den Himmel auf Erden gönnten – so ein kleines Stückerl davon hätten sie gerne eine Weile noch selbst behalten in der Sensengasse. Und ganz kalt wurde es ihnen, wenn sie daran zurückdachten, wie sie sich durch der Steffi ihre Briefe und Telegramme beinah hätten erweichen lassen und dem Xaver zugeredet hatten, er sollt' sie behalten. Bis vor ein paar Tag' die Steffi selbst zu den gräflichen Schwiegereltern gekommen war, sie um Vermittlung beim Xaver zu ersuchen.

Das hatte die alte Mariann' der Stumperischen wohl vergunnt, daß ihr durch Zufall die junge Gnädige selbst die Tür aufgemacht hatte. Nur die Folge von dem mißglückten Besuch war nit grad schön. Denn wie die Stumperische g'schrien hatte: »Ja ... jetzt weiß man's ja, warum der Xaver mich los sein will!«, da war die junge Gnädige käseweiß geworden und hatte eine riesengroße Tragedi draus g'macht – und sie dürft' die Ehe vom Xaver nit zerstören, und es gäb' für sie nur eines: sie müßt' zu ihrer Mutter nach der Schweiz, zu der Frau Bächlisberger. Dort würde sie dann arbeiten, wie wann's in Stellung wär' und – was so'n Unsinn mehr. Und nun war er wieder da, der Sternfelderische Pallawatsch, aus dem, schien's, die gräflichen Herrschaften ihr Lebtag nit herauskommen konnten.

Die Mariann' meinte, es wär' grad genug, daß der junge Graf mit »die Hotelleut'« zu tun hätte. Denn lange hatte sie in ihrer Vorstellung den jungen Herrn nur mit der Serviette unterm Arm gesehen, wie er Gäste bediente, Bier brachte und Trinkgelder einstrich oder die Zimmer anwies und den Damen die Reisetaschen aus der Hand nahm, bis daß der alte Graf sie wieder einmal eine dumme Urschel genannt und was von einem Konzert oder Konzern g'sprochen hatte, von dem der junge Graf ang'stellter Direktor werden sollte, weil er gar so gut mit den Leuten z'reden verstand und das alte kinderlose Berner Ehepaar, das an der Spitze der Schweizer Hoteliers stand, einen Narren an ihm g'fressen hatte und ihm zu der großen Position verhelfen wollte. Aber darum g'hörte es sich doch nicht, daß die junge Gnädige eine solche Stellung annahm, wie es sich auch nicht g'hörte, daß der junge Graf eine Kassiererin oder Aufsichtsmadam zu heiraten kriegte. War schon die Stumperische ein Fleck auf der Familienehre und hernach die Prinzeß Wanda.

Eines Morgens nun geschah es – die Gräfin stand noch in Papilloten und einer ein bissel zerschlissenen hellblauen Flanellmatinee vor ihrem Ankleidespiegel –, daß der Graf Anton Sternfeld mit den Zeichen allerhöchster Aufregung den Kopf ins Schlafzimmer steckte und flüsterte: »Mama ... Mamatscherl, Muzi ... Muzili ... die ... um Gottes willen ... die Flora ...«

»Was ...? Was für eine Flora?«

»Die Berger ... die Bächlisberger ... wollt' ich sagen!«

Er hatte ganz den Kopf verloren, der arme Papa. Zum Jammern sah er aus in seiner Verlorenheit. Die Mama »derfing« sich als erste und warf mit zitternder Hand ein Spitzentüchlein über die Papilloten. Aber als der Papa in eine frische Pikeeweste schlüpfen wollte, da hätt' einer die Mama sehen sollen. »Das tät mir noch fehlen: Kavalier spielen, wann die Ronachersche kommt!« Und die Pikeeweste flog in eine Ecke.

»S' is eh nimmer beim Ronacher und ist doch die Mama von unserer Agath',« brabbelte der Papa verschüchtert.

»Was heißt Mama? Ich bin die Mama! Die dort ist höchstens die Mutter!« Und die Gräfin trat hoheitsvoll in das Wohnzimmer, wo die Frau Bächlisberger wartete, in einem soliden, blauen Jackenkleid, das Haar einfach zurückgestrichen und schon arg weiß an den Schläfen. An der Hand hielt sie einen kleinen, dunkeläugigen Buben mit einem Riesenstrauß, den er trotz strenger Mahnung, ihn der »Gräfin-Tant'« zu geben, krampfhaft an seine Brust preßte. Und vielleicht hätte der kleine Josi durch seinen Eigensinn eine neue Katastrophe heraufbeschworen, wenn in diesem kritischen Augenblick nicht die Tür aufgegangen und Agathe, ihr Marktkörbchen am Arm, die Wangen rosig angehaucht, hereingekommen wäre.

Sie blieb stehen, plötzlich selbst erschreckt über das, was sie mit ihrem Brief angerichtet hatte. Frau Bächlisberger, sonst wohl robust und selbstsicher, schluchzte schwer, als sie diese wunderhübsche und bei aller Einfachheit so vornehme, mädchenhafte Gestalt erblickte und nicht wußte, wie sie sie begrüßen sollte, obwohl das Herz ihr in starkem Rhythmus soufflierte: Dein Kind, dein Kind, dein Kind ... Es gab einen Augenblick peinlichster Stille, die plötzlich von einem hellen Stimmchen durchschnitten wurde. Es war Josi, der seinen Riesenstrauß Agathe entgegenstreckte: »Da häscht die Blümli, Gräfin Tant'.«

Nun stellte Agathe hastig ihren Korb ab, schlang beide Arme um den Buben, hob ihn in die Luft und lief mit ihm aus dem Zimmer. Da gab's denn wieder eine kleine, peinliche Stille zu übertauchen, bis die Mama sich entschloß, der Frau Bächlisberger einen Stuhl anzubieten und sie fragte, »welchem Umstand ...«, was eigentlich ganz überflüssig war, meinte der Papa, denn ebensogut hätte die Mama fragen können, zu wann sich die Agath' reisefertig machen sollte. Aber die Mama war eben doch die G'scheite. Denn jetzt kam von allem das, was man am wenigsten erwartet hätt', nämlich ... die Bitte, ob es denn gar nicht möglich war – daß die Agath' doch bei den gräflichen Herrschaften bliebe? Da, ganz abgesehen von den Plänen des Grafen Xaver, Agathens Platz gewiß nicht in einem Gasthaus sei. Denn, wann's schon nach dem Blut ging, worauf die gräflichen Herrschaften früher ein gar so großes Gewicht gelegt hätten, da hätt' die Agath' väterlicherseits ein mindestens so vornehmes Blut wie es der Fürst Hoheneck gehabt.

Papa Sternfeld sprang auf, wie von der Tarantel gestochen, und streckte abwehrend die Hände vor. »Is nit wahr, Sie! Erzählen's uns jetzt ka G'schichten.«

Die Mama flüsterte mit erlöschender Stimme: »Also doch! Meine Ahnung!«

Aber die Frau Bächlisberger schüttelte den Kopf. Die Herrschaften brauchten nicht zu erschrecken. So war es nicht gemeint. Und wenn's wirklich eine G'schichte war – so lag sie so weit zurück, daß sie eigentlich gar nimmer mehr wahr schien. Denn noch unter der Zeit, da sie mit dem Geiringer zusammengewesen war, dem Vater ihres Sohnes Thomas, der sich jetzt Tom King nannte, da hatte sich ein blutjunger Mensch in sie verliebt, wie er sie mal draußen in Grinzing gesehen hatte. So ein lieber Bub war das gewesen – wie der Graf Xaver so ähnlich. Und da sie vor dem Geiringer immer nur Angst g'habt hatte, da gewann sie den jungen, hübschen Menschen, der immer wieder Gelegenheit fand, mit ihr zusammenzukommen, und der so weich und zärtlich zu ihr war, wie sie es nie gekannt vorher, so schrecklich lieb, daß sie schließlich alles tun mußte, was er begehrte. Der Dostal war es, der ihr heimlich die Liebesbrieferln zusteckte und der den Geiringer in seiner Särgewerkstatt zurückhielt oder mit ihm über Land ging, wenn sie ihr Stelldichein hatte. Und der Dostal war es, der sie das erste Mal aufs Jagdschlössel hinbrachte, und durch den sie erfuhr, daß ihr Liebster ein junger Erzherzog war. Aber das wär' ihr damals ganz wurscht gewesen. Sie hätt' ihm alles zulieb getan – auch wenn er der Ärmste unter den Armen gewesen wär'. Vielleicht wär' ihr ganzes Leben anders geworden, wenn man dem Erzherzog nicht auf die unstandesgemäße Liaison drauf gekommen wär'. Der Geiringer lag damals im Spital, weil ihn aus dem Zuschauerraum einer angeschossen hatte. Sie selbst kam da grad nieder, und als sie das erste Mal aufgestanden war, da brachte der Dostal ihr den Abschiedsbrief vom Vater ihres kleinen Mädchens. Er, der nie einer Fliege hätte was zuleid tun können – war Knall und Fall an die Grenze geschickt worden, um auf Menschen loszugehen ... damit er ein Mann würde und wüßte, wozu ihn sein Rang verpflichtete. So hatte sie von all der wunderschönen, jungen Liebe nix behalten als einen Brief, den er mit seinem vollen Titel unterschrieben, damit sie später zu ihm kommen und sich berufen könnte auf seine Worte. Aber was gab es da zu berufen! Vier Wochen später war er dort unten wo gefallen in den Kämpfen, und geblieben waren ihr nur die Worte, die sie den gräflichen Herrschaften zeigen konnte. »Wenn unser Kinderl zur Welt kommt, dann erziehe es zu einem braven Menschen und behüte es vor allem, was es Häßliches und Schmutziges im Leben gibt, wenn du selbst dich davor nicht behüten kannst.« Dem Brief war für damalige Verhältnisse eine größere Summe Geldes beigefügt, als Erziehungsbeitrag. Und die hatte sie getreulich dafür verwendet, bis auf den letzten Heller, und dem Verstorbenen einen Platz in ihrem Herzen bewahrt wie einem Heiligen. Gesprochen hätte sie zu keiner Menschenseele von dem allein so wenig, wie der Dostal es je getan hätt'. Denn der Geiringer hatte geschworen, daß er sie und jeden totschlagen würde, der ihn betrügen tät, und wann auch Jahre darüber hingingen, bis er's erfuhr.

»Und weil doch viel Wasser g'flossen is durch die Donau, seit ich die Flora Berger g'wesen bin, und ich weißes Haar gekriegt hab' und ang'sehen bin von meinem Mann und von anderen rechtschaffenen Leut', und weil der Zufall es hat haben wollen, daß ich den jungen Herrn Grafen hab' pflegen dürfen in seiner schweren Krankheit wie eine Mutter, und dabei erfahren hab', was er für ein braver, armer Bub' g'wesen is und wie er es bereut hat, daß er die Agath' unglücklich g'macht hat, und da er jetzt bald dastehen wird in einer großen Stellung – zu der mein Mann ihm mit verholfen – da hab' ich mir gedacht: Riskierst's halt. Fährst zu den gräflichen Herrschaften, sagst ihnen die Wahrheit über die Agath'.«

Graf und Gräfin Sternfeld saßen nebeneinander auf dem Diwan und merkten es gar nicht, daß ihre Hände sich zueinander gefunden hatten. Ein tiefes, erlösendes Aufatmen löste sich aus ihrer Brust, als die Frau Bächlisberger nun schwieg und mit dem blütenweißen, handgestickten Taschentuch über ihr heißes Gesicht fuhr. Aber dann fiel ihnen ein, daß nicht sie, sondern Agathe selbst fortwollte, wegen der Steffi ... die ...

»Die Stumperisch-Dostalsche,« sagte der Papa.

Da fiel ihm Frau Bächlisberger ins Wort. »Lassen's mich nur machen. Die Steffi, die hat gar nix mehr zu sagen. Alles nur Pflanz, wegen dem Grafentitel. Den treib' ich ihr schon aus. Oder besser noch dem Dostal.«

»Dem Mistvieh!« schaltete Papa Sternfeld unwillkürlich ein.

»Schon, Herr Graf, aber ein feiges. Gott sei Dank! Zu dem fahr' ich jetzt 'naus. Und sag's ihm: Wann er die Steffi nit eins, zwei, drei zur Scheidung bringt, dann laß ich's den Geiringer wissen, was er damals getan hat. Denn der Geiringer kommt jetzt wieder nach der Schweiz, weil der Tom King wo boxen soll. Alsdann – die Steffi sind wir los ... da braucht sich die Agath' keine Sorgen nit zu machen. Denn wenn's ums Lebensglück meines Kindes geht, da hat's ein End' mit der Angst, und wann ich auch meinem Mann alles haarklein erzählen müßt. Der macht sich eh nix draus. Der weiß, was er an mir hat. Und wann er sich seine Frau hinter der Bar vorg'holt hat – weiß er auch, daß es kein weißes Lamperl g'wesen is. Alsdann.«

Gräfin Sternfeld erhob sich und streckte mit unnachahmlicher Huld ihre Hand aus.

»Sie sind doch eine ... wirklich ... eine ganz brave Person, Frau Bächlisberger.«

»Sixt, Muzili, sixt ... ich hab's ja gesagt.«

Aber die Mama blitzte ihren vorwitzigen Gatten mit einem ihrer flammenden Blicke nieder. Nun bat Frau Bächlisberger, noch einmal Agathe hereinzurufen, obschon sie ihr für den Augenblick nichts zu sagen hatte. So schaute sie sie nur an und murmelte, zur Gräfin gewendet: »Die Augen! Grad solche Augen hat er g'habt – der arme Bub!«

Küßte Agathe kurz und mit unterdrückter Bewegung auf den Mund, fuhr ihr streichelnd um das zarte Oval des Gesichtes, schob ihren Josi zum »Handipussi« zur Gräfin und dann zum Grafen und sagte schon von der Tür aus, die sie in ihrer raschen, energischen Art aufgetan, um den Abschied zu kürzen: »Die Herrschaften brauchen keine Angst haben, daß ich zur Hochzeit erscheine, nur wann ich um was bitten dürft, so wär's nur, daß das junge Paar auf der Hochzeitsreise nach dem Luzerner Hof kommt, mitsamt den gräflichen Herrschaften.«

Und in dem Lachen, das diese Worte begleitete, und das so gar nicht zu dem weißen Haar und wenig zum kleinen Josi passen wollte, erhaschte Papa Sternfeld noch einen leisen Nachklang seiner letzten törichten Verliebtheit.

* * *


 << zurück weiter >>